Paulus, der Gründer des Christentums
Gerd Lüdemann, Paulus, der Gründer des Christentums, zu Klampen Verlag, Lüneburg 2001, 270 Seiten, 38,- DM.
Nach seinen Jesusbüchern ("Jesus nach 2000 Jahren" und "Der große Betrug"), die den Anspruch erheben, das aufzuführen, "was Jesus wirklich sagte und tat", hat Gerd Lüdemann jetzt ein 270 Seiten umfassendes Paulusbuch vorgelegt. Der Titel enthält die nicht gerade neue und originelle These seiner Ausführungen, dass nicht Jesus, sondern Paulus der Gründer des Christentums gewesen sei. Ansonsten betont Lüdemann, dass sein Buch in Kontinuität zu bisherigen Forschungen stehe. Methodisch sieht er sich der religionsgeschichtlichen Schule und ihrer Vorgehensweise verpflichtet. Bereits im Vorwort wird "das Ziel der Unparteilichkeit" unterstrichen und die "alleinige Absicht, ihn [Paulus; R. H.] zu verstehen" (10). Allzu viel Verständnis wird Paulus jedoch nicht entgegen gebracht. Denn gleichzeitig sagt Lüdemann, der Anspruch des Apostels müsse zurückgewiesen werden. Dieser habe "die griechische Aufklärung verteufelt" und "Vernunft durch blinden Glauben ersetzt". Mit seiner in den Briefen verschiedentlich erwähnten Berufung auf die Begegnung mit dem auferstandenen Christus (Damaskusvision) sei er "einer Selbsttäuschung erlegen" (10). So wird zu Beginn des Buches ansatzweise ausgesprochen, worum es eigentlich geht. Es geht um Christentumskritik. Lüdemann setzt historische Forschung zur Distanzierung gegenüber Paulus ein, darüber hinaus zur Infragestellung christlicher Wahrheitsansprüche. "Forschung über Paulus hat den gleichen Vorteil wie Forschung über Jesus. Indem sie diese beiden Gestalten aus der Anfangszeit des Christentums dorthin zurückversetzt, wohin sie gehören - ins erste Jahrhundert -, wirkt sie befreiend und macht eine dringend nötige Emanzipation von der christlichen Vergangenheit erst möglich" (231).
Der Verfasser schreibt als enttäuschter "Aussteiger" aus der evangelischen Kirche, um die Verlässlichkeit der christlichen Zeugen und die Substanz ihrer Überlieferungen in Frage zu stellen. Man kann kein Kapitel seines Buches verstehen, ohne dieses erkenntnisleitende Interesse zu kennen. In zehn Kapiteln erfolgt die kritische Annäherung an Paulus (u. a. "Chronologie und Leben des Paulus", "Paulus, der Jude", Paulus, der Christus", "Paulus, der Gründer des Christentums"). Die wissenschaftliche Literatur wird eklektisch aufgegriffen. Ein wesentlicher Gedanke ist der Versuch, aufzuzeigen, "dass Paulus und Jesus verschiedene Botschaften verkündigten. ... Es ist völlig unbegründet, dass jemand wie Paulus sich auf Jesus bezieht, den er niemals kennen gelernt hat" (196).
Unter einer sich sachlich und wissenschaftlich gebenden Darstellung zum Leben und zur Theologie des Paulus (ausführliche Zitation und Erläuterung der Texte), geht es Lüdemann um den Aufweis der Unbegründetheit des christlichen Glaubens wie ihn Paulus verstand und die christlichen Kirchen ihn weitertragen. "Jesus wurde gar nicht körperlich auferweckt. Entweder verweste sein Leichnam, oder Geier und Schakale fraßen ihn direkt vom Kreuzesbalken weg" (222). Paulus ist "als falscher Zeuge anzusehen" (228 ff). Hart ins Gericht geht er mit der "Sühnetheologie" des Paulus. "Wenn Paulus ... über die Bedeutung des Blutes Jesu als Sühnemittel für die Sünden anderer spricht, läuft es mir kalt den Rücken herunter." Vorgeworfen wird Paulus auch eine "bizarre Verzerrung des Judentums" (223). "Antijudaismus ist ... die Kehrseite des 'Christus allein', gewissermaßen die linke Hand der Christologie oder ihr Schatten" (211). Für Lüdemann war Paulus ein nach allen Seiten offener Kleingeist, bestimmt durch "eine auf mystische Erfahrungen gegründete Religion". Er war "der intellektuellen Herausforderung Griechenlands nicht gewachsen" (243). Sein Erfolg lag nicht in der Überzeugungskraft seiner Botschaft, sondern "im Geist der Zeit" begründet. "Die Welt war des Denkens müde geworden" (244). Immer wieder greift Lüdemann auf Friedrich Nietzsche als Gewährsmann für seine Überlegungen zurück. Ob er sich auf Nietzsche mit Recht berufen kann, müsste im Einzelnen geklärt werden. Auch Albert Schweitzer und Rudolf Bultmann werden eklektisch zur Stützung der eigenen Position herangezogen. Ihnen wird freilich Inkonsequenz vorgehalten (224 f).
Das Buch verfolgt denunziatorische Absichten. Es endet in einem "Epilog", den der Verfasser bezeichnenderweise unter die Stichworte "Nachruf auf Paulus" (233 ff) stellt. Eine stringente Argumentation fehlt dem Buch. Auch der distanzierten Methodologie der religionswissenschaftlichen Schule wird der Verfasser nicht gerecht. Er verwischt die Grenze und notwendige Unterscheidung zwischen geschichtswissenschaftlicher Forschung und persönlicher Weltanschauung, zwischen distanzierter Deskription und religiös-weltanschaulicher Beurteilung. Im Vorwort kündigt Lüdemann an, dass sein Buch als "Vorläufer einer größeren Arbeit" (8) zu verstehen sei, in der alle aus seiner Sicht echten Paulusbriefe neu übersetzt und kommentiert werden. Es wird aus seiner Feder zu diesem Thema noch Weiteres zu erwarten sein. Seriöse Paulusforschung muss heute auf dem Büchermarkt mit Lüdemann konkurrieren, dessen Bücher eine erstaunliche Resonanz finden. Sie sollte sich darüber im Klaren sein.
Reinhard Hempelmann