Personale Medizin
Gerhard Danzer, Personale Medizin, Verlag Hans Huber, Bern 2012, 600 Seiten, 39,95 Euro.
Fehlt Medizin und Psychotherapie eine Sittenlehre? Sollen Ärzte und Psychotherapeuten zu Tugendwächtern ausgebildet werden, um eine vermeintlich gesunde Kultur vor vermeintlich kranken Einflüssen zu schützen und zu retten? Dieser Eindruck drängt sich auf, wenn man die „Personale Medizin“ von Gerhard Danzer zur Hand nimmt. Auf 600 Seiten entwirft der Autor eine Programmatik mit dem Anspruch, aus einer biopsychosozialen Gesamtschau Wissen um die wahre Kultur und Größe des Menschen gebündelt zu haben. Dazu wird jedoch die Medizin und insbesondere die Psychosomatik und Psychotherapie zur Lehranstalt angeblich höherer Tugendhaftigkeit umdefiniert. Wiederholt wird im Text das ehrgeizige Ziel formuliert, damit nicht nur die Gesundheit des Einzelnen zu fördern, sondern die Kultur, ja die Menschheit insgesamt vor Sittenverfall, Primitivität und schlechtem Geschmack zu bewahren. Mit dem vorgestellten Konzept einer „Personalen Medizin“ wird beansprucht, das gängige Verständnis von Krankheit und Gesundheit umfassender als bisher neu zu begründen. Das soll eine spezielle Anthropologie leisten, die unter Berufung auf Geist und Vernunft als dem Kern eigentlichen Menschseins gewisse Verhaltensweisen des Einzelnen und Phänomene des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens als eben diesen zuwiderlaufend und deshalb krankhaft entlarven könne. Dem so identifizierten angeblich Kranken oder Verrückten in der Kultur soll mit einer neuen Tugendhaftigkeit begegnet werden, die wiederum, ebenso normativ aus dem postulierten anthropologischem Kern abgeleitet, elementarer Ausdruck von Gesundheit ist.
Mit der Gleichsetzung von Tugendhaftigkeit und Gesundheit werden Sittlichkeit und Moral in den Rang einer Gesundheitslehre gehoben. Folglich wird umgekehrt auch Sittenwidriges mit vernunftwidrig gleichgestellt. Es soll vor allem die psychosomatische Dimension des Krankseins oder -werdens mit defizitärer Geistigkeit und Vernunft erklärt werden. In der Konsequenz daraus besteht die Therapie bei Patienten mit funktionellen Störungen, Süchten, Essstörungen, chronischen Schmerzen, Depressionen, Angstzuständen u. a. darin, diese auf der Basis einer neuen Tugendlehre zu höheren Werten hinzuführen, sie der unterstellten Enge ihres Lebensentwurfes zu entheben und zu „Funktionären der Menschheit“ heranzubilden. Die Betroffenen sollen lernen, Teil einer Bewegung mit erneuernder Kraft zu werden, sich für Gemeinschaft und höhere Kultur zu interessieren, anstatt um ihre Symptome zu kreisen. Damit wird gesunde Geistigkeit und Vernunft anvisiert, wahres Menschsein, das im „Personalen Sein“ oder in der Entwicklung von „Personalität“ kulminiert. Eine Heilkunde, die das bewerkstelligt, sei „Personale Medizin“. Ist das nicht eher eine Heilslehre?
Dem grundsätzlich kühnen Versuch einer Synthese natur- und geisteswissenschaftlicher Methoden in der Medizin und Psychosomatik gelingt es aber trotz reichlicher Bezugnahme auf Philosophie, Psychologie und schöne Literatur nicht, zu verdeutlichen, worin personales Sein oder Personalität besteht, welche Phänomene damit erfasst werden sollen. Es bleibt bei allgemeinen Einkreisungen und Andeutungen und Tautologischem.
In der Bewertung primär organischer Erkrankungen ist der Autor diesbezüglich zurückhaltender und hütet sich vor kurzschlüssigen Erklärungen. Als Arzt kennt er die multifaktorielle Komplexität von metabolischen Störungen, Herzinfarkt oder Krebs und versteht es, schwierige molekulare, genetische und organpathologische Zusammenhänge verständlich darzustellen. Doch der Boden gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnis wird gerade im Schlussakkord des Buches verlassen und entgleitet ins Ideologische und Dogmatische. Wahrheit wird legitimiert durch Verknüpfung mit prominentesten Namen aus der Kultur- und Geistesgeschichte. Persönlichkeit wird in vereinfachter Tradition Wilhelm Diltheys auf Kosten der Empirie zum Schlüssel jeglicher Werterkenntnis und zum Garanten gesunder sittlicher Maßstäbe. Wahre Kultur zu erkennen, erfordere Persönlichkeit, was aber wiederum nur von Persönlichkeiten zu erkennen sei, also von einem Kreis von Eingeweihten, besonders Geschulten. Damit wird einem Kult um kulturelle Größe und Persönlichkeit Vorschub geleistet, der immun ist gegen jegliche Kritik, kann diese doch schnell mit dem Argument mangelnder Persönlichkeit und Werterkenntnis des Kritikers zurückgewiesen werden. Das so entstandene Konstrukt von gesundem Geist oder gesunder Kultur ist infiziert vom Keim einer fundamentalistischen, totalitären Heilslehre. Die vom Autor entworfene „Personale Medizin“ behauptet, nicht nur seelische sowie körperliche Erkrankungen diagnostizieren zu können, sondern auch geistige, anhand zahlreicher moderner Kulturphänomene, sogar anhand von Geschmacks- und Stilfragen in Musik, bildender Kunst und sozialen Umgangsformen. Sie behauptet gleichzeitig, das Heilmittel dagegen zu kennen: eine neue Tugendhaftigkeit. Tugendlehre wird zum Gesundheitskanon und umgekehrt, Gesundheit zum Sittengesetz, das definiert, was normal und was abnorm ist, vom Sexualverhalten bis zur ästhetischen Form in Kunst und Dichtung. Als sittliche und medizinische Autorität sieht sich der Autor mit seinem Entwurf in Übereinstimmung mit der Evolution und in einer Mission zur Rettung der Menschheit, so der Originalton im Text. Damit sind allerdings Totschlagargumente für jegliches kritische Denken und innovative künstlerische Gestalten vorbereitet. Denn was gelten schon Wissenschaft, Philosophie und Kunst angesichts einer Ideologie, die sich mit kosmischer, evolutionärer und damit quasi göttlicher Autorität ausgestattet wähnt? Dabei braucht es nur einen Schritt, alles Ungesunde und nicht Normale als unsittlich und nicht artgemäß, im Widerspruch zur Evolution stehend und als Gefährdung, weil Schwächung wahrer Kultur, hinzustellen.
Starke Kultur ist nach dem Verständnis des Autors garantiert durch starke Persönlichkeiten in einer Gemeinschaft, die von einer Elite um einen besonders wissenden Meister geführt wird. Und diese Stärke soll mit der Bildung der Person hergestellt werden. Doch worin diese bestehen soll und wie sie konkret zu erlangen ist, wird eben nicht deutlich. Ein Hinweis zur praktischen Umsetzung findet sich neuerdings in der Programmatik einer neu gegründeten privaten medizinischen Hochschule in Brandenburg, in dessen Lehrkörper Danzer mitarbeitet. In einem universitären Flyer ist zu lesen, dass dort im Medizinstudium nicht nur gute Ärzte, sondern auch selbstbewusste Persönlichkeiten herangebildet werden sollen. Was darunter zu verstehen ist und wie das erreicht werden kann, wird vom Autor mit Hinweisen in seinem Buch auf die Praxis der Berliner Großgruppe von Josef Rattner angedeutet, aus dem ein seit einigen Jahren in Berlin praktizierendes Ausbildungsinstitut für Psychotherapie hervorgegangen ist. In seinem Buch thematisiert Danzer allerdings nicht die konfliktreiche Geschichte der Großgruppentherapie Rattners seit den 1970er Jahren in Berlin. Auf die bestehenden Vorwürfe, dort werde Psychotherapie als Heilslehre und Personenkult praktiziert, geht er nicht ein. Persönliche Autonomie und eigenständiges Denken scheinen dort nicht möglich zu sein. Arbeiten von Autoren, die nicht dem Kreis entstammen, oder neutrale empirische Untersuchungen zur Berliner Großgruppe sind nicht bekannt.
Danzer ist langjähriger Schüler Josef Rattners, später sein engster Mitarbeiter, Autor und Koautor, Präsident des erwähnten Ausbildungsinstituts für Psychotherapie. Im Kern handelt es sich bei der vorliegenden Darstellung einer Personalen Medizin statt um eine bahnbrechende Neuerung um alten Wein in neuen Schläuchen. Hinter dem vielversprechenden Titel verbirgt sich eine Heils- und Sittenlehre, die einem problematischen kulturellen Gesundheitsideal huldigt und Autoritätsgläubigkeit und Gruppenkonformismus im Namen einer Ideologie wahrer und gesunder Gemeinschaft rechtfertigt, als die sich die Berliner Großgruppe bereits unter der Leitung Josef Rattners seit Jahrzehnten verstanden hatte.
Dabei werden große Namen aus Wissenschaft, Philosophie, Literatur und Kunst im Sinne des eigenen Anliegens als Vorläufer oder Gleichgesinnte vereinnahmt. Selbst explizit christlich-humanistisch und spirituell fundierte und motivierte Autoren wie Emmanuel Mounier oder Paul Tournier, Pioniere zum Thema Personalismus und Personale Medizin, werden ihrer religiösen Wurzeln entledigt, den religionskritischen bis -feindlichen Ansichten des Autors angepasst und als Autoritäten zur Bestätigung des eigenen Standpunktes ins Feld geführt. Ähnlich wird mit widersprüchlichen oder sich widersprechenden Ansichten von Philosophen und anderen Autoren eigenwillig umgegangen. Auf diese Weise wird eine pseudo-harmonische geistige Ahnenreihe für die eigene Lehre hergestellt und diese in eine beeindruckende Galerie ehrerbietender Namen platziert. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit konträren Ansichten erfolgt nicht, ebenso fehlt jeglicher Ansatz zur Selbstkritik. Stattdessen werden Begeisterung und Bewundern sowie die Fähigkeit, sich an einen Lehrer und Gruppenführer wie zum Beispiel Rattner zu binden, als gesund und tugendstark gepriesen und als ein Kriterium entwickelter Personalität hervorgehoben.
Wie sollen eine derart begründete Personale Medizin und Psychotherapie zu mehr Freiheit und Eigenständigkeit führen und Gesundheit generieren? Mündet die Vermischung von Gesundheit und Sittlichkeit nicht in eine totalitäre Deutungshoheit von Medizin und Psychotherapie? Ist diese Mischung aus evolutionistischer Heilslehre und moralisierender Kulturdiagnostik mit autoritärem Gemeinschaftspathos nicht ein Rückfall hinter die Errungenschaften der Tiefenpsychologie und der modernen Kulturwissenschaften, hinter ein Verständnis von Mündigkeit im Sinne einer erweiterten Aufklärung, sich seines eigenen Verstandes und seiner Emotionen bedienen zu lernen? Souverän mit der eigenen Sexualität und Aggression umzugehen? Sich mit dem Allzumenschlichen furchtlos und versöhnlich auseinanderzusetzen? Wenn Personalität keine Chimäre ist, muss sie dann nicht zusätzlich zu der Fähigkeit zur Mitarbeit, Hilfeleistung und Solidarität die Fähigkeiten beinhalten, unabhängig von Gruppen und Autoritäten zu sein, Konformitätsdruck standzuhalten, gegensätzliche Ansichten gelten zu lassen, kreativ mit eigenen Fehlern und Schwächen, den belastenden Prägungen wie den sich eröffnenden Möglichkeiten in der eigenen Biografie umzugehen? In der moralisierenden normativen und größenverliebten Programmatik der Personalen Medizin des Autors klafft die Schere von Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander. Wird mit dieser so fixierten chronischen Unzufriedenheit mit sich selbst nicht eine Schwächung der Person erreicht, anstatt sie zu stärken? Wird die ideologisierte Identifikation mit Kulturprominenz nicht zur Droge, um einen Zustand suchtartiger Gruppenzugehörigkeit und abhängiger Beziehung zum Gruppenleiter und Lehrmeister herbeizuführen? Dem Buch zur Personalen Medizin fehlen die kritische Diskussion und Selbstreflexion, darüber hinaus ein Konzept institutionalisierter Selbstkontrolle mit einem internen und externen Qualitätsmanagement.
Helmut Albrecht, Berlin