Pfingstgottesdienst der NAK mit Beauftragung des neuen Stammapostelhelfers
(Letzter Bericht: 5/2012, 192f) Unter der Überschrift „Geist erfüllt“ feierte die Neuapostolische Kirche (NAK) am 27. Mai 2012 im Kölner Hotel Maritim ihren zentralen Pfingstgottesdienst unter Leitung von Stammapostel Wilhelm Leber. Der eigentliche Höhepunkt stand am Ende, als Leber zum französischen Bezirksapostel Jean-Luc Schneider sagte: „Hiermit beauftrage ich dich, als Stammapostelhelfer zu dienen und lege in den Händedruck hinein den Wunsch, dass du mit viel, viel Kraft und Weisheit im Namen des Herrn, des dreieinigen Gottes dienen kannst und dass die Gotteskinder überall glücklich und selig werden, wenn sie dich in deiner Kraft und in deinem Auftrag erleben können. So geh mutig in die Zukunft, die Engel des Herrn werden dich geleiten! Wir werden in allem eins sein, sodass da kein Unterschied zu sehen ist, und die Geschwister weiterhin sicher geführt werden, hin zum Ziel unseres Glaubens“ (Zitate nach der offiziellen Gottesdienstmitschrift der NAK und eigenen Notizen). Die Beauftragung eines Stammapostelhelfers gilt als Designation eines Nachfolgers für die Leitung der ca. 11 Millionen Mitglieder starken NAK.
Pfingsten ist traditionell eine Gelegenheit, die Zusammengehörigkeit der neuapostolischen „Familie“ zu feiern und zu erleben. Anwesend waren 1600 neuapostolische Christen aus Köln und Umgebung sowie die 19 Bezirksapostel der Welt und alle europäischen Apostel – insgesamt ca. 70 Apostel. Seit 1981 wird der Pfingstgottesdienst live in die Gemeinden der NAK übertragen. Dieses Mal sendete man in Bild und Ton in 96 Länder für 1,5 Millionen Gläubige und übersetzte simultan in 20 Sprachen, während eine komplette englisch-deutsche Konsekutivübersetzung auf der Bühne stattfand. So wurde die internationale Dimension der NAK spürbar. Solche Live-Übertragungen von Stammapostelgottesdiensten werden von den Ortsgemeinden in der Kirche verfolgt und helfen, unter den Bedingungen der Moderne den engen Zusammenhalt einer weltweiten Gemeinschaft mit zentralistischer Hierarchie zu festigen.
Neuapostolische Gottesdienste ruhen außer auf der Chormusik vor allem auf dem gepredigten Wort, das in der Regel einem Haupt- und zwei von ihm spontan aufgerufenen Co-Predigern obliegt. Auffällig war, dass die Bibel im Pfingstgottesdienst eine erhebliche Rolle spielte – angesichts des unklaren Verhältnisses von Bibel und Apostelwort ist das weniger selbstverständlich, als man denken mag. Die Predigt des Stammapostels bezog sich auf das „Textwort“ Röm 8,16 (Der Geist selbst gibt Zeugnis unserem Geist, dass wir Gottes Kinder sind) und das „Grußwort“ Lk 18,27 (Was bei den Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich).
Es ist ein Reichtum der NAK, dass jeden Sonntag in tausenden Gemeinden Ehrenamtliche, die nicht theologisch ausgebildet sind, fast völlig frei predigen. Leider wird die daraus resultierende rhetorische Lebendigkeit meist nicht in die Inhalte übernommen, denn die neuapostolische Predigt will das Bibelwort eher wiederholen und bekräftigen als auslegen, ergründen und erklären. Sie ist dadurch oft beispielarm und bleibt eher unkonkret, so auch in diesem Pfingstgottesdienst. Konkrete Probleme in der eigenen Kirche wurden zwar angedeutet: „Wenn wir unsere eigenen Gemeinden ansehen. Da sind auch vielleicht die Sorgen, wie das denn nun weitergeht.“ Aber spezifischer wurde es nicht, und die Antwort blieb auch allgemein. Man solle sich in dieser Situation an Gott wenden und ihm vertrauen, denn bei ihm sei alles möglich. Ähnlich die trockene Empfehlung bei Glaubenszweifeln: „Dann muss man wieder zu einem starken Glauben zurückkehren“.
Die Predigt des Stammapostels warf bisweilen exegetische Fragen auf, so z. B., als das Wort über Gottes grenzenlose Gnade („Bei Gott ist alles möglich“) ausdrücklich „etwas abgewandelt“ und darüber zu einer Aussage über die grenzenlose Ermächtigung des Christen wurde („Mit Gott ist alles möglich“). Pointiert verwies der Stammapostel auf die Gotteskindschaft: „Die Gotteskindschaft beginnt mit unserem Glauben, mit der Heiligen Versiegelung.“ An diesem in den ökumenischen Gesprächen neuralgischen Punkt bewies Leber einerseits Sensibilität und sprach die Gäste direkt an, sie „mögen sich nicht ausgegrenzt fühlen“, denn Gott habe „auch in der Zukunft noch manche Möglichkeiten, Heil zu eröffnen“ – das ist derzeitige neuapostolische Lehre, derzufolge andere Christen etwas später gerettet werden können als die neuapostolische „Brautgemeinde“. Zum anderen aber sagte er: Es „ist heute noch Zeit, man kann sich ja noch versiegeln lassen“. Eine solche Einladung ökumenischer Gäste zur Konversion ist höchst unüblich und hoffentlich nur Ausdruck der Unerfahrenheit in interkonfessionellen Begegnungen.
Die NAK ist im Prinzip eine internationale Kirche. Inzwischen lebt die überwältigende Mehrheit der Mitglieder in Afrika. Diese Verschiebung ist allerdings erst wenig sichtbar. So wie der Pfingstgottesdienst in Bezug auf Stil und Musik europäisch geprägt war, so war es auch die Besetzung der Projektgruppe, die den neuen Katechismus erarbeitete (vgl. MD 5/12, 191f). Beim Einzug der Amtsträger im Pfingstgottesdienst war kaum eine Handvoll Schwarzer zu sehen, denn im Moment werden auch die südlichen Gemeinden noch oft von weißen Bezirksaposteln betreut. Aber Veränderungen deuten sich an. Fanden die zentralen, weltweit ausgestrahlten Pfingstgottesdienste früher fast ausschließlich im deutschsprachigen Europa statt, so zollte man 1996 erstmals der Gewichtsverlagerung der NAK Tribut und ging nach Nairobi. 2002, 2006 und 2010 wurde der Gottesdienst aus Südafrika ausgestrahlt, und die immer wieder betonte Vielzahl der Länder und Sprachen der Übertragung ist sichtlich Anlass zu Stolz.
Aus der Co-Predigt des Kapstadter Bezirksapostels Noel Barnes konnte man heraushören, dass Afrika seine Ansprüche geltend machen werde. Er wies verschmitzt darauf hin, er habe heute eigentlich gar nicht dabei sein sollen. Denn ursprünglich waren nur die europäischen Apostel zum Gottesdienst geladen, und erst als man eigene Wünsche anmeldete, wurden die Pläne „im letzten Moment“ geändert. Aber „es macht uns nichts aus, dass wir erst gestern angekommen sind“. Er war dann auch der Einzige, der den interkulturellen Aspekt zumindest anriss, als er darauf hinwies: „Wir kommen aus verschiedenen Völkern und sehen die Dinge unterschiedlich. Aber wir wollen alles so sehen, wie der Herr es sieht.“ Sichtbarer Meinungsstreit und öffentliche Diskussion sind zwar nicht Sache der NAK, doch ist denkbar, dass bei den vertraulichen internen Bezirksaposteltreffen, von denen eines am Tag zuvor stattgefunden hatte, auch interkulturelle Unterschiede deutlicher werden. Einige NAK-Mitglieder erwarten, dass der kommende Stammapostel Schneider besonderes Gespür für diese Entwicklungen mitbringen werde, denn weil seine Heimatgebietskirche Frankreich sehr klein ist, liegt der Großteil seiner Aufgaben derzeit im Kongo und in Burundi.
Eine Besonderheit neuapostolischer Frömmigkeit ist das starke Zusammengehörigkeitsbewusstsein, das im Gottesdienst immer wieder betont, vorausgesetzt, ja beschworen wurde. Hierzu gehört die fortdauernde Gemeinschaft mit den Verstorbenen. Vor diesem Hintergrund ist auch das Abendmahl mit den Entschlafenen zu sehen, das im Anschluss an das Gemeindeabendmahl gefeiert wurde. Der zelebrierende Stammapostel sprach dabei die Toten an, blickte aber auf zwei Stellvertreter, welche die Hostien empfingen. Leber gedachte in der Einleitung sichtlich bewegt zweier kürzlich Verstorbener aus dem Apostelkreis. Die emotionale Intensität des Totengedenkens war auch bei anderen Anwesenden deutlich spürbar.
Auch wenn die geistliche Macht des Stammapostels heute nicht mehr mit früheren Jahrzehnten vergleichbar ist, so ist doch die Kirche noch immer stark auf ihn ausgerichtet. Von seinem Amt leitet sich die Amtsvollmacht der anderen ab. Diese zentrale Bedeutung wurde auch an Pfingsten mehrfach deutlich betont. Es geht dabei nicht nur um eine pragmatische Frage von Leitungsorganisation, in der für bestimmte Fragen die Letztentscheidung einem Amt zugeordnet wird. Das kennen viele Kirchen. Sondern es geht um ein Amt, dessen Inhaber Gottesoffenbarungen erhalten kann und das dem der biblischen Apostel gleichgestellt ist. Ziel ist hier eine umfassende innerliche Übereinstimmung („ganz innig“) mit einem Amt, nicht nur Respekt für Leitungshierarchien.
Die NAK steckt derzeit in einer kritischen Umbruchphase, zu der unter anderem Mitgliederschwund in Europa und die ökumenische Öffnung gehören. In dieser Situation war es Leber wichtig, einen möglichst glatten Übergang zum kommenden Stammapostel sicherzustellen. So betonte er wiederholt eine völlige inhaltliche Übereinstimmung zwischen ihm und dem neuen Stammapostelhelfer, will „ganz eng zusammenarbeiten“, sodass „wir ... in allem eins sein“ werden, „ sodass da kein Unterschied zu sehen ist“. Dazu passte die Beauftragungsformel für Jean-Luc Schneider. Sie verpflichtet ihn zwar auf die Übereinstimmung mit dem Stammapostel, erwähnt aber weder eine Bindung an die Schrift noch die kirchliche Tradition, Glaubensbekenntnisse oder Ähnliches. „Ich frage dich hier vor Gott und der großen Pfingstgemeinde: Willst du die Beauftragung als Stammapostelhelfer annehmen, willst du deine ganze Kraft einsetzen, dass das Werk Gottes sicher und klar weitergeführt wird in Übereinstimmung mit dem Stammapostel, willst du immer hinführen zur Vollendung, willst du die Brüder und Schwestern lieben, überall auf der Welt, nicht nur in deinem bisherigen Bereich? Wenn das dein ernster, tiefer Wunsch ist in deinem Herzen, dann bekunde das bitte jetzt, in diesem Augenblick, mit deinem Jawort.“
Dieser Höhepunkt des Gottesdienstes drückte zwar eine sichtbare Innigkeit der Beziehung zwischen den beiden Männern aus – fast wie ein Vater, der den Sohn auf die Übernahme seiner Rolle vorbereitet, kommentierte ein Beobachter – doch es war auch ein etwas beklemmender Moment. Wo so sehr die Innigkeit, das Eins-Sein, die gegenseitige Liebe beschworen werden, da erfahren Emotionen, die sonst als freies Geschenk erlebt werden, Forderungs- und Normierungscharakter. Solange Übereinstimmung herrscht, wird dies Geborgenheit und Sicherheit vermitteln. Aber zugleich kann jede Abweichung und Meinungsverschiedenheit sofort von der Sachebene auf eine emotionale Ebene rücken, wo Andersdenken als Verrat an der Beziehung aufgefasst wird. Wenn die innige persönliche Beziehung zentraler Ausdruck der geistlichen Einheit ist, muss im Konfliktfall der äußere Bezugspunkt in Schrift oder Bekenntnis fehlen, auf den sich beide Seiten berufen und über dessen Verständnis sie sprechen können. An dieser Stelle kann man verstehen, warum NAK-Kritiker davon sprechen, dass in der Kirche mancherorts bedrängende Formen geistlicher Kontrolle und Enge verbreitet seien.
Kai Funkschmidt