Pflichtfach Ethik - Kein Modell für die Zukunft

Die öffentlichen Debatten um die Rütli-Schule und die neue Aufmerksamkeit für eine in vieler Hinsicht gescheiterte Integrationspolitik haben in den Hintergrund treten lassen, was im Land Berlin am 24. März 2006 beschlossen wurde. Gegen den pointierten Einspruch von CDU und FDP, ebenso der evangelischen und katholischen Kirche, die ein Wahlpflichtfach Ethik/Religion forderten, hat die rot-rote Koalitionsregierung ein allgemein verpflichtendes Fach Ethik durchgesetzt, das faktisch auf eine weitere Schwächung des Religionsunterrichts hinausläuft, auch wenn anderes beteuert wird. Ab August 2006 werden in Berlin alle 12- bis 13-jährigen Schülerinnen und Schüler in dem neuen Fach unterrichtet werden. Das Berliner Abgeordnetenhaus beschloss seine Einführung mit einer Zweidrittelmehrheit. Es wird zweistündig pro Woche im Stundenplan stehen und ist nicht abwählbar wie der Religionsunterricht, der in Berlin kein ordentliches Lehrfach im Fächerkanon der Schule ist, sondern freiwilliges Angebot. Das Fach wird zunächst in der 7. Klasse, dann sukzessive in der gesamten Mittelstufe eingeführt. In der Beschlussfassung des Abgeordnetenhauses heißt es u.a.: „Das Fach Ethik orientiert sich an den allgemeinen ethischen Grundsätzen, wie sie im Grundgesetz, in der Verfassung von Berlin (...) niedergelegt sind. Es wird weltanschaulich und religiös neutral unterrichtet. Im Ethikunterricht sollen von den Schulen einzelne Themenbereiche in Kooperation mit Trägern des Religions- und Weltanschauungsunterrichts gestaltet werden.“ Die Kirchen wie auch andere Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften „sollen“ die Möglichkeit zur Kooperation bekommen. Eine rechtliche Verpflichtung dazu besteht nicht. Unterrichtet wird es durch Lehrkräfte anderer Fächer, u.a. Philosophie, Ethik, Lebenskunde, Religion, die in Fortbildungen dafür vorbereitet werden sollen.

Vor ca. einem Jahr hatte die Berliner SPD auf ihrem Bildungsparteitag für ein solches Fach plädiert – gegen die Proteststimmen einzelner prominenter Parteigenossen wie Wolfgang Thierse, Richard Schröder, Johannes Rau, Franz Müntefering. Der Regierende Bürgermeister, Klaus Wowereit, begründete den Schritt zur Einführung dieses Faches mit einer „neuen historischen Lage“, der Rechnung zu tragen sei: zunehmende religiöse Vielfalt in einer multikulturellen Stadt, immer mehr Religionen beanspruchen den Zugang zur Schule, immer mehr Schüler finden gar keinen Zugang mehr zur Religion, was etwa daran deutlich werde, dass am Religionsunterricht in Berliner Oberschulen nur noch ein Viertel der Schülerinnen und Schüler teilnehmen.

Diejenigen, die schon immer gegen eine vermeintliche Privilegierung der großen Kirchen Stellung bezogen, begrüßen die Einführung des neuen Faches. Sie hoffen nun darauf, dass das Berliner Beispiel auch anderswo Schule macht; dass der Religionsunterricht als ordentliches Fach aus dem Fächerkanon der Schule gestrichen und durch ein Fach ersetzt wird, das sich am „weltanschaulich neutralen“ Brandenburgischen LER (Lebensgestaltung, Ethik, Religionskunde) orientiert. Die Befürworter des Ethikunterrichts beanspruchen, zur interkulturellen und interreligiösen Kompetenz und Urteilsfähigkeit beizutragen. Sie betonen die Neutralitätspflicht des Staates.

Doch was heißt staatliche Neutralität? Welche Handlungsorientierungen folgen aus ihr? Welches sind die Voraussetzungen dafür, dass interkulturelle und interreligiöse Kompetenz gefördert werden? Man muss kein Prophet sein, um vorauszusehen, dass unsere Gesellschaft über solche und ähnliche Fragen noch heftig streiten wird. Was sind angemessene Reaktionen auf die zunehmende religiös-weltanschauliche Vielfalt? Die Antworten, die durch die Entscheidungen des Berliner Senates und des Abgeordnetenhauses gegeben wurden, können meines Erachtens nicht überzeugen. Es mag nahe liegen, auf Orientierungskrisen mit der Erinnerung an für alle gültige Verhaltensnormen zu antworten. Selbstverständlich sollte einer wertebezogenen Bildung besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Das neue Fach will sich am Grundgesetz orientieren, so steht es im Gesetzesentwurf. Das wird man erwarten dürfen, denn dieses stellt eine fundamentale Voraussetzung nicht nur für das Fach Ethik dar. Der religiöse und kulturelle Pluralismus einer demokratischen Kultur lebt von gemeinsamen Werten und einem gemeinsamen Rechtsbewusstsein. Doch woher kommen die gemeinsamen Werte? Aus welchen Quellen gehen sie hervor? Moralische Urteile und Verhaltensweisen stehen in einem Verhältnis zu vormoralischen Voraussetzungen, die innerhalb einer religiösen oder weltanschaulichen Tradition vermittelt werden. „Wer Moral will, muss mehr wollen als nur Moral“, heißt es deshalb zu Recht. Werte gibt es nicht ohne Bindung an Weltanschauungen und Religionen. Menschliches Handeln setzt implizite oder explizite Lebensgewissheiten und Überzeugungen voraus. Ethische Urteilsbildung geschieht im Kontext mit weltanschaulichen Orientierungen, die in schulischen Bildungsprozessen offen zu legen sind.

Die Schule muss dem zunehmenden religiös-weltanschaulichen Pluralismus der Gesellschaft Rechnung tragen. Das tut sie dann, wenn sie den Schülerinnen und Schülern ein plurales Angebot macht und Wahlmöglichkeiten schafft. Der Berliner Senat hat diese Chance vertan. Das Pflichtfach Ethik ist eher ein Beitrag zur religiösen Nivellierung. Wenn es auf die Vermittlung von Kenntnissen über Religionen und Weltanschauungen nicht verzichtet, wird es zudem verfassungsrechtlich schwierig. Denn der weltanschaulich neutrale Staat verneint sich selbst, wenn er seine Grenzen nicht anerkennt. Er verfällt der Neigung zum Dirigismus und verfehlt die Notwendigkeit seiner Selbstbegrenzung. Die staatliche Bemächtigung im Blick auf die Religionsthematik stellt eine Verletzung der ihm gebotenen Neutralität in Religionsfragen dar.

Die größten Illusionen scheinen hinsichtlich der Frage zu bestehen, wodurch interreligiöse und interkulturelle Kompetenz gestärkt werden. Der Dialog der Kulturen und Religionen setzt einen eigenen Standpunkt voraus. Dieser entsteht und wird aufgebaut durch Begegnung mit authentischen Vertretern. Der Verzicht auf eigenes Profil disqualifiziert für den Dialog der Kulturen und Religionen. Interkultureller und -religiöser Dialog setzt voraus, eigene Überzeugungen und Prägungen kommunizieren zu wollen. In den Beschlussfassungen des Landes Berlin hat sich erneut eine Tendenz durchgesetzt, die Religion aus dem öffentlichen Diskurs über die Lebensfragen der Gesellschaft zu verdrängen. Das ist bedauerlich.


Reinhard Hempelmann