Plädoyer für eine Wendung nach außen - EKD-Schrift zu Bildung und Konfessionslosigkeit
Angesichts des wachsenden Bevölkerungsanteils Konfessionsloser in Deutschland (derzeit ca. 36 %) hat die „Kammer der EKD für Bildung und Erziehung, Kinder und Jugend“ einen Grundlagentext erarbeitet, in dem sie für deren stärkere Berücksichtigung im kirchlichen Handeln wirbt. Mit der Schrift „Religiöse Bildung angesichts von Konfessionslosigkeit – Aufgaben und Chancen“ (Download unter www.ekd.de/Aktuelle-Publikationen-24065.htm) wird erstmals das Verhältnis der evangelischen Kirche zu den Mitmenschen, die weder einer Kirche noch einer anderen Religionsgemeinschaft angehören, in einer EKD-Publikation systematisch reflektiert (abgesehen von den EKD-Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen IV und V). Besonders in der kirchlichen Bildungsarbeit sehen die Autorinnen und Autoren ein unausgeschöpftes Potenzial, die vielfach vorhandenen Kontakte mit Konfessionslosen für einen werbenden Dialog zu nutzen, um bei ihnen einen Sinn für die Lebensrelevanz des Christentums zu wecken.
Zwar gibt es, was den Anteil Konfessionsloser in Deutschland betrifft, nach wie vor große regionale Unterschiede, etwa zwischen (Groß-)Stadt und Land sowie zwischen West und Ost, wo sich eine stabile „Kultur der Konfessionslosigkeit“ (Detlef Pollack) etabliert hat. Dennoch trifft es für ganz Deutschland zu, dass Zugehörigkeit wie Nichtzugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft mittlerweile als gleichberechtigte Optionen gelten. In dieser Situation ist es aus EKD-Sicht dauerhaft notwendig, die Zugehörigkeit zum Christentum bzw. zu einer christlichen Kirche in der Konkurrenz der Möglichkeiten als eine bedenkenswerte, gewinnbringende und lebensdienliche Option plausibel zu machen. Dies hat in der Begegnung mit Einzelnen zu geschehen, die möglicherweise noch gar keine nennenswerte Erfahrung mit Christentum und Kirche haben, aber auch in der öffentlichen Auseinandersetzung mit den religiös-weltanschaulichen Alternativen. Insgesamt gewinnt also die apologetische Aufgabe der Plausibilisierung des Christlichen im Horizont nichtchristlicher Welt- und Lebensdeutungen an Gewicht. Dementsprechend weist der EKD-Text der „Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen“ als dem institutionellen Akteur auf dem Feld der Apologetik besondere Bedeutung zu.
Bei der Wendung „nach außen“ ist freilich in Rechnung zu stellen, dass die mit dem formalen Kriterium der „Konfessionslosigkeit“ etikettierte Bevölkerungsgruppe hinsichtlich der Beziehung zum Religiösen in sich hochgradig heterogen ist. Die Bandbreite reicht von entschiedener Religionsfeindschaft bis zu lebendigem spirituellem Interesse, bei einem breiten Mittelfeld religiöser Indifferenz. Es wird in der Studie empfohlen, die besagte „Gruppe“ zunächst in der Vielfalt und inneren Komplexität ihrer Weltbilder und Lebenshaltungen genauer wahrzunehmen und zu beschreiben. Dabei sollen vornehmlich die Systematische Theologie mit ihrer hermeneutischen Kompetenz und die Praktische Theologie mit ihrer Sensibilität für die Vielgestaltigkeit der konkreten Empirie zusammenwirken.
Wie aber können Theologie und Kirche an die betreffenden Anschauungen und Haltungen anknüpfen, um die christliche Welt- und Lebensdeutung als eine relevante und überzeugende Option ins Spiel zu bringen? Die Antwort auf diese apologetisch-missionarische Schlüsselfrage fällt in der EKD-Schrift nicht ganz einheitlich aus. Die Autoren gehen einerseits davon aus, dass bei konfessionslosen Menschen existenzielle Fragen, Interessen und Einstellungen identifizierbar sind, die sich vermöge theologischer Deutungskunst auf „religioide“ (Georg Simmel), also „religionsartige“ oder religiös relevante Facetten hin verständlich machen und in christlich-religiöse Vorstellungen und Einstellungen „übersetzen“ lassen. Die Frage nach dem Sinn des Lebens beispielsweise kann auf diese Weise als Frage nach Gott als der absoluten Quelle von Sinn interpretiert und der Gottesglaube solchermaßen als existenzielle Sinngewissheit zugänglich gemacht werden.
Andererseits wird das kirchliche Handeln mit der Formel von der „Kommunikation des Evangeliums“ (Ernst Lange, Christian Grethlein) auf ein binnenkirchlich geläufiges Grundaxiom festgelegt, das der apologetischen Öffnung und der besagten Deutungs- und Übersetzungslogik zuwiderzulaufen scheint. Denn ob das Evangelium, „die gute Nachricht von Gottes Zuwendung zu den Menschen, die in den biblischen Texten grundlegend bezeugt wird“, ohne Weiteres einen Zeitgenossen anzusprechen vermag, dem die Vorstellung eines sich (wem auch immer) zuwendenden Gottes schon aufgrund ihres anthropomorphen Charakters obsolet erscheint, wird man fragen dürfen. Vor allem aber blendet die Leitvorstellung einer bestimmten auszurichtenden „Nachricht“ eine Fülle möglicher religiöser Stimmungen, Haltungen und Vollzüge aus, die gar keinen vergleichbaren Grad an inhaltlicher Bestimmtheit aufweisen, die aber gerade im Kontakt mit Konfessionslosen kirchlich aufzunehmen und zu kultivieren wären (z. B. die unbestimmte Sehnsucht nach Unendlichkeit). Die fragliche Formel bedeutet also eine unnötige theologische Verengung, die im vorliegenden Kontext besonders kontraproduktiv sein dürfte. Der Wille zur evangelischen Profilierung und das Insistieren auf der „Anstößigkeit des Evangeliums“ erschweren schon im Voraus jene Öffnung, die eigentlich propagiert werden soll.
Des ungeachtet dominiert in dem Text insgesamt der Geist protestantischer Vermittlungstheologie. Dies drückt sich auch in den beschriebenen Grundsätzen und Aufgaben für die Ausrichtung des kirchlichen (Bildungs-)Handelns auf die konfessionslosen Mitmenschen aus. Hier wird unter anderem auf den Wert der Vielfalt von Frömmigkeitsformen und auf das hohe Vermittlungspotenzial der kulturellen Zeugnisse des Christentums in Kunst, Architektur, Literatur und Musik hingewiesen. Bei alledem ist die Überzeugung leitend, dass die kirchliche Arbeit nur durch eine entsprechende Prioritätensetzung größere Ausstrahlung über den Binnenraum der Kirche hinaus gewinnen kann. Dass sich eine derartige Umorientierung „nach außen“ sofort in Form von Kircheneintritten „auszahlen“ werde, wird nicht behauptet. Dass hingegen ein Gewinn an Ausstrahlung, Relevanz und Glaubwürdigkeit nach außen in jedem Falle einen Gewinn für das Fortbestehen auch des kirchlichen Christentums darstellt, steht für die Autoren des Grundlagentextes außer Frage.
Martin Fritz