Esoterik

Positives Denken 2.0: „Manifestieren“ in Krisenzeiten

Blättert man derzeit durch Wellness-Zeitschriften oder bewegt sich zu diesen Themen in den sozialen Medien, stößt man regelmäßig auf die neue Praktik des „Manifestierens“ (manifesting). Auf Instagram findet man unter #manifest und #manifestation fast 14 Millionen Beiträge, und ob Hochglanzmagazine wie Elle oder Tageszeitungen wie der Guardian – alle berichten derzeit über den neuen Trend.1  Gibt man den Begriff auf den einschlägigen Portalen ein, wird man von einer Vielzahl an ähnlich klingenden Titeln überflutet: „Das Universum liefert immer zweimal. Manifestieren mit Energie nach dem Gesetz der Anziehung“2  oder „Scheiß auf die Glücksfee! Ich mach das jetzt selbst. Wie du dir mit dem Gesetz der Anziehung alles manifestierst, was du dir wünschst“3.

Die Grundidee des „Manifestierens“ ist die Annahme, durch absolute Konzentration seine innersten Wünsche verwirklichen, sprich: „manifestieren“, zu können. In einer ausschließlich von „Geist“ erfüllten und aus Geist bestehenden Welt sei dies möglich durch das „Gesetz der Anziehung“, welches in seinen Grundzügen auf den „Vater“ der New-Thought-Bewegung Phineas Quimby zurückgeht.4  Dieses (wissenschaftlich nicht nachgewiesene) „Gesetz“ besagt, dass positive Gedanken auch positive Erfahrungen nach sich ziehen, so wie negative Gedanken hauptsächlich negative Erfahrungen anziehen und Gutes hemmen können. Aufgrund der Ähnlichkeit der „Energien“ könne man durch die exakte Formulierung positiver Wünsche selbige „anziehen“ und wirklich werden lassen. Dabei können Wünsche für jeden Lebensbereich formuliert werden, vom Partnerwunsch über Geldsegen bis hin zur erfolgreichen Karriere. Instagram-Videos, Ratgeberliteratur und „Manifesting“-Retreats geben den Erfolg- und Erfüllungsuchenden dafür konkrete Praktiken an die Hand, durch die sie beispielsweise lernen können, ihr „Mindset“ ausschließlich auf die tiefsten Wünsche zu fokussieren.

Durch prominente VertreterInnen wie Alicia Keys oder Ariana Grande erhält der „neue“ Lifestyle-Trend viel Aufmerksamkeit. Und natürlich gibt es auch auf diesem Feld junge, überwiegend weibliche „Manifesting“-InfluencerInnen wie Moon Onyx Starr, die durch ihre Kanäle auf Instagram und TikTok eine stark wachsende Zahl von AnhängerInnen generieren.

Die Grundidee des Manifestierens, die bis ins 19. Jahrhundert zurückgeht, tauchte periodisch immer wieder in Bestsellern wie Napoleon Hills „Think and Grow Rich“ (1937) oder Rhonda Byrnes „The Secret“ (2006) auf. Der „Manifesting“-Hype scheint auf ein vertieftes Bedürfnis unter Millennials und Angehörigen der „Generation Z“ hinzuweisen, der Angst vor einer ungewissen Zukunft mit einem „ermächtigten Selbst“ („empowered self“) entgegenzutreten. Vor allem die Corona-Pandemie hat offenbar bei vielen eine Art Ohnmachtsgefühl ausgelöst. Um ihm entgegenzuwirken, suchen derzeit viele nach Techniken oder „Tools“, die ihnen das Bewusstsein aktiver Lebensgestaltung zurückgeben.

Wie viele spirituelle Autoritäten im Netz legitimiert auch Moon Onyx Starr ihre Manifesting-Praxis biografisch: Als sie zu Beginn der Pandemie zwangsbeurlaubt wurde, war sie orientierungslos und labil. Nicht verarbeitete Erfahrungen aus der Vergangenheit fingen sie wieder ein. Sie fühlte sich dem Zusammenbruch nahe. Durch Ratgeberliteratur und spirituelle Podcasts entdeckte sie dann das Manifestieren für sich und gründete die Firma „Over the Moon Retreats“. Diese hat sich schnell zu einem florierenden Geschäft entwickelt – dank erfolgreichen Manifestierens, wie sie sagt. Neben digitalen Live-Sessions werden dort, im Herzen von London, auch Tagesseminare in Präsenz angeboten. Sie enthalten Sessions zu Reiki- und Heilstein-Heilmethoden, meditative Tanz- und Klangeinheiten sowie natürlich Runden zum Austausch über die Wünsche, die manifestiert werden sollen.5

Dass Manifesting momentan boomt, zeigt sich nicht nur an der breiten Berichterstattung. Auch dass die „Königin“ der Lifestyle-Unternehmen, Gwyneth Paltrows Goop, Kurzbeiträge zu den effizientesten Manifesting-Strategien in gewohnt sanft illustriertem Design bietet – nicht ohne Verlinkungen zu teuren Lifestyle-Produkten, versteht sich – ist ein deutlicher Indikator für ein „neues“ lukratives Businessmodell auf dem Lebenshilfe-Markt.6  Ähnlich wie der wieder aufgeflammte Trend zu Tarot-Karten7  verspricht das Manifestieren eine schnelle, spirituell unterfütterte Methode, die dazu befähigen soll, das eigene Leben in einer von Unsicherheit geprägten Welt aktiv zu gestalten. Existenziellen Herausforderungen begegnet man hier mit einer esoterischen Handlungsempfehlung, die, dem hoch individualisierten Zeitalter entsprechend, im flexiblen, unverbindlichen und kostenpflichtigen Format angeboten wird.


Claudia Jetter, 13.05.2022

 

Anmerkungen

1  Katie O’Malley: How To Manifest. A Guide To Willing Your Goals Into Existence In 2022, 20.1.2022, www.elle.com/uk/life-and-culture/culture/a38802302/how-to-manifest; Stuart McGurk: Making dreams come true: inside the new age world of manifesting, The Guardian, 20.3.2022, https://tinyurl.com/5t54pvuv (Abruf der in diesem Beitrag angegebenen Internetseiten: 30.3.2022).

2  Sarah Hertz (selbstverlegt 2021).

3  Claudia Engel (München 2021).

4  Phineas Quimby (1802 – 1866) war ein Heilpraktiker und Hypnotiseur, dessen Heilphilosophie als Ursprung der New-Thought-Bewegung gilt. Eine ausführliche Einordnung dazu findet sich u. a. bei Catherine Albanese: A Republic of Mind and Spirit. A Cultural History of American Metaphysical Religion, New Haven 2007, 257 – 329. Wie die selbsterklärte „größte“ Community der „Kraft der Anziehung“ den Inhalt beschreibt, findet man unter www.thelawofattraction.com/what-is-the-law-of-attraction.

5  Ein Tagesseminar bei Moon Onyx Starr kostet derzeit ca. 150 Euro. Es werden auch Tagesseminare für Firmen angeboten. Vgl. www.overthemoonretreats.co.uk/about.

6  Vgl. https://goop.com/wellness/spirituality/10-wellness-gurus-on-tools-for-manifesting-happiness.

7  Vgl. Claudia Jetter: Ein neues Tarot-Kartenspiel mit den Schurken aus dem Disney-Universum, in: ZRW 85/1 (2022), 53f.