„Pro Reli“ in Berlin

Die Situation des schulischen Religionsunterrichts in Berlin kann nur als äußerst unbefriedigend und als in hohem Maße reformbedürftig betrachtet werden. Das Fach ist nicht integriert in den Fächerkanon der Schule. Es ist kein ordentliches Lehrfach, auch kein Wahlpflichtfach, sondern ein freiwilliges Angebot. Seit Jahren gibt es in Berlin eine Politik der heimlichen Ausgrenzung der religiösen Bildung aus dem Kontext der Schule. Mitbestimmt ist diese Politik durch antikirchliche Affekte und durch die Meinung, am besten könne man „neutral“, ohne religiös-weltanschauliche Bindung, über Werte, Religion und Lebensgestaltung reden. Dies aber ist eine Illusion. Wenn es um das geht, was den Menschen unbedingt angeht und seinem Leben Sinn und Ziel gibt, kann niemand neutral bleiben. Religiöse Bildung entwickelt sich in der Begegnung mit authentischen Vertretern einer Glaubensrichtung.

Der Vorschlag der christlichen Kirchen zur Einführung eines Wahlpflichtfaches „Religion/Ethik“ hatte bisher in Berlin politisch keine Chance. Die Verantwortlichen entschieden sich gegen Offenheit und Pluralität und für den Weg religiöser Nivellierung. Das in Berlin neu eingeführte Pflichtfach „Ethik“ stellt keine überzeugende Antwort auf den sich ausbreitenden religiös-weltanschaulichen Analphabetismus dar. Es ist Ausdruck von staatlichem Dirigismus und erinnert an die politische Bemächtigung der Religion durch die sozialistische Diktatur. Ethisches Handeln kommt nicht primär durch Imperative zustande. Es setzt Lebensgewissheiten und Überzeugungen voraus. Wertevermittlung geschieht hoffentlich in allen schulischen Fächern. Woher aber kommen die Werte? Religion ist eine Gestaltungskraft, die zwar nicht in Ethik aufgeht, aber ethische Überzeugungen hervorbringt.

Durch die Aktion „Pro Reli“ besteht nun eine Möglichkeit, die unbefriedigende Situation des Religionsunterrichts in Berlin grundlegend zu verändern. Seit dem 22. September 2008 werden vier Monate lang Unterschriften für ein Volksbegehren gesammelt. 170 000 Stimmen müssen zusammenkommen, damit das Volksbegehren erfolgreich ist. Damit wäre der Weg zu einem Volksentscheid offen, der im Frühjahr 2009 stattfinden könnte. Die wahlberechtigten Einwohnerinnen und Einwohner Berlins könnten entscheiden, dass ein für alle Schülerinnen und Schüler in den Lehrplan integriertes Wahlpflichtfach Religion/Ethik eingeführt wird. Das wäre zukunftsorientiert. Es entspräche den Intentionen der Verfassung und würde den religiös-weltanschaulichen Pluralismus ebenso berücksichtigen wie das Selbstdarstellungsrecht der Religionsgemeinschaften. Es würde niemanden unter religiösen Zwang stellen.

Im Streit über den Religionsunterricht geht es um weit mehr als um spezifische Fragen der Bildungspolitik. Zur Diskussion steht, ob eine Tendenz sich durchsetzt, die Religion aus dem öffentlichen Diskurs zu verdrängen und ihr lediglich einen Platz in der privaten Lebenswelt zukommen zu lassen. Religion aber ist keine Privatsache. Aus ihr kommen wichtige Impulse zur Gestaltung des Gemeinwesens und zur Bewahrung von Menschlichkeit und Gerechtigkeit in der Gesellschaft. Es sollte im Interesse des Staates liegen, dass authentische Vertreterinnen und Vertreter der Religionsgemeinschaften am Diskurs über die Lebensfragen der Gesellschaft beteiligt sind, auch im öffentlichen Raum der Schule.


Reinhard Hempelmann