Reinhard Hempelmann

Protestphänomen Sekte

Annäherungen an einen umstrittenen Begriff

Obwohl das Wort „Sekte“ vieldeutig und für den religiös-weltanschaulich neutralen Staat von keinem das religiöse Leben bestimmenden Gewicht ist, behält es im Kontext von Kirche, Theologie und Religionswissenschaft seine Bedeutung. Es ist die Bezeichnung der Kirche bzw. der Mutterreligion für häretische Abspaltungen, die das eigene Selbstverständnis im dezidierten Gegenüber zu ihr entwickelt haben. Sekten stehen in Lehre und Praxis einer Religion gegenüber, von der sie sich getrennt haben. Insofern impliziert der Sektenbegriff Konflikte und Auseinandersetzungen im Beziehungsfeld Kirche/Religion und Sekten, zu denen wechselseitige Abgrenzungen gehören. In unterschiedlichen geschichtlichen Situationen steht kirchliches Handeln vor der Aufgabe, die Identität des Glaubensgutes zu wahren und nach derjenigen Übereinstimmung in Glaubenslehre und -praxis zu fragen, die für die Einheit der Kirche schlechterdings notwendig ist. Das beinhaltet die Möglichkeit der Unterscheidung gegenüber Gemeinschaften, „die mit christlichen Überlieferungen wesentliche außerbiblische Wahrheits- und Offenbarungsquellen verbinden und in der Regel ökumenische Beziehungen ablehnen“ (Handbuch Religiöse Gemeinschaften und Weltanschauungen). Vergleichbare Auseinandersetzungen und Abgrenzungen lassen sich auch in anderen Religionen (u. a. Hinduismus, Buddhismus, Islam) beobachten, auch wenn das Gegenüber von Ortho- und Heterodoxie bzw. Kirche und Sekte dort kaum ein so großes Gewicht hat wie im Christentum.

Philologisch leitet sich dieser klassische, konfessionskundlich und theologisch orientierte Sektenbegriff von griechisch „hairesis“, lateinisch „secta“, und dem lateinischen Verb „sequi“ (folgen) ab und bezeichnet im ursprünglichen Sinn eine Richtung, Partei, Schule, Gefolgschaft. In diesem Sinne wurden die Anhänger Jesu von Nazareth „Sekte“ genannt (Apg 24,5). Die Ableitung vom lateinischen Verb „secare“ (abschneiden, -trennen) ist etymologisch unzutreffend, hat die Begriffsgeschichte teilweise jedoch mit bestimmt. Obgleich ursprünglich neutral verwendet, wurde der Sektenbegriff in der Christentumsgeschichte nicht als Beschreibungs-, sondern als Bewertungsbegriff aus der Perspektive eines normativen Standpunktes wirksam. Er ist zugeschriebene Fremdbezeichnung und keine Selbstdefinition. Dies beginnt bereits im Neuen Testament, wo „hairesis“ die negative Bedeutung von Sondergruppe und (Ab-)Spaltung annimmt (Apg 24,14; 1. Kor 11,19; Gal 5,20).

Phänomene und Terminologien

Als Definitionskriterien für die als Sekten bezeichneten Gruppen lassen sich anführen: religiöse Ausrichtung, kultische Praxis (im Unterschied zu Weltanschauungsgemeinschaften, für die dies nicht zwingend ist), fundamentale Differenzen zur Mutterreligion, die nicht nur stilistischen, sondern kanonischen Charakter haben (z. B. Abwertung bzw. Ergänzung des biblischen Kanons, Ablehnung des trinitarischen oder christologischen Bekenntnisses, eklektische Rezeption der christlichen Tradition). Die Abspaltung von der Mutterreligion kann unmittelbar sein, sie kann aber auch eine sich auf neue Offenbarungen, Visionen und paranormale Erfahrungen berufende Weiterentwicklung sein.

Diesem klassischen Verständnis lassen sich zahlreiche aus der christlichen Tradition kommende Gruppen zuordnen, u. a. die beiden im deutsch-sprachigen Bereich zahlenmäßig größten Gruppen: Neuapostolische Kirche und Jehovas Zeugen – ebenso die Christliche Wissenschaft / Christian Science und die Christengemeinschaft. Weitere Merkmale wie exklusives Heilsverständnis, aggressive Missionspraxis, scharfe Abgrenzungen zur Außenwelt, hierarchische Leitungsstrukturen, normierte Lebenspraxis kommen in zahlreichen Sekten vor, sind aber nicht in jedem Fall charakteristisch und nicht verallgemeinerungsfähig.

Erweiterungen und eine nicht zu übersehende Unschärfe hat der aus dem theologischen Kontext kommende Begriff der Sekte seit den 80er Jahren u. a. durch seine Assoziierung mit den so genannten Jugendreligionen und meist hinduistisch geprägten Gurubewegungen (Hare Krishna / ISKCON, Vereinigungskirche, Kinder Gottes, Transzendentale Meditation, Bhagwan- bzw. Osho-Bewegung) erfahren, die mit ihrer „schockierenden Fremdheit“ (Werner Thiede) und ihren umstrittenen Werbemethoden zahlreiche Konflikte im familiären und gesellschaftlichen Kontext verursachten und nicht nur kirchliche, sondern auch staatliche Reaktionen auslösten (in zahlreichen deutschen Bundesländern und verschiedenen europäischen Staaten, u. a. in Frankreich, Belgien, den Niederlanden, der Schweiz, Österreich und Schweden). Ebenso wurde der Begriff Sekte auf pseudoreligiöse, therapeutische und ideologische Gruppen und Gemeinschaftsbildungen angewendet (Scientology, LaRouche-Bewegung u. a.).

Der säkularisierte und umgangssprachlich (Medien, populäre Literatur) ausgerichtete Sektenbegriff bezieht sich auf ethisches Fehlverhalten und signalisiert Konfliktträchtigkeit: fanatisch vertretene Überzeugungen, autoritäre Binnenstrukturen, Vereinnahmungstendenzen, scharfe Abgrenzungen nach außen, manipulative Werbung etc. Die unter diesen Begriff gefassten Gruppierungen weisen in religiöser Hinsicht unübersehbare Unterschiede auf. Ihre Gemeinsamkeit liegt im Aufbau radikaler Gegenwelten, die der Lebensweise offener, pluralistischer Gesellschaften entgegenstehen. Die Sektenabhängigkeit lässt sich aus den sozialen Beziehungen in der Gruppe erklären, nicht durch Theorien einer Gehirnwäsche.

Zusätzliche Aufmerksamkeit erhielt die Sektenthematik in der Öffentlichkeit durch militante Extremgruppen, deren weltpessimistische Wirklichkeitsauffassungen bis zu apokalytisch motivierten Massenselbstmorden und Morden gesteigert wurden. Die erlösende Entrückung aus der untergehenden Welt in eine bessere war das Motiv zur Selbstvernichtung der Anhängerinnen und Anhänger der UFO-Sekte Heavens Gate (1997). Auch die esoterisch geprägten Sonnentempler haben vor dem Hintergrund eines gesteigerten apokalyptischen Weltverständnisses das Verlassen der Welt propagiert und in aufsehenerregenden Aktionen inszeniert (1995). In ähnlich motivierten Zusammenhängen standen der Giftgasterror in der Untergrundbahn in Tokio durch die neubuddhistische Gruppe Aum Shinrikyo (1995) und das Feuergefecht mit der adventistisch beeinflussten Endzeitgemeinschaft der Davidianer (1993) in Waco/Texas mit über 70 Toten. Eine Gesamtdeutung des Sektenphänomens lässt sich anhand militanter Einzelgruppen nicht vollziehen. Sie stellen extreme Beispiele für den Missbrauch von Religion dar.

Die Ausweitung und die vieldeutige Verwendung des Sektenbegriffs wird auch in terminologischen Unsicherheiten deutlich. Regierungsamtliche Stellungnahmen sprechen von „neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen“ oder von „sogenannten Sekten“. Auf Seiten katholischer Theologie redet man von „neuen religiösen Bewegungen und Sekten“. Andere Bezeichnungen wie Kulte („cults“) bzw. destruktive Kulte („destructive cults“) werden von Betroffeneninitiativen und Antikultgruppen aufgegriffen und beziehen sich teilweise auf dieselben Phänomene. In religionswissenschaftlichen Studien, die sich wertneutral verstehen, wird der Begriff Sekte als unsachgemäß abgewiesen, u. a. mit dem Argument, dass er Vergleichbarkeit suggeriert, die nicht gegeben ist, und in abwertender Weise sehr unterschiedliche Phänomene und Gemeinschaftsbildungen bezeichnet. Stattdessen werden neutrale Begrifflichkeiten vorgeschlagen: z. B. neue religiöse Bewegungen (new religious movements), neue Religionen, nicht konventionelle Religionen, neureligiöse Bewegungen. Diese Bezeichnungen verzichten zwar auf jegliches Werturteil, sind aber wenig aussagekräftig. Auch auf kirchlicher und theologischer Seite gab und gibt es verschiedentlich Versuche, den Begriff Sekte fallen zu lassen bzw. zu ersetzen. Sie setzten sich jedoch nicht durch. Der Vorschlag, Sekte durch den Begriff „sektiererisch“ zu ersetzen und mit ihm charakteristische Elemente wie Elitebewusstsein, ethischen Rigorismus, Verengung des religiösen und geistigen Horizonts, Reduktion der Sprache etc. zu verbinden, übersieht den Sachverhalt, dass Sekten ein soziales und nicht nur ein individuelles Phänomen sind, zu dem ein gewisses Maß an Institutionalisierung, an Stabilität und Verbreitung gehört.

Historische Aspekte

Bereits im Neuen Testament deuten sich Grundmodelle für die Entstehung von Sekten an, die in der Christentumsgeschichte wirksam wurden: Doketismus, Gnosis, religiös-politischer Messianismus, ethischer Rigorismus und Gesetzeschristentum, apokalyptisch orientierter Enthusiamus. Sekten reagieren in hohem Maße auf religiöse und gesellschaftliche Zusammenhänge und bleiben auf sie bezogen. Insofern hat jeder geschichtliche und geographische Kontext spezielle Gestalten sektiererischer Gruppen hervorgebracht, die sich vom Hauptstrom christlichen Lebens trennten.

Für die christlichen Gemeinden der ersten Jahrhunderte stellten Gemeinschaftsbildungen im Zusammenhang fundamentaler Lehrabweichungen eine existentielle Gefährdung dar, die zur Selbstunterscheidung herausforderte. Diese Situation änderte sich grundlegend, nachdem das Christentum zur herrschenden Religion geworden war (Konstantinisches Zeitalter). Die Sektengeschichte ist zugleich eine Geschichte der Verfolgungen, die sich aus der engen Verknüpfung von Staat und Kirche ergaben. In der Auseinandersetzung mit Ketzern und dissidierenden Minderheiten beschränkte sich die Kirche nicht auf geistliche Mittel und verleugnete, dass sich das Evangelium, die Botschaft von der freien Gnade Gottes, ohne menschliche Gewalt, allein durch das Wort des Evangeliums (sine vi humana sed verbo) vermittelt.

Als typische Bewegungen jenseits des Hauptstroms des vorkonstantinischen Christentums gelten u. a. Montanisten und Marcioniten, im mittelalterlichen Christentum traten u. a. Katharer und Waldenser hervor. Zur Zeit der Reformation kam es innerhalb der Täuferbewegung zu zahlreichen Gemeinschaftsbildungen, von denen teilweise eine unmittelbare Linie zum Freikirchentum führt (u. a. Baptisten, Mennoniten). Der Kontext der USA als Land, in das zahlreiche religiös Verfolgte einwanderten (Religionsfreiheit) und in dem alle religiösen Gemeinschaften als „denominations“ gelten, hat in anderer Weise als Europa zur Entwicklung neuer Gemeinschaften beigetragen. Die Mehrzahl der in Westeuropa aktiven Gruppen ist amerikanischen Ursprungs (z. B. Mormonen, Jehovas Zeugen, Christliche Wissenschaft / Christian Science). Obgleich das Sektenphänomen globalen Charakter hat und nahezu alle größeren Gemeinschaftsbildungen international missionarisch wirksam und präsent sind, haben es die christlichen Kirchen in Asien, Afrika und Lateinamerika mit jeweils anderen religiösen Strukturen und je besonderen sektiererischen Gemeinschaftsbildungen zu tun. Im deutschen und westeuropäischen Kontext ist die Mitgliederzahl der mit dem konfessionskundlich orientierten Sektenbegriff erfassten Gruppen in den vergangen Jahrzehnten relativ konstant geblieben.

Motive und Themen

Die Entstehungsbedingungen von Sekten unterscheiden sich nicht grundlegend von denen anderer religiöser Gemeinschaften. Da sie in ihren Anliegen und Ausdrucksformen der Frömmigkeit auf gesellschaftliche und kirchliche Defizite bezogen sind, lassen sie sich als Protestbewegungen (Kurt Hutten) interpretieren. Ihr Bezugsfeld sind vor allem die christlichen Kirchen und die säkulare Kultur. Religiöse Gemeinschaften, sofern sie im Umfeld des Protestantismus entstanden sind (z. B. Neuapostolische Kirche, Jehovas Zeugen), kritisieren dessen modernitätsverträgliche Auslegungen des Christlichen, insbesondere auf dem Feld der Eschatologie. Neuoffenbarungsgruppen lösen sich aus dem Umfeld ihrer „Herkunftsreligion“ und suchen religiöse Autorität durch Berufung auf unmittelbare Kundgaben des Göttlichen neu aufzurichten. Sie sind, mit dem amerikanischen Soziologen Rodney Stark gesprochen, keine „neue(n) Organisationen (bzw. Organisationsformen) eines alten Glaubens“ (sect movements), sondern unterstützen Entwicklungen, die in Richtung neuer Religionsbildungen verlaufen (cult movements). Berührungspunkte ergeben sich zwischen Sekten und fundamentalistischen Strömungen. Beide protestieren gegen Bündnisse, die mit der säkularen Kultur geschlossen wurden. Fundamentalistische Gruppen verbleiben aber zumeist innerhalb des Selbstverständnisses ihrer jeweiligen religiösen Traditionen. Motive und Vorstellungen, die in verschiedenen Gemeinschaften einen prägenden Einfluss auf die Entstehung und Ausbildung ihrer Eigenarten haben, sind:

• das wiederhergestellte christliche Leben. Dieses Motiv verbindet sich mit der Suche nach der vollkommenen Gestalt christlichen Lebens, wobei sich die Suche sowohl auf die Glaubensexistenz des Einzelnen beziehen kann als auch auf das Leben der christlichen Gemeinschaft (perfektionistisch ausgerichtete Gruppen, u. a. Norweger-Bewegung).

• das gesteigerte apokalyptische Bewusstsein. Es ist verbunden mit dualistischen Strukturen bzw. einem weltbildhaften Dualismus – nicht selten mit der Überzeugung, die letzte Generation vor dem Weltuntergang zu sein. Am deutlichsten zeigt sich der Dualismus in entsprechenden, zumeist prämillenaristisch orientierten, Endzeitperspektiven (spekulatives Zukunftswissen und Weltpessimismus). Rettung und Heil werden allein der eigenen Gruppe zuteil, während die übrige Welt dem bevorstehenden Untergang anheimfällt. Je mehr sich das apokalyptische Bewusstsein verfestigt und zu einem isolierten Merkmal der Frömmigkeit wird, desto deutlicher trennt sich die Gruppe vom Hauptstrom der entsprechenden Konfession (Jehovas Zeugen, Adventbewegung).

• neue Offenbarungen durch Visionen, Auditionen, ekstatische Erlebnisse, innere Stimmen bzw. durch als Offenbarer verstandene Einzelpersonen. Neue Offenbarungen haben die Funktion, bisherige Gestalten von Religion zu überschreiten und spielen eine wichtige Rolle bei der Entstehung neuer Religionen (u. a. Mormonen).

• Sehnsucht nach Heilung. Sie ist nicht nur ein wichtiges Merkmal heutiger säkularer Religionskultur, alternativer Therapie und spiritueller Angebote, sondern auch Hintergrund der Anziehungskraft zahlreicher Religionsgemeinschaften (Pfingstbewegung, japanische Heilungsreligionen, Bruno-Gröning-Freundeskreis).

• Suche nach übersinnlichen Erkenntnissen (u. a. esoterische Gemeinschaften).

Faszination

Im Kontext pluralistischer Gesellschaften lassen sich religiöse Suchbewegungen nicht mehr auf eine einzige Formel bringen. Sie erfolgen nicht einlinig, sondern in verschiedenen, idealtypisch in mindestens zwei gegenläufigen Mustern: als Anpassung an Individualisierungsprozesse in Formen spiritueller Selbststeigerung mit einem konsumorientierten, wenig organisierten und synkretistisch geprägten Religionsvollzug (Typ A), aber auch als Protest gegen die moderne Individualisierung, als Ich-Aufgabe und Ich-Verzicht, u. a. in versekteten religiösen Extremgruppen, die radikale Hingabe an religiöse Führergestalten und genormtes Verhalten ihrer Mitglieder erwarten (Typ B). Es wird leicht übersehen, dass unsere Kultur nicht nur von Individualisierungsprozessen bestimmt ist. Einzelne, vor allem junge Menschen, sind inzwischen ausgesprochen individualitätsmüde geworden. Sie sehnen sich nach Entscheidungs- und Verantwortungsabnahme. Moderne Gesellschaften forcieren bei unterschiedlichen Menschen verschiedene Bedürfnisse. Einzelne neue religiöse Bewegungen (z. B. Rajneesh-Bewegung in ihren vielfältigen Weiterentwicklungen, Human-Potential-Bewegung, Positives Denken) und esoterische Bastelreligiosität entsprechen dem Typ A und gehen auf die Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung ein. Neureligionen wie zum Beispiel die Vereinigungskirche oder die christliche Sondergemeinschaft Jehovas Zeugen entsprechen dem Typ B. Sie gehen auf die Sehnsucht nach starker Autorität, verbindlicher Gemeinschaft und Entscheidungsabnahme ein. Der eine Typ ist freiheitlich, monistisch-entgrenzend geprägt, der andere dogmatisierend, gesetzlich, dualistisch abgrenzend. Übergänge von dem einen Typ zum anderen sind möglich. Der eine Typ ist eher weltbejahend, der andere eher weltverneinend orientiert. Der eine verleugnet menschliche Freiheit, der andere versucht sie ins Grenzenlose zu entwickeln. Der eine stellt in religiöser Hinsicht Fraglosigkeit her, der andere verzichtet auf dauerhafte Bindungen. Was fasziniert Menschen an vereinnahmenden Ausdrucksformen von Religiosität? Warum finden religiöse Gemeinschaften des Typs B eine gewisse, wenn auch begrenzte, Resonanz?

• Das Leben in einer überschaubaren Gemeinschaft, in der alle Handlungsabläufe festgelegt sind, bedeutet Entlastung für den Einzelnen. Er wird aufgefordert, eine nicht hinterfragte Autorität anzunehmen, ihm wird zugleich anfechtungsfreie Geborgenheit angeboten.

• Die antiinstitutionellen Affekte vor allem junger Menschen und der Bedeutungsschwund und Abbruch von Tradition schaffen gute Bedingungen für die Konstituierung von „charismatischer Autorität“ (Max Weber).

• Im Kontext pluralistischer Gesellschaftssysteme verstärken die Kompliziertheit und die „neue Unübersichtlichkeit“ des Lebens die Sehnsucht nach Einfachheit und Klarheit, nach Reduktion von Komplexität.

Vereinnahmende Formen von Religiosität üben ein hohes Maß an Kontrolle über ihre Mitglieder aus und schaffen ein erhebliches Maß von Abhängigkeit gegenüber der Gruppe und ihren Leitungspersonen. Das bedeutet freilich nicht, dass ein Ausstieg aus solchen Gemeinschaften unmöglich wäre. Die Zahl der Menschen, die autoritär organisierte neue religiöse Bewegungen wieder verlassen, ist relativ hoch. Das liegt u. a. daran, dass in modernen Gesellschaften kontinuierliche Lebens- und Glaubensgeschichten nicht vorausgesetzt werden können. In pluralistischen Gesellschaften ist es nicht leicht, radikale Gegenwelten über lange Zeit aufrechtzuerhalten. Die Öffentlichkeitsarbeit der Zeugen Jehovas und ihre Suche nach Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts verdeutlichen die Schwierigkeit, radikale Weltdistanz unter den Bedingungen fortschreitender Modernität in einer konsequenten Form zu praktizieren. Denn die von den Zeugen Jehovas inzwischen erlangte Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts setzt eine Dauerhaftigkeit voraus, die in der gesteigerten apokalyptischen Zukunftserwartung dieser Religionsgemeinschaft offenkundig negiert wird.

Dialog und Auseinandersetzung

Dialog und Auseinandersetzung mit Sekten setzen wechselseitigen Respekt und die für das Zusammenleben in pluralistisch geprägten Gesellschaften grundlegende Anerkennung der Religions- und Gewissensfreiheit voraus. Der „sektiererische Versuch, eine kleine religiöse Gemeinschaft zur sozialen Verkörperung des Heils zu gestalten ..., wird von Problemen der größeren Gemeinschaft in Staat und Kirche mit ausgelöst“ (Hansjörg Hemminger). In den religiösen Praktiken verschiedener Sekten spiegeln sich reale Defizite und Anliegen, die als pastorale Herausforderung anzunehmen sind und zur selbstkritischen Befragung kirchlichen Lebens Anlass geben. Zu den Aufgaben kirchlicher Verkündigung, Seelsorge und Bildungsarbeit gehört es aber auch, auf die Zweideutigkeit religiöser Bindungen und die Attraktivität geschlossener Weltbilder hinzuweisen. Wo die christliche Glaubensgewissheit bestritten wird, sind die christlichen Kirchen zur Artikulation christlicher Identität herausgefordert (Apologetik). Dazu gehört das Festhalten am trinitarischen Bekenntnis, die Orientierung an der Rechtfertigungsbotschaft, die Verbindung des christlichen Glaubens mit dem Ethos der Verantwortung und der Nächstenliebe wie auch die Betonung des Zusammenhangs von Glaube und Vernunft.

Der Begriff Sekte unterstreicht die Notwendigkeit, wertend mit religiösen Wahrheitsansprüchen umzugehen und etwas über die Nähe oder Ferne einer Christlichkeit beanspruchenden Gruppe zur ökumenischen Gemeinschaft der Kirchen auszusagen. Dieser Aufgabe müssen sich die ökumenisch verbundenen Kirchen immer wieder stellen, und sie müssen auch bereit sein, Urteilsbildungen und Verhältnisbestimmungen zu anderen Religionsgemeinschaften selbstkritisch zu hinterfragen. Der Begriff Sekte erfasst nur ein Segment heutiger Religionskultur und ist nicht geeignet, außerkirchliche Religiosität und die sich zunehmend in Westeuropa etablierende religiöse Vielfalt vollständig und hinreichend zu beschreiben und zu bewerten. Insofern bedarf dieser Begriff der Einordnung in eine umfassendere Typologie religiös-weltanschaulicher Gemeinschaftsbildungen. Aufgrund seiner vielfältigen Ausprägungen entzieht sich das Phänomen Sekte einer geschlossenen Beurteilung. Unterschiedliche Gruppen bedürfen jeweils gesonderter Wahrnehmung. Zu berücksichtigen sind auch Wandlungsprozesse religiöser Gemeinschaften und das Phänomen von Versektung und Entsektung. Eine Reihe von Gruppen, die herkömmlich als Sekten bezeichnet wurden, haben ihre Lehrbesonderheiten und die konfliktträchtigen Ausdrucksformen ihrer Frömmigkeit teils verändert, teils neu interpretiert und entradikalisiert (u. a. Adventisten, Weltweite Kirche Gottes, Kirche des Nazareners, Gemeinde Gottes [Cleveland], ebenso Gemeinde Gottes [Anderson], Pfingstbewegung) und sich weitgehend in das freikirchliche Spektrum eingeordnet.

Die in den letzten Jahrzehnten beobachtbare Popularisierung der Sektenthematik hat dazu beigetragen, öffentliches Problembewusstsein für verletzende Formen von Religiosität zu schaffen. Die Unbestimmtheit der öffentlichen Verwendung des Sektenbegriffs hat die differenzierende Wahrnehmung religiöser Gegenwelten nicht befördert. Die Enquete-Kommision „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ des Deutschen Bundestages hat in ihrem Endbericht empfohlen, in staatlichen Stellungnahmen auf den Sektenbegriff zu verzichten. Es ist begrüßenswert, wenn der wissenschaftliche Diskurs über religiöse Gegenwelten auch im europäischen Kontext verstärkt geführt wird und das Thema Sekte in sozialwissenschaftlicher, psychologischer, religionssoziologischer, religionspolitischer und religionsrechtlicher Hinsicht erforscht wird, teilweise in Anknüpfung an neutrale, soziologisch ausgerichtete Begriffsverwendungen und Typologien von Max Weber und Ernst Troeltsch.

Das Phänomen Sekte verdeutlicht das Konfliktpotential bestimmter Formen von Religion und lässt die Frage nach den Grenzen der Religionsausübung virulent werden. Die Scientology-Organisation mit ihren weitgefächerten Aktivitäten ist „ein extremes Beispiel für die Schwierigkeit, religiös-säkulare Mischphänomene im Grenzbereich zwischen Religion, Therapie, Wirtschaft und Politik einzuordnen und rechtlich zu bewerten“ (Reinhart Hummel). Es gibt gute Gründe, vom Staat Zurückhaltung in Religionsfragen zu erwarten. Das Grundgesetz hat in Artikel 4 darauf verzichtet, der Freiheit der Religionsausübung explizite Grenzen zu setzen. Die grundrechtsimmanenten Schranken sind damit jedoch nicht aufgehoben. Religionsfreiheit legitimiert nicht die Verletzung der Menschenrechte Dritter und befreit nicht von den Pflicht zur Gesetzestreue.


Reinhard Hempelmann


Literatur

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Troeltsch, E., Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912

Weber, M., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen 91988