Psychiatrie und Psychotherapie achten mehr auf Religion
Nach aktuellen Angaben des Statistischen Bundesamts haben knapp 20 Prozent der Gesamtbevölkerung Deutschlands einen Migrationshintergrund. Die Mehrheit dieser seit 1950 Zugewanderten und deren Nachkommen, nämlich 8,6 Millionen Menschen, haben einen deutschen Pass, während ca. 7,1 Millionen Ausländerinnen und Ausländer sind. Obwohl diese sehr heterogenen Bevölkerungsgruppen überdurchschnittlich häufig von Depressionen und psychosomatischen Erkrankungen betroffen sind, belegen Untersuchungen, dass ihre angemessene psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung derzeit nicht gewährleistet ist. Um hier Abhilfe zu schaffen, hat die größte psychiatrische Fachgesellschaft, die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), Mitte September 2012 das Positionspapier „Perspektiven der Migrationspsychiatrie in Deutschland“ veröffentlicht. Der Fachverband „möchte erwirken, dass die für die Versorgung verantwortlichen Träger des Gesundheitswesens in ihren Institutionen das Amt eines Migrations-/Migranten-/Integrationsbeauftragten schaffen, um dadurch wirksame und nachhaltige Verbesserungen in der Versorgung von Patienten mit Migrationshintergrund einzuleiten.“ Die Psychiater fordern insbesondere interkulturelle Kompetenzen, um angemessen mit den fremden Lebensdeutungen und Glaubenswelten der Migranten umgehen zu können. Zukünftige Integrationsbeauftragte im Gesundheitswesen benötigen weltanschauliches Wissen, Kultursensibilität und respektvolle Neugierde. Für dieses anspruchsvolle Aufgabenfeld erscheinen konfessionelle Krankenhäuser besonders geeignet, weil dort in der Regel bereits interreligiöse Kompetenzen entwickelt worden sind. Kirchliche Krankenhausträger konnten in den letzten Jahren ihren Marktanteil von etwa 35 Prozent halten, obwohl der Anteil der privaten Träger stark zugenommen hat. Auch niedergelassene Psychotherapeuten – traditionell eine sehr religionskritische Gruppe – befassen sich neuerdings intensiver mit Religiosität und Spiritualität. Wie mit unterschiedlichen Sinn- und Werteorientierungen in der Psychotherapie professionell umgegangen werden kann, darüber sei bisher zu wenig nachgedacht worden, stellt der Redaktionsbeirat des auflagenstarken „Psychotherapeutenjournals“ fest. Deshalb kommen in der aktuellen Nummer (3/2012) mit dem Schwerpunkt „Psychotherapie und Religion/Spiritualität“ Bernhard Grom und zwei Psychotherapeuten ausführlich zu Wort, um Versuche zu beschreiben und zu bilanzieren, wie religiös-spirituelle Inhalte und Methoden in eine Behandlung von psychischen Störungen einbezogen werden können. Den Themenschwerpunkt dieser Ausgabe beenden zwei renommierte Psychotherapeuten mit der überraschend versöhnlichen Aussage, dass religiöse Angebote der Seelsorge einen legitimen Ort in einer Seelenbehandlung hätten: „Ob allerdings eine in der wissenschaftlich aufklärerischen Tradition beheimatete, säkulare Psychotherapie die Aufgabe der Sinnvermittlung ‚partnerschaftlich’ mit übernehmen kann oder soll, ist sehr genau zu prüfen.“ Ein solches Angebot partnerschaftlicher Zusammenarbeit sollte sich die Seelsorge nach langen Jahren der „Funkstille“ nicht entgehen lassen!
Michael Utsch