Hansjörg Hemminger

Psychische Abhängigkeit in Extremgruppen

Abhängigkeit als vielschichtiges Geschehen

Der Begriff psychische Abhängigkeit (seelische Abhängigkeit) ist kein psychologischer Fachterminus, obwohl er sich häufig in der Literatur über sogenannte Sekten und Psychogruppen findet. Er beschreibt Erfahrungen mit Menschen, die von außen gesehen einem starken Einfluss einer Gruppe oder einer Autorität unterliegen, durch eine Analogie mit dem Phänomen der Sucht.2 Außerdem klingt der Vergleich mit sozialen, wirtschaftlichen, politischen und familiären Abhängigkeiten an, die auf Machtausübung und Manipulation beruhen. Im Unterschied zu diesen lässt sich die psychische Abhängigkeit in Extremgruppen jedoch nicht – oder nur zum Teil – durch Machtverhältnisse erklären, sodass die Ursachen der Beeinflussbarkeit in der Innenwelt der Betroffenen vermutet werden. Der Übergang zwischen dem (vielleicht positiven) Einfluss einer Autorität und der negativ zu bewertenden Abhängigkeit ist dabei ebenso fließend wie der Übergang von der Gruppenkonformität zum Gruppenzwang. Im Einzelnen kann der Begriff recht unterschiedliche Beobachtungen in verschiedenen Konstellationen umfassen:

• Distanzlosigkeit gegenüber der Gemeinschaft, Kritikunfähigkeit;
• starke Fremdbestimmung alltäglicher Lebensvollzüge – gemessen an üblichen Formen der Einflussnahme;
• finanzielle, zeitliche und sexuelle Ausbeutbarkeit;• ungewöhnliche Konformität in der Anhängerschaft – gemessen am gängigen Spektrum von Verhalten und Habitus weltanschaulicher Gemeinschaften;
• auffallende Verehrung für Autoritäten, Personenkult. Diese Wahrnehmungen sind etwas anderes als die Diagnose einer abhängigen (asthenischen) bzw. dependenten Persönlichkeitsstörung.3 Sie beruhen gerade auf dem Befremden, dass eine vorher nicht auffällig unselbstständige Persönlichkeit mit einer mehr oder weniger normalen Biografie nach der Konversion ein derart abhängiges Verhalten zeigt. Wo liegen die Gründe? Dazu ein Auszug aus einem Bericht ehemaliger Mitglieder der Neuoffenbarungsgemeinschaft „Universelles Leben“ (UL):

„Die Tage der UL-Anhänger sind randvoll, Zeit zum Nachdenken bleibt kaum. Trotzdem gerät das Ehepaar Berger irgendwann ins Grübeln ... Es werde zwar stets betont, dass die Anhänger der Glaubensgemeinschaft wahre ‚Urchristen‘ seien, nach der Bergpredigt lebten und gemeinsam am Friedensreich Jesu Christi bauten. Doch Bergers kommt es vor, als ob das für Gabriele Wittek und ihre engeren Vertrauten keine Bedeutung habe. Es gelte zwar das Motto ‚Wir sind alle gleich‘. Doch Hermann Berger hat immer öfter den Eindruck, dass es Menschen gibt, die ‚gleicher‘ sind ... die Gemeindeordnung des UL widmet sich dem Thema Geld. Dort heißt es: ‚Für das Gemeindeleben ist es nicht gut, wenn ein Glied der Gemeinde größeres finanzielles Einkommen aus der Welt hat, das er nach seinem Ermessen oder einzig für sich verwendet. Eine solche Ungleichheit fördert nicht das Gemeinschaftsleben. Das Leben der Gemeinde in Christus kann im Sinne Christi nur aktiv sein, wenn alle Glieder der Gemeinde die Prinzipien des Friedensreiches einhalten: Gleichheit, Freiheit, Einheit, Brüderlichkeit.‘

Für Sabine Berger steht zwei Jahre nach ihrem Ausstieg fest: ‚Das ist ein schönes Märchen.‘ Dieses ‚Märchen’ versperrt Fritz Englert lange Zeit den Blick auf die Wirklichkeit. Indes kommen ihm zunehmend Zweifel. Zweifel, die er nicht haben darf, denn er stellt damit das Werk Gottes in Frage. Zweifel, die sich aber nicht mehr unterdrücken lassen, denn er sieht einen ständig wachsenden Widerspruch zwischen Theorie und Praxis ... Das Leben beim UL entwickelt sich für Englert zu einem Wettlauf gegen sein Misstrauen: Ist das wirklich noch die Gemeinschaft, der er sich voller Überzeugung angeschlossen hat? Auch Gabriele Wittek bleiben die Bedenken Englerts nicht verborgen: ‚Sie sah mir schon von weitem an, ob ich wieder einen zweifelnden Gedanken hatte.‘ Beinahe täglich muss sich Englert ... rechtfertigen ... Schließlich kommt es zu einem Gespräch im größeren Kreis ... Die Wirkung eines solchen Gesprächs beschreibt ein ... Gutachten ..: ‚Offensichtlich wird beträchtlicher Gruppendruck auf die Teilnehmer ausgeübt: wenn ein Einzelner aus dem Werk wieder aussteigen möchte, was gar nicht möglich sein dürfte, ohne dass dieser mit dem Odium des Abtrünnigen behaftet ist, wird die Schuld dafür nicht nur bei dem Einzelnen, sondern bei den ,Geschwistern‘ gesucht. Auf diese Weise ist sichergestellt, dass die ,Geschwister‘ psychologischen Druck auf das Individuum ausüben, beim Werk zu bleiben, da sie sonst selbst mit punitiven [strafenden, H.H.] Konsequenzen zu rechnen hätten.‘

Drei Tage nach dem Gespräch scheint für Fritz Englert alles wie umgewandelt. Er fühlt sich besser, freier, spürt nicht mehr den kaum zu ertragenden Druck. Doch dann kommt der ‚Roll back und eine Woche später war es wie vorher‘ ... Und kurz darauf habe Gabriele Wittek mit ihrer Interpretation dem Ganzen noch eines drauf gesetzt – in dem Sinne: ‚Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit‘. ‚Damit war die Sache über die Bühne‘, urteilt Englert. Auch Sabine und Hermann Berger halten es nicht länger aus. In einem Brief schreibt Sabine Berger, ‚dass ich nicht sehen kann, dass in dieser Gemeinschaft die Prinzipien, von denen immer gesprochen wird, gelebt werden.‘ Bereits drei Wochen zuvor hat sich Hermann Berger ebenfalls schriftlich an die Bundgemeinde gewandt. Er wolle seine Kritikfähigkeit nicht am Kleiderhaken abgeben, begründet er den Ausstieg.“4

In dem Bericht werden verschiedene Seiten einer Abhängigkeit von einer sogenannten Sekte deutlich: Die Bindung an eine absolute Autorität, der man Verantwortung für sein eigenes Leben überträgt, aber ebenso die Einbindung in eine Gemeinschaft und deren strikte Hierarchie, die verbindliche Denk- und Verhaltensmuster vorgibt. Dabei definieren sich die Anhänger einer extremen Gruppe nicht selbst als abhängig, sondern als engagiert, hingegeben, verbindlich lebend oder ähnlich. Die ehemaligen UL-Mitglieder bewerten ihr Leben im „Friedensreich“ erst im Nachhinein als wesensfremd und einengend. „Psychische Abhängigkeit“ ist in diesem Sinn eine von außen bzw. im Nachhinein gemachte Feststellung, die mindestens drei Erfahrungen zusammenfasst:

• die Einbindung in eine geschlossene Gemeinschaft mit strikter Hierarchie und hohem Konformitätsdruck;
• die stark asymmetrische Beziehung zwischen Führungsgestalt und Anhängerschaft; die asymmetrische Kommunikation, die diese Beziehung auf-rechterhält;
• die innerpsychische Bindung an eine Führungsgestalt bzw. eine Gemeinschaft und deren Psychodynamik.

Innere Bindungen und auf diesen beruhende Einflussmöglichkeiten gehören allerdings (von Persönlichkeitsstörungen abgesehen) zum menschlichen Sozialverhalten, ebenso asymmetrische Beziehungen zwischen dominanten und submissiven Partnern. Was man in einer extremen Gemeinschaft beobachten kann, findet man insoweit überall. Psychische Abhängigkeit in extremen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften kann sich nur in Ausmaß und Wirkung von anderen Formen der Bindung unterscheiden. Außerdem wird eine weltanschauliche Gruppe nicht nur von „Abhängigkeitsmechanismen“ stabilisiert, sondern zuerst einmal von der Verinnerlichung und Umsetzung der Sinn- und Weltdeutungen, die von der Gemeinschaft vertreten werden. Mit anderen Worten: Die Funktion der Gemeinschaft als Sinnagentur verleiht ihr ein großes Gewicht, sowohl für die alltägliche Lebensführung als auch für die Identität und für die Lebensthemen der Anhängerschaft.Wird die Sinnhaftigkeit des Angebots von einer Führungsgestalt garantiert, kommt dieser ein ebensolches Gewicht zu. Dadurch kann die Gemeinschaft für ihre Mitglieder zu der sozialen Welt werden, die viele – wenn nicht fast alle – ihrer wichtigen Beziehungen umfasst, sodass das Verlassen der Gruppe auf einen weitgehenden Sinn- und Beziehungsverlust hinausliefe. Dass ein Mensch seinen Sinnhorizont, seine Lebensorientierung und seine Beziehungen zu erhalten sucht und nur im Fall schwerwiegender Probleme aufgibt, ist zu erwarten. In dem oben wiedergegebenen Bericht wird deutlich, dass die Ideale des Universellen Lebens ein wesentlicher Grund für den Einstieg waren und das Zerbrechen dieser Ideale ein wesentlicher Grund für den Ausstieg. Man darf also die Wirkung innerseelischer und sozialer Zwänge – so wichtig sie sind – nicht überbewerten.

Von der Gruppenkonformität zur Abhängigkeit

Wie lässt sich eine soziale Gruppe beschreiben? Gruppen haben erstens eine Funktion oder Aufgabe, zweitens ist definiert, ob eine bestimmte Person dazugehört oder nicht, und drittens haben die Mitglieder persönliche Beziehungen zueinander. Die menschliche Generalisierungs- und Abstraktionsfähigkeit macht es allerdings möglich, die Zugehörigkeit auf unbekannte Individuen auszudehnen, indem Symbole an die Stelle der persönlichen Beziehung treten. Dadurch können Gemeinschaften über natürliche Gruppengrößen hinauswachsen und trotzdem gewisse – aber nicht alle – Eigenschaften einer Gruppe beibehalten.
Durch die Verbundenheit in der Gruppe ergibt sich, allerdings in verschiedener Stärke, ein Gruppenbewusstsein, ein Wir-Gefühl, ein Zusammenhalt nach innen und außen (Gruppen-Kohäsion). Außerdem zeichnet sich eine Gruppe dadurch aus, dass ihre Mitglieder verschiedene Rollen einnehmen, die sich zum Teil durch die unterschiedlichen Persönlichkeiten und Fähigkeiten ergeben (informelle Rollen) oder die als formelle Rollen durch Satzungen und Regeln festgeschrieben sind (z. B. Vorstand eines Vereins).

Das Netz von Beziehungen bezeichnet man als Gruppenstruktur oder soziales System. Es kann für eine bestimmte Aufgabe oder Funktion notwendig und konstruktiv sein (die funktionierende Arbeitsgruppe, die funktionierende Familie). Das System kann sich aber auch einengend und zerstörerisch auf ein Mitglied auswirken. Die Manipulierbarkeit von Mitgliedern und Anhängern einer Gemeinschaft ist eine Folge der Bindung, die zum Wesen einer Gruppe gehört. Wenn die Gemeinschaft darüber hinaus die Funktion hat, dem Menschen Sinn, Geborgenheit, Glück und Heil zu vermitteln, erhält sie bzw. ihre Leitung eine Autorität, die manipulativ benutzt werden kann. In solchen Gruppen werden die Zeichen der Zusammengehörigkeit oft speziell betont. Man umarmt sich, sitzt nahe beisammen, benutzt besondere Begriffe, besondere Anreden (seien es Spitznamen oder Titel) und bestätigt sich häufig gegenseitig, während Kritik und Abweichlertum tabuisiert sind.

Dieses Verhalten, das nicht nur extreme Gemeinschaften zeigen, demonstriert die Gruppengrenzen nach außen hin, beschwichtigt aber gleichzeitig die latente Angst, nicht mehr dazuzugehören, und macht die Drohung des Ausschlusses im Fall der Nicht-Konformität (Gruppendruck) wirkungsvoller. Je exklusiver die geteilte Intimität vorher war, desto unerträglicher ist – oder zumindest erscheint – ihr Verlust. Wenn die Gemeinschaft für ihre Anhängerschaft Sinn und Wert der menschlichen Existenz garantiert, während außerhalb ihrer Grenzen Sinnlosigkeit und Verlorenheit herrschen, bildet die Trennung von ihr (solange diese Sicht ihre Plausibilität für das Individuum behält) keine mögliche Option. Außerdem gibt es konkrete finanzielle und soziale Abhängigkeiten, zum Beispiel bei der angestellten Mitarbeiterschaft einer Organisation.

Die Gruppe als Einheit sozialen Lebens ist keineswegs eine unter mehreren Möglichkeiten, Beziehungen zu gestalten. Sie ist neben der Kernfamilie (die als Primärgruppe eine besondere Art von Gruppe darstellt) die Grundform einer sozialen Gemeinschaft.5 Daher spielt sich auch das religiöse Leben hauptsächlich in Gruppen ab. Die einzige soziale Beziehungsform, die ähnlich hohe Bedeutung hat wie die Gruppe, ist die Zweierbeziehung: eine feste Freundschaft oder eine Paarbeziehung. Es gibt Hinweise darauf, dass die Fähigkeit zu solchen Bündnissen ebenso biologisch vorgegeben ist wie die Fähigkeit zum Umgang mit Familien- und Gruppenstrukturen. Die Zweierbeziehung ist nahezu die einzige soziale Beziehung, die stark genug ist, um Gruppenstrukturen außer Kraft zu setzen. Daher versuchen viele extreme Gruppen, die Bildung enger Partnerbeziehungen zu verhindern oder zu kontrollieren.6 Das Ehepaar Berger (s. den obigen Bericht) lebte auch nach dem Eintritt in das „Universelle Leben“ weiter zusammen, anstatt sich völlig in das kommunitäre Leben zu begeben. Frau Berger berichtete, dass sie Schuldgefühle hatte, weil diese Zweierbeziehung dem „geschwisterlichen“ Ideal nicht entsprach. In der Tat machte ihre intakte Ehe den Bergers später den Ausstieg leichter.

Stimmungsübertragung, Rangordnung und Verantwortung

Einige besondere Eigenschaften von Gruppen7 sind für die Entstehung psychischer Abhängigkeiten bedeutsam: Gruppen wirken emotionalisierend. Von den Mitgliedern geteilte Ängste und Sehnsüchte werden verstärkt, Stimmungen übertragen sich schnell. Dadurch können sowohl Gruppenängste als auch euphorische Stimmungslagen entstehen, denen sich einzelne Mitglieder nur schwer entziehen können. Die Gruppenbindung bringt also eine hohe Beeinflussbarkeit auf der Gefühlsebene mit sich. Dadurch sind Gruppen leicht zur gemeinsamen Aggression nach außen hin zu bewegen, unter bestimmten Bedingungen auch gegen einzelne Mitglieder, die dadurch ausgegrenzt werden. Gezielte Demütigungen sind in einer Gruppe leichter zu inszenieren als zum Beispiel in der Zweierbeziehung. Bei Psychotrainings (Landmark Forum, Avatar-Training u. a.) dient dies im Rahmen einer „schwarzen Pädagogik“ dem Abbau der bisherigen Identität und dem Aufbau einer gruppenkonformen Identität. Kollektive Aggressivität kann auch nach außen gerichtet werden und Feindbilder erzeugen. Allerdings können in der Regel nur die ranghohen Mitglieder einer Hierarchie wirksame kollektive Aggression auslösen. Das Autoritätsgefälle verhindert dann interne Kritik.

Es kommt in Gruppen immer zu (formellen oder informellen) Hierarchien. Die Rollenverteilung ist, was Autorität angeht, stets asymmetrisch – allerdings je nach der Selbstdefinition der Gruppe und der (davon abhängigen) Definition der inneren Beziehungen in unterschiedlichem Ausmaß. Die völlig egalitäre Gruppe, in der alle eng miteinander verbunden und doch gleich sind, ist eine romantische Fantasie. Herr Berger im obigen Bericht bemerkte, dass einige Mitglieder des Universellen Lebens „gleicher“ sind als andere, trotz der offiziellen Gleichheitsideologe. Eine solche Ideologie verbirgt oft besonders steile Hierarchien. Von daher sind nicht Autoritäten und Hierarchien an sich vermeidbar, aber Ausmaß und Zielrichtung des von den „Ranghöheren“ ausgeübten Einflusses lassen sich kontrollieren und einschränken. Ob es dafür gültige und wirksame formelle und informelle Regeln gibt oder nicht, unterscheidet extreme und gemäßigte Gemeinschaften voneinander.
Außerdem gibt es einen Gruppeneffekt, der „Diffusion von Verantwortung“ genannt wird. Für das, was man als Gruppenmitglied mit Unterstützung der Gruppe tut, fühlt man sich weniger verantwortlich, als wenn man eigenständig handelt. Das kann sich positiv als Ermutigung des Individuums auswirken, ebenso aber negativ als „Entmoralisierung“. Auch dieser Effekt ist umso stärker, je stärker und exklusiver die Bindung an die Gruppe ist, sodass man in krassen Fällen von einer Verführung des Einzelnen durch die Gemeinschaft sprechen kann.

Schließlich gibt es einen Gruppeneffekt, den man als „Vermeidung von Unentschlossenheit“ bezeichnen könnte. Gruppen sind weniger als Individuen zum Abwägen und nachdenklichen Zögern imstande. Die Bereitschaft zur definitiven Handlung ist hoch, da Risiken als verteilt und daher unwesentlich erlebt werden. Das kann sich positiv und negativ auswirken. Richtige Entscheidungen werden von Gruppen schneller, falsche vorschnell getroffen. Negative Auswirkungen werden dann wahrscheinlich, wenn ranghohe Gruppenmitglieder die Abneigung der Gruppe gegen Abwarten und Abwägen zur Durchsetzung ihrer Interessen und zur Unterdrückung von Kritik ausnutzen.8Wenn ein hohes Maß an Emotionalisierung, eine „steile“ Hierarchie, die Entmoralisierung des Handelns und das Delegieren von Verantwortung an die Gemeinschaft die Gruppenkultur prägen, ergibt sich allein daraus schon eine innere Abhängigkeit. Gezielte Manipulation ist dazu nicht erforderlich, kann allerdings – wie im Fall der „schwarzen Pädagogik“ – hinzukommen.

Psychischer Druck, der sich aus dem Glaubenssystem und der Praxis einer Gruppe ergibt, ist also keine „Psychotechnik“ und keine Manipulation. Zum Beispiel führt die Theologie der Zeugen Jehovas, zusammen mit der starken sozialen Kontrolle, bei vielen Mitgliedern zu Versagens- und Strafängsten. Diese wiederum steigern (in Grenzen) die Leistungsbereitschaft und erschweren eine innere Distanz zur Gemeinschaft. Die Ängste sind jedoch Teil des Frömmigkeitsstils der Zeugen und nicht operationalisiert.

In manchen esoterischen Gruppen wird dagegen gezielt davor gewarnt, dass eine Trennung vom Meister automatisch Unglück nach sich ziehen würde. Die Warnung wird durch angebliche Beispiele suggestiv bekräftigt. In diesem Fall kann man von Manipulation sprechen, denn es gibt manipulierende Täter und manipulierte Opfer, deren Situationswahrnehmung verschieden ist. Das gilt ebenso für das Auditieren in der Scientology-Organisation, falls es aus der Sicht des Auditors dem Aufdecken von „Gegenabsichten“ und der Kontrolle der „Linientreue“ dient. Eine der Gruppe inhärente soziale Kontrolle betrifft demgegenüber alle Beteiligten. Die ranghohen Mitglieder sind dann ihren Rollen ebenso verpflichtet wie das „Fußvolk“, und die Wahrnehmung der Situation deckt sich bei allen Beteiligten weitgehend. Daher sollte der Begriff Manipulation nur für geplante und organisierte Formen der psychischen Beeinflussung benutzt werden. Solche Methoden haben bei einigen Gruppen hohe Bedeutung (z. B. bei Scientology), bei anderen praktisch überhaupt keine (z. B. bei den Zeugen Jehovas). Von daher können diese Methoden nicht per se zur Erklärung von psychischer Abhängigkeit benutzt werden.

Manipulation der Welt- und Selbstwahrnehmung

In manchen Gruppen spielen veränderte Bewusstseinszustände (z. B. Tranceerlebnisse, Phantasiereisen, Visionen) beim Schaffen von Abhängigkeiten eine wichtige Rolle. Dazu ein Beispiel aus der (nicht mehr existierenden) Anhängerschaft einer Psychologin und Neuoffenbarerin:„Wie war es möglich, dass Frau Maier in diese Abhängigkeit hinein geriet? ... Im Rückblick glaubte sie, in Heide Fittkau-Garthe eine gütige Mutter gesucht und dann auch gefunden zu haben. Sie bekam das Gefühl in den Seminaren, etwas Besonderes zu sein, einen Auftrag bekommen zu haben, um Großes verrichten zu kön-nen ... Heide habe mitgeteilt, die jetzige Verstrickung der Welt sei dadurch entstanden, dass Führerpersönlichkeiten in ihren Beziehungen zueinander versagt hätten. Sie als Göttin und die mitwissenden Gruppenanhänger hätten nun die Aufgabe, das Weltenkarma zu verbessern, indem sie missglückte Beziehungsgeschichten der großen Menschen in der Vergangenheit nochmals durchleben und besser bewältigen, um damit das Welten-Karma zu reinigen ... durch entsprechende suggestive themenzentrierte Vorgabe wurden bei den Mitgliedern im Sinne einer katathymen Tagtraumtechnik innere Bilder und Szenen produziert, gleichsam induziert, die dann als Bestätigung von Seiten der Meditierenden gewertet wurden im Sinne von Evidenzerfahrungen.

Diese inneren Bilder wurden als Beweis dafür gewertet, dass Frau Fittkau-Garthe ‚göttliche‘ Kräfte und Fähigkeiten aufweist. Es kam bei den Betroffenen zu einer narzisstischen Aufblähung ihres Größenselbst, das zu Überlegenheitsgefühlen gegenüber anderen führte und sie an die Gruppe und an Frau Fittkau-Garthe mehr und mehr band.“9 Meditationserlebnisse werden von vielen esoterischen Gemeinschaften und Guru-Gruppen (oft gegen deren traditionellen Sinn) als angebliche Beweise für die grandiose Rolle der Gruppe und für die Autorität der Führungsgestalten benutzt. Die Erlebnisse bei verändertem Bewusstsein werden von den Mitgliedern als authentische Erfahrungen gewertet, obwohl sie in hohem Maß durch die Gemeinschaft, die Anleitung und die Gruppenerwartung vorgeformt sind. In dem Bericht wird aber auch die wichtige Beobachtung formuliert, dass Abhängigkeit keinesfalls persönliche Entwertung bedeutet, jedenfalls nicht aus subjektiver Sicht. Vielmehr wird Frau Maier durch die Bindung an die Meisterin eine grandiose Rolle und ein unermesslicher Wert zugesprochen. Durch diese Bindung wehrt das Mitglied nicht nur seine Ängste ab, sondern sichert sich einen – allerdings externen – Selbstwert und Lebenssinn. Die Gruppenkohäsion ist stark, die gegenseitige Verantwortung hoch entwickelt; wer dazugehört, hat keine Vereinsamung zu befürchten.

Jedoch kommt es dadurch auch zur Entfremdung von den eigenen Ideen, Wahrnehmungen und Gefühlen zugunsten der Gruppeneinflüsse. Wenn die religiöse Gemeinschaft oder ihre Leitfigur idealisiert werden, geht das Gleichgewicht von Selbstbewusstsein und Gemeinschaftsbewusstsein verloren. Negative Gefühle können nicht der idealen Gemeinschaft zugeschrieben werden. Man muss die Ursachen bei sich selbst suchen. Dieser Mechanismus wird von vielen Extremgruppen ausgenutzt, um Gruppendruck zu erzeugen.Die andere Möglichkeit ist, die Ursachen aller Übel bei äußeren Feinden zu suchen – seien es geistige Mächte, Dämonen und Teufel, seien es Kritiker, Polizei, Gerichte usw. Wenn eine Gruppe die Selbstidealisierung zu weit treibt, wird die Projektion negativer Befindlichkeit nach außen unvermeidlich. Anders ist die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit nicht mehr aufzufangen. Dafür sind bzw. waren leider alle bisher genannten Gemeinschaften Beispiele (Universelles Leben, Scientology, Gruppe um Heide Fittkau-Garthe, Jehovas Zeugen). Für die Verdrängung der Konflikte und Aggressionen in der Gruppe bezahlt man mit Ängsten und Aggressionen gegenüber der Außenwelt und mit dem Verlust eigener Entwicklungsmöglichkeiten.

Ein anderer Zugang: Dogmatismus und Rigorismus

Bernhard Grom10 beschreibt die innere Dynamik extremer Gruppen mit dem psychologischen Begriff „Dogmatismus“. Nach der klassischen Theorie von Milton Rokeach aus den 1960er Jahren wird der Dogmatismus von geschlossenen Überzeugungssystemen anstatt von offenen geprägt. „Der dogmatisch Denkende übersehe die Gemeinsamkeit zwischen seiner Ansicht und der Meinung der Andersdenkenden, vereinfache Überzeugungen, die er ablehnt, beurteile Menschen, die sie vertreten, mit intoleranter Verachtung, beharre in Diskussionen hartnäckig auf der eigenen Meinung, richte sich nach der Ansicht von Autoritäten, die er absolut setzt usw.“11 Nach Rokeach besteht ein Zusammenhang zwischen innerseelischen Ängsten und Dogmatismus.

Dieser Zusammenhang hat sich in späteren Forschungen grundsätzlich bestätigt. Allerdings lässt die Theorie offen, welche Ängste es sind, die zum Dogmatismus führen. Dazu stellt Bernhard Grom fest, dass es sich um sehr unterschiedliche psychische Konstellationen handeln kann. Wie wird Dogmatismus zum Merkmal einer Gruppe oder Gemeinschaft? Grom geht bei seiner Antwort vom Konzept der Intensivgruppe12 aus. In Intensivgruppen richtet sich das Leben in besonderer Weise an religiösen Vorgaben oder an einer weltanschaulichen Autorität aus. Sie wollen intensivere Erfahrungen vermitteln und das Leben stärker nach festen Regeln gestalten, als dies in der jeweiligen Tradition üblich ist. Dabei stellen Intensivgruppen keineswegs immer eine Gefährdung dar; sie können psychische Schwächen auch auffangen. Aber ihre Intensität kann durch die (nach Max Weber unausweichliche) „Veralltäglichung des Charismas“ zu einem Rigorismus führen, der den Boden für eine Abhängigkeit der Mitglieder bereitet. Arnold Pfeiffer spricht vom Rigorismus deshalb im Sinn der Religionspsychologie und -soziologie (nicht im philosophischen Sinn) als von einem „starr gewordenen Enthusiasmus“13.

Den Hintergrund dieses Vorgangs beschreibt Max Weber in seiner klassischen Betrachtung charismatischer Herrschaft wie folgt: „In ihrer genuinen Form ist die charismatische Herrschaft spezifisch außeralltäglichen Charakters und stellt eine streng persönlich, an die Charisma-Geltung persönlicher Qualitäten und deren Bewährung, geknüpfte soziale Beziehung dar. Bleibt diese nun aber nicht rein ephemer, sondern nimmt sie den Charakter einer Dauerbeziehung – ‚Gemeinde’ von Glaubensgenossen oder Kriegern oder Jüngern, oder: Parteiverband, oder politischer, oder hierokratischer Verband – an, so muss die charismatische Herrschaft, die sozusagen nur in statu nascendi in idealtypischer Reinheit bestand, ihren Charakter wesentlich ändern: sie wird traditionalisiert oder rationalisiert (legalisiert) oder: beides in verschiedenen Hinsichten ... Die Art, wie sie gelöst wird – wenn sie gelöst wird und also: die charismatische Gemeinde fortbesteht (oder: nun erst entsteht) – ist sehr wesentlich bestimmend für die Gesamtnatur der nun entstehenden sozialen Beziehungen.“14 Eine der möglichen „Lösungen“ im Sinn Max Webers besteht darin, dass die Gemeinschaft versucht, ihr starkes religiöses Erleben, ihre moralische Reinheit, ihren besonderen Auftrag usw. durch strikte Maßnahmen und enge, starre Normen (Traditionalisierung) sowie durch ein extremes Lehrgebäude (Rationalisierung) zu sichern.

Diese „Lösung“ ist nur möglich, wenn die Gemeinschaft geschlossener und konformer wird. Im Ergebnis bestimmt die Gruppenkultur alle Lebensbereiche einschließlich der politischen, familiären, beruflichen und moralischen Orientierung. Das Gegenbeispiel für eine solche Exklusivität bilden die gegenwärtigen Großkirchen, deren Identität derzeit verschwimmt, deren gesellschaftliche Erkennbarkeit geringer wird und deren Einflussmöglichkeiten auf die Mitglieder dadurch beschränkt sind. Die Last, sich selbst als evangelischer oder katholischer Christ zu definieren, geht damit von der Gemeinschaft auf die Individuen über. Die rigorose Gemeinschaft entlastet dagegen von den Schwierigkeiten des Subjektseins, indem sie selbst zum eigentlichen Subjekt des Glaubens bzw. der Weltanschauung wird. Allerdings darf nicht vorschnell geschlossen werden, dass alle Mitglieder einer rigorosen Gemeinschaft dogmatischer wären als alle Mitglieder einer offenen Gruppierung. Vielmehr muss man zwischen dem rigorosen (oder offenen) sozialen System und dem individuellen Befinden unterscheiden. Ein Mitglied der evangelischen Landeskirche kann von der Persönlichkeit her hochgradig dogmatisch sein und entsprechende Konflikte produzieren. Ein Mitglied einer exklusiven Guru-Gruppe mit monastischen Lebensregeln mag relativ reibungsfrei in dem rigorosen System leben und mit der Außenwelt zurechtkommen. Die Persönlichkeit ist zwar nicht unabhängig vom sozialen System, sondern interagiert mit ihm, aber seine Eigendynamik wirkt sich dabei unterschiedlich aus. Die dogmatischsten (oder fanatischsten) Individuen findet man gehäuft nicht in stabilen Gruppierungen, sondern als Einzelgänger, zum Beispiel als fundamentalistische Schulverweigerer oder als Verschwörungstheoretiker, die psychisch von niemandem abhängig sind außer von sich selbst.

Das folgende Beispiel zeigt, wie das rigorose Feindbild einer glaubenslosen, gottwidrigen Außenwelt von den Zeugen Jehovas plausibel gemacht wird. „Wäre es für einen Christen ratsam, in einer Kirche einer Beisetzungsfeierlichkeit oder einer Trauung beizuwohnen? Jede Beteiligung an falscher Religion missfällt Jehova und muss vermieden werden (2. Korinther 6:14-17; Offenbarung 18:4). Eine kirchliche Bestattungsfeier ist ein sogenannter Gottesdienst, bei dem in einer Predigt unbiblische Lehren und Vorstellungen vertreten werden wie die von der Unsterblichkeit der Seele und dem Leben im Himmel als Lohn für alle guten Menschen ... Vielleicht wird eine christliche Ehefrau von ihrem ungläubigen Mann gedrängt, ihn zu einem solchen Anlass zu begleiten ... Vielleicht beschließt sie aus Rücksicht ihm gegenüber, mitzugehen, fest entschlossen, sich an keiner religiösen Handlung zu beteiligen. Sie könnte sich auch dazu entschließen, nicht mitzugehen, weil sie befürchtet, sie werde womöglich dem gefühlsmäßigen Druck nachgeben und in Bezug auf göttliche Grundsätze Zugeständnisse machen. Wofür sie sich entscheidet, ist ihr überlassen ... Nicht übersehen darf man allerdings, wie es Mitgläubige berühren könnte, wenn wir einem so genannten Gottesdienst in einem religiösen Gebäude beiwohnen. Könnte dadurch das Gewissen einiger verletzt werden? Könnten sie in ihrer Entschlossenheit geschwächt werden, sich an keiner götzendienerischen Handlung zu beteiligen? ... Ein Christ muss hierbei alles, was dabei eine Rolle spielt, sorgfältig abwägen.“15Was auch immer die fiktive Zeugin tun wird, sie wird es unter Ängsten tun. Und die Ängste wiederum machen sie manipulierbar.

Die asymmetrische Beziehung: Helfer und Klient, Meister und Schüler

In vielen extremen Gemeinschaften (nicht in allen) bedeutet die Identifikation mit der „Intensivgruppe“ auch die Identifikation mit einer zentralen Führungsperson. Diese Abhängigkeit existiert manchmal auch ohne besondere Gruppenkohäsion und sollte deshalb gesondert betrachtet werden. Ihr Ausgangspunkt ist die (unvermeidliche) asymmetrische Beziehung zwischen Leitern und Anhängern. Letztere lernen von der Gruppe und ihren Zentralfiguren, Erstere lehren. Letztere suchen Hilfe, Erstere bieten Hilfe an. Dabei legt der Anhänger nicht selten Einzelheiten intimer Art über sein Innenleben und sein Beziehungsnetz offen und macht damit ein Einwirken möglich, macht sich aber auch verletzlich. Der Helfer oder Meister tut dies seinerseits nicht. Er greift in die Lebensvollzüge des Anhängers ein, nicht umgekehrt.

Der obige Bericht über die Pseudo-Therapie bei Heide Fittkau-Garthe illustriert, wie weit diese Eingriffe gehen können. Die Anhängerin schreibt dem Meister oder Lehrer wohlwollende Autorität zu: Wohlwollen, weil sie positive Zuwendung und nicht selten Liebe erwartet, Autorität, weil sie beim Gegenüber Fähigkeiten oder Wissen voraussetzt, die sie nicht selbst hat. Wie das im Einzelfall aussieht, hängt von vorgegebenen Rollenmustern ab. In christlichen Extremgruppen nimmt ein Meister oder ein „apostolischer Leiter“ zum Beispiel häufig die priesterliche Rolle des Mittlers zwischen Gott und Mensch ein. Man könnte annehmen, dass säkular lebende Menschen dazu keinen Zugang haben, aber das trifft nicht zu. Ohne es in einer areligiösen Sprachwelt formulieren zu können, sucht man einen durch Priestertum vermittelten Zugang zum Ewigen oder Göttlichen. Das priesterliche Amt legitimiert dann die Asymmetrie der Beziehung. Weiterhin gibt es die Rolle des berufenen und begnadeten Meisters, dessen Autorität weder auf fachlichem Können noch auf einem Amt beruht, sondern auf seinem wesenhaften Anderssein.

Der Begnadete vermittelt nicht nur den Kontakt zu überweltlichen Kräften und Mächten, er ist selbst eine solche Macht. Esoterische und neuhinduistische Führungsgestalten wie Gabriele Wittek und Heide Fittkau-Garthe nehmen diese Rolle für sich in Anspruch. Es gibt sie aber auch im säkularen Gewand: das Jahrhundert-Genie, der Ausnahme-Wissenschaftler, der Entdecker großer Wahrheiten. Der Gründer der Scientology-Organisation, L. Ron Hubbard, ist ein Beispiel dafür. Eine derart asymmetrische Beziehung ist immer missbrauchbar, nicht nur im Gruppenkontext, sondern auch in Zweierbeziehungen, nicht nur in Weltanschauungsgemeinschaften, auch z. B. in Therapien. Sie erfordert deshalb externe Kontrolle. Wo diese fehlt, wird Abhängigkeit möglich. Eine Voraussetzung ist, wie oben skizziert, der exklusive Anspruch des Meisters und seiner Gemeinschaft. Psychisch wirksam wird dieser durch die inneren Zuschreibungen der Anhänger. Die Asymmetrie der Beziehung lebt (anders als bei politischer, wirtschaftlicher oder sozialer Abhängigkeit) von Projektionen und Fantasien. Die Meistergestalten verkörpern in der Innenwelt der Anhängerschaft die Macht über das eigene Leben, die man selbst nicht hat; sie verkörpern das liebende Gegenüber, das es im Alltag nicht gibt. In vieler Hinsicht spiegeln diese Projektionen menschliche und religiöse Grundbedürfnisse wider.Abgesehen davon gehören asymmetrische Beziehungen zu Lehrern und Helfern aber auch zur normalen Sozialisation.

Allerdings beziehen diese ihre Autorität gerade nicht aus Fantasien, sie sind üblicherweise gesellschaftlich beauftragte und bezahlte Experten. Helfer sind entsprechend Leute, die eine Expertenpraxis betreiben. Diese gesellschaftlich etablierten Rollen können psychische Abhängigkeit begünstigen. Zum Beispiel erzeugt die Experten-Autorität tendenziell Passivität beim „Kunden“. Eigenverantwortung wird abgegeben und nicht übernommen. Jeder Seelsorger kennt den Vorgang, dass ihm ein persönliches Problem präsentiert wird, was den Klienten viel Überwindung kosten mag. Aber damit hat dieser seinen Teil erbracht, er lehnt sich zurück und wartet, dass der Experte das Problem für ihn löst.Damit kann ein unrealistisches Machbarkeitsdenken verbunden sein, denn die Lösungsmöglichkeiten der Experten-Technik sind (so eine verbreitete Illusion) tendenziell unbegrenzt. Seriöses Helfen bedeutet deshalb, solchen Engführungen entgegenzuwirken, realistische Erwartungen an die Stelle des Machbarkeitsglaubens zu setzen und die Eigenverantwortung zu stärken. Ebenso bedeutet seriöses Unterrichten, vom Bild eines Nürnberger Trichters wegzukommen, mit dem der Experte Wissen in den Lernenden einfüllt, um ihm zur Selbstständigkeit zu verhelfen.

Die Rolle des neuzeitlichen Experten hat aber auch Vorzüge: Zu ihr gehört einmal die Begrenzung der Zuständigkeit auf den Auftrag, auf die Problemlage bzw. auf das Erreichen eines vorher bestimmten Ziels. Extremgruppen und ihre Meister sind tendenziell allzuständig, die Fachperson ist es nicht. Die Überlegenheit des Experten ist auf Fachfragen beschränkt. Das wird oft als ein Verlust an Ganzheitlichkeit beklagt. Esoterik-Gurus ebenso wie spirituell orientierte Heilpraktiker werben daher mit ihrem „ganzheitlichen“ Vorgehen. In der Tat bedeuten Spezialisierung und Funktionalisierung nicht nur Gewinn, sondern auch Verlust. Aber der Preis des „ganzheitlichen“ Lehrens und Helfens kann sehr hoch werden. Denn wer für das Ganze zuständig ist, kann Einblick in das ganze Leben des Klienten und im schlimmsten Fall Zugriff darauf verlangen.

Von daher lässt sich analysieren, auf welchen Wegen psychische Abhängigkeit von einer „Überperson“ aus gängigen asymmetrischen Beziehungen entstehen kann:

• Fachliche Standards (Theologie, Psychologie, Medizin usw.) werden außer Kraft gesetzt, indem man sie zu trockenem Formalwissen erklärt, über das der Meister hinausgewachsen sei, der „Ganzheitlichkeit“ beansprucht. Die äußeren Abzeichen des Expertentums können dennoch vorgezeigt werden: Titel und Referenzen, akademische Publikationen usw. Erstaunlicherweise ist es möglich, gleichzeitig zu behaupten, nach den geltenden Standards ein hervorragender Experte zu sein, und über diesen Standards zu stehen.
• Die Übertragung von Eigenverantwortung auf den Lehrer oder Helfer wird gefördert, anstatt sie zu verhindern. Zum Beispiel wird die Hilflosigkeit des Anhängers seinem Problem gegenüber betont und mit dem (angeblich) glänzenden Zustand des Meisters verglichen. „Was ich bin, kannst du werden – allerdings nur, wenn du dich mir anvertraust.“ Das zur Lehrer- und Helferbeziehung gehörige Wohlwollen wird zu einer umfassenden Bejahung und zu einer Liebesbeziehung erweitert. Der Meister erkennt und die Gruppe demonstriert, dass der Anhänger ein viel wertvollerer Mensch ist, als er selbst weiß. Er sichert sich diesen externen Selbstwert, indem er sich vorbehaltlos dem Meister und der Gemeinschaft anvertraut.
• Die Zuständigkeit des Meisters wird zu einer Allzuständigkeit erweitert. Ein Schritt dazu ist, wenn man Grenzüberschreitungen toleriert, die häufig gezielt versucht werden. Der Meister dringt zum Beispiel in die Intimsphäre ein, er schafft eine unübliche persönliche Nähe, kümmert sich um private Lebensbereiche usw. Sich dagegen nicht abzugrenzen, ist gleichbedeutend mit Regression. Der Meister oder die Gruppe wissen dann, was eigentlich mit dem Anhänger los ist, was er eigentlich braucht und will. Er ist nicht mehr der beste Experte für sein eigenes Befinden, für seine Wünsche und Ziele.
• Die Autorität des Meisters wird verschleiert, die steile Rangordnung in der Gruppe wird oft völlig gegen den Augenschein geleugnet. Damit immunisieren sich der Meister und hochrangige Gruppenmitglieder gegen Kritik. Da alle in der Gruppe „gleich“ sind, ist der Anhänger angeblich völlig frei und für sich selbst verantwortlich, so abhängig er auch wirken (und sich gelegentlich fühlen) mag.• Die vorherige Lebenswelt des Mitglieds wird abgewertet, die neue Welt der Gemeinschaft glorifiziert. Die bisherigen Bezugspersonen werden als hinderlich oder schädlich dargestellt – außer sie fügen sich ebenfalls der neuen Autorität. Die bisherigen Lebensleistungen sind unbedeutend demgegenüber, was sein könnte.

Da die „alte“ Lebenswelt konkret ist, mit allen Ecken und Kanten realer Verhältnisse, und das Neue weitgehend Fantasie, ist es leicht, das Alte unvorteilhaft mit dem Neuen zu kontrastieren. Der Anhänger bemerkt oft nicht, dass mit der Abwertung seiner bisherigen Bezugspersonen auch seine eigene Identität abgewertet wird. Er wird in seinem Wertesystem und seiner Lebensorientierung verunsichert, vielleicht sogar verwirrt, und ist dadurch leichter zu manipulieren.Durch den umfassenden Anspruch des Meisters bzw. seiner Gemeinschaft entsteht eine Entscheidungssituation, oft ohne dass diese reflektiert würde. Man muss sich für oder gegen die beanspruchte Autorität entscheiden, für oder gegen die von der Gruppe geforderte Intimität. Eine mittlere Distanz wie in sonstigen Beziehungen ist nicht mehr möglich; selbst verantwortete und von der Gemeinschaft lediglich geförderte Entwicklungen (self-efficacy) sind blockiert. Möglich sind der Extremgruppe gegenüber nur Reaktanz (Abgrenzung, Abwehr) oder Submission (Einfügung, Unterordnung). Letztere öffnet dem Missbrauch Tür und Tor und führt zu psychischer Abhängigkeit.

Zusammenfassung

„Psychische Abhängigkeit“ von Extremgruppen lässt sich als soziale und innerseelische Bindung an eine Gemeinschaft und eine Autorität verstehen, die durch ihre exklusive Selbstdefinition als Sinn- und Werteinstanz und durch die Konkretisierung dieses Selbstverständnisses in hierarchischen Machtstrukturen ein hohes Maß an Sozialkontrolle ausüben, ein hohes Maß an Gegnerschaft gegenüber der Umwelt erzeugen und hohe Investitionen an Zeit, Geld und Dienstleistungen von den Mitgliedern fordern. Der Verlust dieser Gemeinschaft und dieser Autorität stellt für die Anhängerschaft eine existenzielle Bedrohung dar, die man durch eine bis zum Äußersten gehende innere und äußere Anpassung vermeidet.


Hansjörg Hemminger, Stuttgart


Anmerkungen

1 Es handelt sich bei diesem Beitrag um die erweiterte Fassung eines Vortrags, der im Rahmen der 3. Kurswoche des EZW-Curriculums „Religions- und Weltanschauungsfragen“ (berufsbegleitende Fortbildung für Pfarrerinnen und Pfarrer) am 8. Februar 2010 in Berlin gehalten wurde.

2 Der medizinische und psychologische Fachbegriff „Abhängigkeitssyndrom“ umfasst die körperlichen, seelischen und sozialen Merkmale, die durch den Missbrauch psychotroper Substanzen entstehen.

3 Das Diagnose-Handbuch der „World Health Organization” ICD-10 führt die Störung (dependent personality disorder) unter F60.7 auf. Zu beachten ist, dass sie die allgemeinen Diagnosekriterien für eine Persönlichkeitsstörung erfüllen muss. Trotz der Ähnlichkeit mit einzelnen Verhaltensweisen ist das bei Mitgliedern einer extremen Gemeinschaft, die sich selbst im Nachhinein als abhängig charakterisieren, meist nicht der Fall. Zum Beispiel ist eine Persönlichkeitsstörung chronisch und zeigt sich bereits in Kindheit und Jugend.

4 Aufbruch in die Freiheit – Das Universelle Leben und seine Aussteiger, in: Würzburger katholisches Sonntagsblatt, Kirchenzeitung der Diözese Würzburg, Nr. 6 vom 7.2.1999 (Personennamen geändert).

5 Dieser Sachverhalt leitet sich aus der Verhaltensbiologie des Menschen ab und macht frühere psychologische und soziologische Theorien der Gruppenanziehung und -bildung überflüssig, zum Beispiel die Feldtheorie nach Lewin. Auch Begriffe wie „Gesellungstrieb“ sind damit überholt.

6 Vermutlich geht die Sexualfeindlichkeit vieler Extremgruppen nicht nur auf eine rigorose Sexualmoral zurück, sondern darauf, dass die Gemeinschaft die soziale Sprengkraft der Sexualität fürchtet.

7 Es wird im folgenden Text nicht berücksichtigt, dass sich Kleingruppen bis ca. zwölf Personen in einigen wesentlichen Merkmalen von großen Gruppen unterscheiden.

8 Damit sind nur einige wenige Eigenschaften von Gruppen genannt. Zum Beispiel sind alle Eigenschaften, die mit der Leistungsfähigkeit der Menschen im Beruf oder beim Lernen zu tun haben, nicht berücksichtigt.

9 Gunther Klosinski, Vom Missbrauch imaginativer Psychotherapie-Techniken in Psychokulten – von der Evidenzerfahrung, „world-saviour“ zu sein, http://griess.st1.at/gsk/fecris/deutsch%20Klosinski.htm  (30.12.2010).

10 Bernhard Grom, Religionspsychologie, München 1992.

11 Ebd., 383.

12 Nicht zu verwechseln mit der therapeutischen oder pädagogischen Intensivgruppe.

13 Arnold Pfeiffer, zitiert in Reinhard Gaede, Das religionskritische Erbe des religiösen Sozialismus, in: Christ und Sozialismus 1/2000.

14 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft – Grundriss der verstehenden Soziologie (1922), § 11: Die Veralltäglichung des Charisma durch Traditionalisierung und Rationalisierung zum Zwecke der Designation von Nachfolgern.

15 Der Wachtturm vom 15.5.2002.