Angelika Koller / Michael Utsch

Psychotherapie des Bewusstseins

Ein Kongress der Akademie Heiligenfeld

Anfang Juni 2005 veranstaltete die in Bad Kissingen ansässige „Akademie Heiligenfeld“ ebendort zum dritten Mal einen Kongress, diesmal über „Psychotherapie des Bewusstseins – Spirituelle und transpersonale Dimensionen der Psychotherapie“. Die Veranstalter wollten erneut das breite Spektrum der Transpersonalen Psychologie und Psychotherapie (TP) darstellen und deren Vertreter miteinander ins Gespräch bringen. Die zwanzig Vorträge hielten meist Psychologen und Psychotherapeuten (Bosch, Brunnhuber, Büntig, Emrich, Dorothea und Joachim Galuska, Peciccia, Peseschkian, van Quekelberghe, Riedel, Bettina Schroeter, Michael Schröter-Kunhardt, Gabrielle St. Clair, Stauss, Walach, Walch), aber auch andere kamen zu Wort, wie Andrew Cohen (Herausgeber der Zeitschrift „What Is Enlightenment?“), der Kommunikations-Wissenschaftler Eurich, der Sozialwissenschaftler Orlinsky und der Physiker und Parapsychologe von Lucadou. Darüber hinaus wurden vierzig Nachmittagsseminare mit Workshopcharakter angeboten. Bereits während des Kongresses waren zahlreiche Vorträge auf Kassette, CD, DVD oder Video erhältlich. Im Herbst sollen wichtige Beiträge in Buchform erscheinen.

Neben knapp 800 angemeldeten Besuchern versammelten sich noch gut 200 Tagesgäste. Im Publikum fanden sich Mediziner, Therapeuten, Lehrer oder Patienten, die von ihren Therapeuten auf den Kongress geschickt worden waren oder die dort einem bestimmten Therapeuten begegnen wollten. Ein hoher Anteil jüngerer Leute fiel auf.

In vielen Veranstaltungen wurde der „Szientismus“ beklagt und Alternativen eingefordert. Bereits im Eröffnungsvortrag berührte Joachim Galuska, der Direktor des expandierenden Heiligenfeld-Projektes, die Problematik einer wissenschaftlichen Psychologie, die nur vom psychischen Apparat ausgehe und die Seele als irrational und unpräzise abtue. Er forderte Methodenvielfalt und einen Perspektivenwechsel, wie ihn Ken Wilber – eines der Vorbilder der TP – mit seinen integralen Ansätzen versuche. Auch müssten Philosophie, Religion, Ethnomedizin, Kunst und Poesie in Psychotherapie und Wissenschaft berücksichtigt werden, um dem vieldimensionalen Wesen des Menschen gerecht werden zu können.

Der renommierte Psychotherapieforscher David Orlinsky von der Universität in Chicago bedauerte, dass „die meisten naturalistischen oder wissenschaftlich-klinischen Theorien“ die spirituelle Dimension vernachlässigten. Sein Vortrag „Die Spiritualität von Psychotherapeuten“ informierte über eine Umfrage unter 2000 Praktikern in den USA, Kanada, Großbritannien und Neuseeland: 20 Prozent der Therapeuten vertraten eine „säkulare Moralität“, 9 Prozent eine „traditionelle Religiosität“, 51 Prozent eine „persönliche Spiritualität“ und 20 Prozent eine „spirituelle Religiosität“. Mit Max Weber verwies er auf die gesellschaftliche Bedeutung kreativer Menschen, Propheten und Charismatiker und die deutliche Verschiebung von institutioneller Religiosität hin zu individueller Spiritualität.

Ergänzt wurde Orlinsky durch aktuelle empirische Befunde des Freiburgers Harald Walach, der über „Spiritualität in Wissenschaft und Psychotherapie“ referierte. Mit dem Hinweis, 93 Prozent der Mitglieder der amerikanischen National Academic Society glaubten nicht an Gott, unter den 7 Prozent Gläubigen fänden sich überwiegend Mathematiker und Physiker, jedoch kaum Psychologen, illustrierte Walach eine Zwei-Kulturen-These. Der „rationalen Wissenschaft“, die oft als Ersatzreligion fungiere, stellte er die „religiöse Kultur“ gegenüber, die transrational und inneren Erfahrungen verpflichtet sei. Diese laufe Gefahr, lediglich eine „Krücke für Unsichere“ zu werden. Walach hoffte mit Skepsis auf eine „Überbrückung der Spaltung“, die mehr umfasse als eine „Gegenkultur“ (wie man sie gerade in den Heiligenfelder Institutionen erfahren kann). Als Lichtstreifen am Horizont erschienen ihm neuere Ansätze wie die Aufmerksamkeit für Achtsamkeitsschulungen, aber auch die Resultate einer Umfrage unter 900 Therapeuten, von denen 38 Prozent der Spiritualität eine große Bedeutung beimaßen, 37 Prozent eigene spirituelle Erfahrungen angaben und 10 Prozent mit der Hälfte ihrer Patienten über Spirituelles sprachen. Andererseits verwies Walach auf die Dominanz der areligiösen globalen Großmächte „Hollywood und Ökonomie“.

Mit Beispielen aus seiner langjährigen therapeutischen Praxis veranschaulichte Konrad Stauss in seinem Vortrag die Notwendigkeit, Spiritualität in die therapeutische Praxis zu integrieren. Der Begründer und ehemalige Leiter der Klinik in Bad Grönenbach verwies auf eine Depressionsstudie, wonach persönlicher Glaube und positive Spiritualität am besten vor einem Rückfall in falsche Denkmuster schützen. Es sei heute eine wichtige Aufgabe der Therapie, die spirituellen Ressourcen eines Patienten zu entdecken und zu fördern. Psychische Störungen können zum „Herzblut des Lebens“ werden, wenn verstanden werde, dass sich darin transpersonale Grundbedürfnisse wie Bezogenheit zum Absoluten oder Suche nach Sinn artikulierten. Ein transpersonaler Therapeut könne aber nur ein Fenster öffnen und müsse sich davor hüten, diese Sehnsucht mit religiösen Inhalten zu füllen. Die Psychologie dürfe keine metaphysischen Dogmen verbreiten. Nur die Theologie wisse, wohin sich der Mensch transzendiere.

Der Dortmunder Claus Eurich, Professor am Institut für Journalistik, bezichtigte im Referat „Mystik und Erkenntnis“ den Szientismus, andere Entwicklungen zu blockieren. Er plädierte für den Fortschritt der Erkenntnis mit anderen Mitteln als dem rationalen Denken: Unverzichtbar seien die Schulung im sinnlichen Zugang, in Empathie, mystischer Kontemplation, „heiliger Weisheit“, schweigender „Resonanz der Seele mit der Weltseele“ und die Integration von Liebe, Ästhetik oder Trauer.

Die Forderung nach Alternativen wurde in mannigfaltige Anregungen zur Selbstreflexion und Besinnung umgesetzt:

• Die Kongressleitung verteilte anfangs bunte Blätter, auf die jeder Antworten auf die Fragen „Welches Anliegen habe ich? Was wünsche ich dem Kongress? Welche Botschaft soll von diesem Kongress ausgehen?“ schreiben sollte. Diese Blätter wurden im Foyer wie tibetische Gebetsfähnchen ausgehängt.

• Joachim Galuska interpretierte Rainer Maria Rilkes Gedicht „Siehe, ich wusste, es sind / solche, die nie den gemeinsamen Gang / lernten ...“ im Sinne einer positiven Unangepasstheit, Bereitschaft zur Rebellion und „Liebe zum Leben“ in der TP. Es gab täglich weitere Rilke-Rezitationen als spirituelle Impulse für das Publikum.

• Die Besucher hatten jeden Morgen die Möglichkeit, im „Raum der Stille“ unter Anleitung zu meditieren – was tagsüber eine oft fröhliche Wissenschaft und abends Konzerte und Tanz ergänzten.

Eine der Meditationen leitete Andrew Cohen. Da er zudem den ersten Plenumsvortrag hielt („Evolutionäre Erleuchtung – Spiritualität im 21. Jahrhundert“) und sich für sein Seminar 130 Personen eingetragen hatten, avancierte er zu einer der Hauptfiguren des Kongresses. Galuska wies darauf hin, dass die Akademie Heiligenfeld gefragt worden sei, warum man den wegen seiner Guru-Methoden umstrittenen Amerikaner (vgl. MD 1/2005, 12ff) eingeladen habe. Er sprach von „Anfeindungen gegen Cohen“ und stellte sich demonstrativ hinter diesen.

Cohen bezeichnete seine Generation als „Babyboomer“. Wohlstand, Bildung und Freiheit machten sie zur glücklichsten der Geschichte. Sie bestünde bei näherem Hinsehen aber aus unglücklichen, genussunfähigen Egozentrikern, denen wegen ihrer „Individuation“ das Bewusstsein für größere Kontexte abgehe. Individualismus und Narzissmus sind dabei, so scheint es, für Cohen identisch. Psychotherapie deklassierte er als unzulängliche Selbstsuche. Er forderte mit Wilber die Entwicklung des „sensitiven Selbst“. Wer heute eine adäquate Erleuchtung erreiche, verlange nicht, dass sich Gott zu jedem persönlich in Beziehung setze (Cohen: „God would be very busy ...“). Außerdem habe man festgestellt, da oben sei niemand, außer den Satelliten. Der heutige Mensch habe göttliche Macht zum Erschaffen wie zum Zerstören, könne aber nicht mit ihr umgehen, weil ihm die Moral fehle. Cohen schloss optimistisch, der nächste Evolutionsschritt werde über das Ego hinaus zu einem trans-individuellen ethischen Kontext führen. Gott sei aus dem Himmel gefallen und offenbare sich bei einigen Menschen aus dem wahren Selbst. Gott könne sich ohne den Menschen nicht erkennen, nur im erwachenden Menschen werde die Schöpfungsenergie sich ihrer selbst bewusst: „Warum bin ich hier: das Universum zu kreieren. Ich bin die Energie, die das All erschuf.“ Cohen sprach Englisch. Sein Vortrag litt unter Mikrofon- und Übersetzungsproblemen. (Insgesamt muss man der Kongressleitung für die logistische Perfektion jedoch danken.) Cohens Veranstaltungen polarisierten die Zuhörer. Es regte sich ebenso Beifall wie Widerspruch gegen diverse Pauschalurteile.

Insbesondere Ingrid Riedel ging in ihrem Referat zur „Spiritualität C. G. Jungs“ kritisch auf Cohens „leeren Himmel“ ein und rehabilitierte den Begriff der Individuation im Sinne Jungs. Ihre profunde, anregende Darstellung machte zum Abschluss bewusst, an welche großen Traditionen und Persönlichkeiten die Transpersonale Psychologie anknüpfen könnte.

Die große inhaltliche Spannbreite war ein Hauptmerkmal des Kongresses, die sich auch in dem sehr durchmischten Publikum widerspiegelte. Neben hochesoterischen Spekulationen standen differenzierte Überlegungen, wie die spirituelle Dimension behutsam und verantwortlich in Beratung und Therapie integriert werden kann. Welche „Fraktion“ sich auf längere Sicht durchsetzen wird, erscheint derzeit offen.

Breiten Raum ließ der Kongress den Praktikern der TP, angefangen mit Galuskas Vortrag. Der Ärztliche Leiter der Heiligenfelder Kliniken nannte zwei Wirkrichtungen der TP: Im Unbekannten nach dem Heilungskonzept zu suchen, sowie etwas völlig Neues zu entwickeln. Dabei solle der Therapeut nichts forcieren, das Leid des Einzelnen jedoch nicht nur persönlich nehmen, sondern als Teil seines Menschseins akzeptieren. Die Pflege des Bewusstseins verlange jedoch mehr als Psychohygiene. Pflege meine auch Ästhetik, Caring, Trösten, Anregungen geben, den Einbezug Gottes und des Mysteriums.

Ein Beispiel für transpersonale Praxis lieferte Nossrat Peseschkian (Wiesbaden) mit seiner „Positiven Psychotherapie“, die auf „transkulturelle Bewusstseinserweiterung“ setzt, auf den Vergleich von Orient und Okzident. Erwähnt sei auch der italienische Psychiater Maurizio Peciccia. Er veranschaulichte die „Psychotherapie von religiösem Wahn“, bei der er gänzlich verstummten Patienten das Angebot nonverbaler Kommunikation mache. So lässt er den Patienten etwas malen und malt ein Antwortbild. Peciccia machte deutlich, was eine intensive religiöse Erfahrung vom religiösen Wahn unterscheidet. Zwar ähnelten sich beide im Drang, das Ich zu annullieren, doch gebe der Psychotiker das Ich nicht vollständig auf, erlebe deshalb auch keine Wiedergeburt, sondern Spaltung, Zwang, Isolation, Ohnmacht und Hass. Beim Mystiker erfolge hingegen eine befreiende Symbiose mit dem absoluten Objekt. Peciccia holt den Patienten dort ab, wo sich dieser befindet, ob bei der Jungfrau Maria oder bei UFO-Göttern. Der Patient wird angeleitet, sich seiner eigenen Spiritualität bewusst zu werden, muss nicht die des Therapeuten imitieren.

Workshops, die direkte Erfahrungen mit der Praxis und persönlichen Gewinn verhießen, schienen dem Publikum wohl besonders attraktiv. Viel besuchte Seminare waren u.a.: St. Clair/Plesse: Eros, Präsenz und das Eine, Cohen: Evolutionäre Erleuchtung, Kesper-Grossmann: Die heilende Kraft der Achtsamkeit, Christian Meyer: Spirituelle Therapie und das Aufwachen und Dorothea Galuska: Visionen erden.

Anna Gammas Jerusalem-Workshop stellte das Engagement des Schweizer Lasalle-Instituts für eine gemeinsame Verwaltung der Stadt durch Israelis und Palästinenser vor, doch griff in Bad Kissingen die Jerusalem-Symbolik nicht. Durch kollektive Gebete sollte ein „Feld“ bzw. „Lichtkreis“ gebildet werden. Das Ritual bewegte sich zwischen Sheldrake und Gebetsmagie unter Anrufung der Gottesmutter als „kosmische Maria“, des Erzengels Michael und zahlreicher Gestalten aus Judentum, Christentum und Islam. Die verwendeten Texte waren z.T. von großem Pathos. Der Workshop mutierte zwischenzeitlich aufgrund der niedrigen Gästezahl zum Ort der Problemverarbeitung von Personen mit politisch belasteten Familienangehörigen aus der NS-Zeit.

Einer Tendenz der im Kongress präsenten TP entsprach offensichtlich das Seminar von Lama Drima Öser und Elisabeth Reisch. Sie boten „Politik und Meditation“ unter dem Aspekt der politischen Dimension des Nichts-Tuns an, wobei weniger die Wu-wei-Idee der Taoisten eine Rolle spielte als schlichte buddhistische Meditation.

Typisch für die Kritik an einer dogmatisierten Religion war die Darstellung christlicher Gottesvorstellungen durch den Theologen Ludwig Frambach. Der „alte Mann mit dem Bart“ aus dem Schulbuch habe ausgespielt, ebenso das patriarchalische Gottesbild. Er zitierte Bonhoeffers „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht!“ und schlug transkulturell den Bogen zum „Nichts“ des Buddhismus, das der Zenmeister Hisamatsu „Der Nichts“ nenne, der auch „die Fülle“ sei.

Gibt es eine durchgängige Haltung der Transpersonellen Psychologie zum Christentum? Beim Kongress wollte man „die“ Religionen integrieren. Das klingt vielversprechend, bleibt aber notgedrungen oberflächlich, wenn man die einzelnen Religionen nicht gründlich nach ihren spezifischen Elementen befragt und danach, was sie heutigen Zeitgenossen zu geben vermögen. Zen-Meisterin Anna Gamma, der Christliches nicht fern ist, formulierte immerhin eine „interreligiöse Leitlinie“: „Wir lassen die Unterschiede zu und feiern sie!“ Dazu sollte man jede Religion allerdings gut genug kennen und vermeiden, bestehende Klischees fortzuschreiben.
 

Literatur

Transpersonale Psychologie und Psychotherapie, Heft 1/2005 (Jubiläumsband „Transpersonale Orientierung: Aktuelle Trends und Schwerpunkte“ mit Beiträgen von W. Belschner, M. v. Brück, S. Graf, E. Zundel u.a.)

M. Utsch, J. Fischer (Hg.), Transpersonale Psychologie und christlicher Glaube, Münster 2003

H. Walach, Spiritualität als Ressource, in: S. Ehm / M. Utsch (Hg.), Kann Glauben gesund machen? EZW-Texte 181, Berlin, 2005, 17-40