Richard Rohr

Pure Präsenz. Sehen lernen wie die Mystiker

Anselm Grün, Mystik. Den inneren Raum entdecken, Herder-Verlag, Freiburg i. Br. 2009, 142 Seiten, 7,95 Euro.

Richard Rohr, Pure Präsenz. Sehen lernen wie die Mystiker, Claudius-Verlag, München 2010, 223 Seiten, 14,80 Euro.

Werner Thiede, Mystik im Christentum. 30 Beispiele, wie Menschen Gott begegnet sind, edition chrismon, Frankfurt a. M. 2009, 256 Seiten, 19,90 Euro.


Mystik ist wieder im Gespräch, selbst im Protestantismus. Die christliche Analyse der Sehnsucht nach Gotteserfahrung fällt allerdings sehr unterschiedlich aus, was auch bei den höchst produktiven Autoren Anselm Grün, Richard Rohr und Werner Thiede festzustellen ist. Ihre drei aktuellen Taschenbücher zum Thema zeigen deutlich, dass die menschliche Seite des Glaubens maßgeblich von theologischen Prämissen und der individuellen Prägung bestimmt wird.

Der Herder-Verlag hat kürzlich die Buchreihe „Inspiration Christentum“ auf den Markt gebracht. Darin sollen Grundfragen des christlichen Glaubens kurz und prägnant dargestellt werden. Für das komplexe Thema Mystik hat der Verlag einen der bekanntesten geistlichen Autoren unserer Zeit gewinnen können, den Benediktiner Anselm Grün. Er leitet seine Ausführungen mit der Beobachtung ein, dass viele Menschen nach einer ersten Faszination durch die östliche Mystik den breiten mystischen Strom im Christentum kennenlernen wollen. In bewährter Weise holt der Erfolgsautor den Leser mit kurzen, persönlichen Sätzen ab. Mystik ist nach Grün die Sehnsucht nach Gotteserfahrung, die durch die vier Grundfragen des Menschen nach dem Tod, der Freiheit, der Einheit und nach dem Sinn immer wieder neu auftauche (Kapitel 1). An den Bruchstellen des Lebens entstehe immer wieder die Sehnsucht nach Vergöttlichung. In den Evangelien und bei Paulus findet Grün eine Mystik des Neuen Testaments, die auch für heutige Christen aktuell sei. Dabei weist er der Bibel eine besondere Funktion zu. Sie sei in erster Linie kein Lehrbuch über Jesus Christus, sondern eine „Einweisung in die Erfahrung Jesu Christi“. In einem atemberaubenden Schnelldurchgang stellt Grün dann in Kapitel 3 einige Vertreter des christlichen Ostens vor, die das „Einswerden im Selbst“ in der Auseinandersetzung mit der Gnosis und der platonischen Philosophie beschreiben (Origenes, Gregor von Nyssa, Dionysius Areopagita). Grün qualifiziert diese Zugänge als eine eher intellektuelle Mystik, die Antworten für solche Menschen bereithalte, die die Abgründe Gottes und des Menschen mit der Vernunft verstehen möchten. Das folgende Kapitel stellt in ähnlichem Tempo, aber ausführlicher und damit differenzierter das Programm der westlichen Mystik unter dem Motto „Einswerden im Du“ vor (Augustinus, Bernhard von Clairvaux, Meister Eckhart, Tauler und Seuse, Mystik der Frauen, Teresa von Ávila, Johannes vom Kreuz, Quietismus, protestantische Mystik, Jakob Böhme, Pierre Teilhard de Chardin, Karl Rahner). Nach diesem rasanten, aber durchaus treffenden Gang durch die Geschichte der christlichen Mystik möchte Grün im Dialog mit der Psychologie Wege aufzeigen, wie wir heute die mystische Dimension in unseren Glauben integrieren können (Kapitel 5). Mit Recht betont Grün die kritische Funktion der Psychologie hinsichtlich mystischer Erfahrungen. Mit ihrer Hilfe könne man beurteilen, ob eine spirituelle Erfahrung eine heilende oder eine krankmachende Wirkung auf die Psyche eines Menschen ausübe. Leider kennt sich der Autor in der Religionspsychologie bei Weitem nicht so gut aus wie in der Kirchengeschichte. Sonst hätte er die psychologischen Erklärungsansätze der Objektbeziehungstheorie und Bindungsforschung referiert, mit der heute mystische Erfahrungen besser verstanden werden können. Stattdessen greift er auf fragwürdige Theorien der Transpersonalen Psychologie zurück. Hier soll die Spiritualität zu einem psychologischen Mittel der Selbstheilung werden. Unter der Überschrift „Einswerden heißt heilwerden“ wird die Mystik überhöht und zu einem spirituellen Selbsterlösungsversuch instrumentalisiert, durch den Menschen von ihren falschen Selbsteinschätzungen und Illusionen befreit werden sollen. Öffnet die Transpersonale Psychologie Menschen wirklich für Gott? Stimmt es, dass man „aufhört, nur noch ichhafte Ziele zu verfolgen“, und bereit wird zu dienen (94)? Grün verkennt, dass transpersonale Bewusstseinstechniken häufig zu Selbstoptimierungszwecken eingesetzt werden. Viel anregender sind hingegen seine Ausführungen über die mystische Psychologie des Wüstenvaters Evagrius Ponticus, der im Umgang mit den eigenen Leidenschaften einen hilfreichen therapeutischen Weg beschrieben hat, die eigene Seele zu heilen. Das letzte Kapitel beschreibt konkrete Wege zur mystischen Erfahrung (Meditation, Gebet, Natur, Eros, Einheitsübungen, Liturgie, Musik, Heilige Schrift, Leiden, Nacht, Pilgern). Es ist beachtlich, welche Gedankenfülle Grün auf wenigen Seiten verständlich und anschaulich zusammengefasst hat. Eine strikte Elementarisierung bringt aber auch die Gefahr unzulässiger Verallgemeinerungen mit sich. Manche Wertungen sind deshalb allzu plakativ und übertrieben ausgefallen, etwa wenn Grün zur Unio mystica ausführt: „In ihr wird der Mensch ganz eins mit Gott und zugleich mit sich selbst. Der ewige Widerstreit zwischen Geist und Trieb hört auf. Alle Kräfte im Menschen werden mit Gott eins. Das führt den Menschen zu einem tiefen inneren Frieden und zur Harmonie. In diesem Zustand erlebt er letztlich das, was auch eine gute Therapie erreichen will“ (89). Hier wird Mystik zu einem unerreichbaren Bewusstseinszustand hochstilisiert, was mit dem psychotherapeutischen Ziel einer realitätstauglichen Selbstregulation wenig zu tun hat, ja diesem Ziel wohl in den meisten Fällen entgegensteht. An anderer Stelle heißt es zu knapp und deshalb missverständlich: „Wenn jemand zu sehr von seiner Liebe zu Gott oder zu Jesus Christus schwärmt, dann bin ich immer skeptisch. Die Erfahrung zeigt, dass dahinter oft eine abgespaltene Sexualität steckt“ (90). Darüber hinaus verwundert es, dass ein Benediktiner nicht stärker seine eigene Tradition zu Wort kommen lässt. Auch die wichtige Unterscheidung der beiden Wege christlicher Mystik (Seins- und Liebesmystik) hat Grün unzulässigerweise harmonisiert und damit die Gegensätze im Menschen- und Gottesbild übergangen. Dennoch ist diese praktische Einführung anregend und lesenswert.

Die deutschen Übersetzungen der Bücher des Franziskaners Richard Rohr erscheinen fast ausschließlich im evangelischen Claudius-Verlag. Rohr ist mit seinen Veröffentlichungen zum Enneagramm und zur Männerspiritualität bekannt geworden, die auch Kritik hervorgerufen haben. Sein neues Buch beginnt mit dem Wunsch, das dualistische Denken und Wahrnehmen überwinden zu können, weil in dieser Haltung die wirklichen Lebensfragen nicht beantwortet werden könnten. Der Autor versteht sein Buch als eine Sehhilfe. Durch Kontemplation oder Gebet könne man auf „nichtdualistische Weise den gegenwärtigen Augenblick sehen“ (13). Das Alles-oder-nichts-Denken hält Rohr für die Ursache seiner gröbsten Fehler und bezeichnet es heute als schlechteres Wissen. Er betrachtet die Fähigkeit, sich zurückzulehnen und die eigenen inneren Dramen ruhig zu beobachten, ohne vorschnell zu urteilen, als grundlegend für spirituelles Sehen. Kontemplation und Präsenz eröffne einen Zugang zu umfassenderem und damit besserem Wissen: „Kontemplation ist eine Einübung darin, die Räume des Herzens und des Verstandes lang genug offen zu halten, damit der Verstand neues, bisher verborgenes Material sehen kann“ (39). Das kontemplative Denken will nach Rohr die Dinge so sehen, wie sie wirklich sind, jenseits von Worten und Konzepten. Dies sei aber nur bei nichtdualem Denken möglich. Der Autor ist davon überzeugt, dass die meisten Glaubensaussagen der christlichen Kirchen nur von Menschen mit nichtdualem Bewusstsein verstanden und gelebt werden können – „von Kontemplativen, die vermögen, im nackten und umfassenden Hier und Jetzt präsent zu sein (beispielsweise ist Jesus ganz menschlich und ganz göttlich; Maria ist beides, Jungfrau und Mutter)“ (43). Das nichtpolare Denken gehört für Rohr zum Kern der drei größten Weltreligionen (Hinduismus, Buddhismus und Taoismus). Mit seinem Buch möchte er zeigen, dass diese Idee auch im Christentum vorausgesetzt und gelehrt wurde. Das „Dritte Auge“ erlaube uns, die unmittelbare Gegenwart Gottes als „wirkliche Wirklichkeit“ unmittelbar zu erkennen. In immer neuen Anläufen beschreibt Rohr diese neue Sicht- und Denkweise als die Mission Jesu. Seine Ausführungen werden von zahlreichen Bibelzitaten begleitet, die das nichtduale Denken und einen neuen, erleuchteten Bewusstseinszustand belegen würden. Allerdings ist zu kritisieren, dass die Bibeltexte in der Regel Paraphrasen des Übersetzers Andreas Ebert sind. Demnach heißt es in Röm 8,14-16: „Der Geist, den ihr empfangen habt, und euer eigener Geist legen gemeinsam Zeugnis ab, dass ihr sehen könnt, dass ihr ein Teil Gottes seid und Gott ein Teil von euch ist“ (167). Das geht jedoch weit über den Urtext („Kinder Gottes“) hinaus und ist eher eine Deutung als eine Paraphrase.Das Hauptproblem an Rohrs Mystikbuch ist das evolutionistische Bewusstseinskonzept, das er von der Transpersonalen Psychologie übernommen hat. Dadurch wird eine feste Rangfolge von Bewusstseinstufen zugrunde gelegt, die das dualistische Denken als ich-verhaftetes Bewusstsein, als unreif charakterisiert und als Zustand ohne echte Gottesbegegnung abqualifiziert: „Innerhalb eines dualistischen Bewusstseins kann man andere weder aufrichtig lieben noch ihre Fehler wirklich vergeben“ (152). Dankbar bezieht Rohr sich auf den Satsang-Lehrer Eckhart Tolle, dessen „bahnbrechendem Konzept“ von der Kraft der Gegenwart er aus ganzem Herzen zustimmt. Und „Ken Wilber ist eindeutig der beste Lehrer unserer Zeit, der vielen von uns hilft, all das zu sehen ... Er ist unser postmoderner Thomas von Aquin und einer der besten Freunde und konstruktivsten Kritiker, den die Religion jemals hatte“ (183f).Der Untertitel des Buches lautet „Sehen lernen wie die Mystiker“. Rohr skizziert den inklusivistischen Weg interreligiöser Mystik als eine zeitgemäße Alternative zur angeblich dogmatisch verkrusteten und im dualistischen Denken verhafteten Amtskirche. Als Franziskanerpater hätte er mit den Mystikern sehen lernen können, dass es in der christlichen Gottesbegegnung nicht um einen besonderen Bewusstseins- und Einheitszustand geht, sondern um die Entdeckung der Barmherzigkeit und Liebe Gottes im Scheitern und in aller menschlichen Schwäche. Sein durchgängig evolutionistischer Deutungsrahmen macht alle anregenden Impulse, die sein Buch durchaus zu bieten hat, leider zunichte.

Der Systematische Theologe Werner Thiede beschreitet in seinem Buch einen originellen Weg, die Vielfalt der mystischen Erfahrungen im Christentum darzustellen. Auf 40 Seiten diskutiert er knapp die Grundfragen der Mystik, um dann im Hauptteil des Bandes mit 30 Beispielen aus Geschichte und Gegenwart einzelne Mystiker vorzustellen. Der Autor geht davon aus, dass alle Mystik von weltanschaulichen Voraussetzungen geprägt ist. Damit widerspricht der streitbare fränkische Theologe wieder einmal dem Trend, eine allgemeinreligiöse, monistisch verstandene Mystik als Kern aller Religionen anzusehen.Thiede grenzt Mystik von einem psychologisch überhöhten Erfahrungsbegriff, von esoterisch-gnostischen Spekulationen und von populistischen Spiritualitätskonzepten deutlich ab und definiert sie als den Versuch, ein unmittelbares Bewusstsein der Gegenwart Gottes zum Ausdruck zu bringen. Damit unterstreicht er den Begegnungscharakter der mystischen Erfahrung. In einem eigenen Abschnitt unterscheidet er Substanz- und Liebesmystik, die sich oft zum Verwechseln ähneln würden, aber dennoch zu unterschiedlichen Ergebnissen führten. Der in der monistischen Substanzmystik favorisierte Bewusstseinszustand der Leere stehe in der Gefahr, den lebendigen Gott der biblischen Offenbarung zu verfehlen. Christlicher Mystik gehe es nicht um eine Gelassenheit, die aus der Versenkung in transpersonaler Leere resultiere, sondern um eine auf Liebe gründende, persönliche Gottesbeziehung. Die in der Einführung vorgenommenen Abgrenzungen zum neuzeitlichen Spiritualismus und zu esoterischen Konzepten sind auch in ihrer Kürze kenntnis- und hilfreich und schlagen einen Verstehenspfad in den Dschungel von Konzepten und Begriffen, dem viele Leser dankbar folgen werden.Den Hauptteil des Buches machen 30 Porträts christlicher Mystiker aus, die den Autor angesprochen und zu deutlicher Zustimmung oder auch Kritik herausgefordert haben. Die Auswahl ist breit gestreut – von Klassikern wie Origenes, Johannes vom Kreuz oder Gerhard Tersteegen bis hin zu überraschenden Personen wie Wilhelm Löhe oder Karl May. Alle Portraits referieren nach einer biografischen Skizze einen Kerngedanken der jeweiligen Person.Die kurzen Beispiele profitieren von der hohen Gelehrsamkeit sowie dem pädagogischen und sprachlichen Geschick des Autors, der komplexe und hoch theologische Zusammenhänge griffig und verständlich auf den Punkt bringt. Die Auswahl der Beispiele ist originell, manchmal allerdings auch fragwürdig. Dass Wilhelm Löhe, Gründervater der Neuendettelsauer Diakonie, als Mystiker dargestellt wird, mag als Lokalpatriotismus durchgehen. Aber dass der Schriftsteller Karl May in die Auswahl aufgenommen wurde und seine Nähe zum Spiritismus unerwähnt bleibt, verwundert dann doch. Schade, dass keine treffenderen Beispiele evangelischer Mystik gewählt wurden. Viele Porträt-Beispiele sind jedoch mit Genuss zu lesen, wobei auch mit einer klaren theologischen Beurteilung der Ansätze nicht hinter dem Berg gehalten wird. Der Autor äußert etwa deutliche Kritik gegenüber Eckharts, Böhmes, Steiners, Sölles und Jägers Entwürfen, nachdem er sie fair referiert hat. Im Anhang aufgeführte Endnoten ermöglichen ein weiterführendes Studium der vorgestellten Gedankenimpulse.


Michael Utsch