Rau besucht Hinckley
(Letzter Bericht: 2/2002, 47f) Bundespräsident Johannes Rau weilte gegen Ende der XIX. Olympischen Winterspiele für vier Tage in Salt Lake City. Außerhalb des offiziellen Programms besuchte er den 91-jährigen Präsidenten der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (Mormonen), Gordon B. Hinckley. Wie die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" am 25.2.2002 berichtet hat, war es "in erster Linie Neugier", die den Bundespräsidenten zu Hinckley geführt hatte. Rau habe auch versucht, theologische Fragen zu diskutieren, dabei aber "eine gewisse Zurückhaltung Hinckleys gespürt". So soll der Bundespräsident beispielsweise nach der Einstellung der Mormonen zur Gentechnologie gefragt haben. Aus der Antwort konnte er schließen, "daß sich die Mormonen darüber noch keine feste Meinung gebildet hätten".
Wie die FAZ weiter berichtet, empfand Rau auch die Ausführungen über die Rolle der Frau in der Mormonenkirche als nicht befriedigend. Der Bundespräsident dürfte unter anderem daran Anstoß genommen haben, dass Frauen kein Priesteramt bekleiden können. Die Mormonen, so soll Rau laut FAZ festgehalten haben, "ließen sich nicht auf theologische Grundsatzdiskussionen ein. Hinckley hat auch in Gesprächen mit anderen immer wieder betont, daß die Mormonenkirche nicht mit anderen Religionsgemeinschaften konkurriere."
Es wäre zu fragen, ob man theologische Gespräche mit dem Adjektiv "konkurrieren" beschreiben kann. Der Bundespräsident scheint jedenfalls Interesse an weiteren Begegnungen angedeutet zu haben. Dabei dürfte Hinckleys Stellvertreter, Thomas S. Monson, eine wichtige Rolle spielen. Monson gilt bei den Mormonen als Kenner und Freund Deutschlands; er hatte in der Vergangenheit nicht nur Kontakt mit Raus Vorgänger Gustav Heinemann, sondern auch mit Erich Honecker. Anfang der achtziger Jahre hatte Monson dem Staatsratsvorsitzenden der DDR die Erlaubnis zur Errichtung des ersten Mormonentempels auf deutschem Boden im sächsischen Freiberg abgerungen - damals eine kleine Sensation! Der Tempel konnte bereits 1985 eingeweiht werden.
Übrigens scheint den Mormonen bei der Vorbereitung der Begegnung mit dem Bundespräsidenten entgangen zu sein, dass Johannes Rau ein bibelfester evangelischer Christ ist. So war in der FAZ zu lesen: "Erst als sich der Bundespräsident mit einem Bibelzitat verabschiedete, habe man gemerkt, daß man es mit einem frommen und religiösen Mann zu tun hatte."
Andreas Fincke