Frank Lüdke

Raus aus dem Schneckenhaus

Die Brunstad Christian Church auf dem Weg aus der Isolation

Die internationale Brunstad Christian Church (BCC) durchläuft gegenwärtig eine spannende und sehr dynamische Entwicklung (https://bcc.no). Sie gilt als die einzige weltweit verbreitete christliche Glaubensgemeinschaft, die aus Norwegen stammt, und hat in 54 Ländern insgesamt etwa 25.000 Mitglieder. In Deutschland war die BCC früher als „Die Norweger“ oder „Smith’s Freunde“ bekannt. Heute nennt sich der deutsche Ableger „Die Christliche Gemeinde“ (DCG). Zur DCG gehören gegenwärtig zehn Ortsgemeinden mit insgesamt etwa 2700 Mitgliedern (https://dcg-deutschland.de).

Nachdem man über ein Jahrhundert lang einer ökumenischen Zusammenarbeit gegenüber große Zurückhaltung zeigte, kam in den letzten Jahren ein bemerkenswerter Öffnungsprozess in Gang. Sichtbar wurde dies vor allem daran, dass die BCC 2021 in den Norwegischen Christenrat (entspricht der deutschen Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen, ACK) aufgenommen wurde. Auch in Deutschland werden momentan die Kontakte zur ACK und zur Evangelischen Allianz intensiviert. In Backnang wurde im Juni 2023 mit der DCG Maubach zum ersten Mal eine DCG-Gemeinde in eine lokale ACK aufgenommen. In der kürzlich erschienenen Festschrift zum fünfzigjährigen Bestehen des deutschen DCG-Verbundes nennt man sich nun dezidiert „Freikirche“ und bemüht sich um eine weltoffene Selbstdarstellung. In Gesprächen mit Verantwortlichen wird aktuell sehr deutlich, dass diese Öffnung der DCG ein tiefes Herzensanliegen ist.

Osterkonferenz in Brunstad

Der Autor dieses Beitrags war daher sehr gespannt, was von den fraglichen Veränderungen im Mutterland der BCC spürbar wird. Auf Einladung der Kirchenleitung konnte er an Ostern 2023 an einer großen internationalen Glaubens- und Heiligungskonferenz im südnorwegischen Brunstad teilnehmen. Siebentausend Erwachsene sowie fünftausend Kinder und Jugendliche trafen sich dort für vier Tage in einem riesigen Konferenz- und Freizeitpark, der heute offiziell Oslofjord Convention Center genannt wird. Die Konferenz bot sehr divergente Impressionen. Auf der einen Seite beeindruckte die Event-Location mit riesigen LED-Video-Screens und modernster Technik. Auf der anderen Seite wirkten viele theologische Inhalte, Liedtexte und Melodien wie eine Zeitreise zu den Anfängen der Heiligungsbewegung im 19. Jahrhundert.

Als unangefochtene Autorität innerhalb der Gemeinschaft wirkt heute Kåre J. Smith, der 78-jährige Enkel des Gründers Johan Oscar Smith (1871–1943). In den meisten Versammlungen hielt er nach ein paar gemeinsamen Liedern und Gebeten einen predigtartigen Impuls, in dem er anhand von einigen Bibelstellen das Thema der jeweiligen Zusammenkunft vorgab. Anschließend traten nacheinander etwa zwanzig Männer (!) auf, die meist mit großem Pathos immer wieder dieselbe Botschaft vortrugen: Es ist möglich, die Gebote Gottes zu halten und allen Versuchungen zur Sünde zu widerstehen! Im Hintergrund dieses Heiligungsaufrufs, der innerhalb der BCC schlechthin zentral ist, steht der christologische Verweis auf Hebr 4,15, wonach Christus „versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde“. Aus Jesu wahrem Menschsein wird im Sinne einer Vorbild-Christologie abgeleitet, dass auch allen anderen Menschen der Weg eröffnet sei, jegliche Versuchung zu bewussten Sünden zu überwinden. Diese Botschaft stand auch bei der Osterkonferenz von Beginn an im Mittelpunkt. Für einen mit dem Kirchenjahr vertrauten Beobachter mutete es dabei etwas seltsam an, dass am Karfreitagabend der Kreuzestod Jesu unerwähnt blieb. Erst am Karsamstag wurde er thematisiert, dies aber nur, um ihn wiederum als Vorbild für die christliche Existenz zur Geltung zu bringen: Auch der Christ solle sein Kreuz auf sich nehmen und alle Lüste und Begierden kreuzigen.

Der Morgen des Ostersonntags wurde dann – ausnahmsweise – mit einem nicht aus der eigenen Tradition stammenden Lied eröffnet: mit dem in allen norwegischen Kirchen beliebten Osterlied „Påskemorgen slukker sorgen“ („Der Ostermorgen löscht die Sorge“) des dänischen Erweckungspredigers Severin Grundtvig (1783–1872). Die anschließenden Beiträge der Redner drehten sich allesamt um die Auferstehungskraft Christi, die vornehmlich dazu diene, die Sünde zu überwinden. Immer wieder wurde auf der Konferenz deutlich, dass der Fokus auf der persönlichen Heiligung in der BCC wie eine Art „Kanon im Kanon“ wirkt, der alles in seinen Bann zieht.

Rein äußerlich fällt bei der BCC/DCG auf, dass alle Versammlungen und Konferenzen zu einem sehr großen Teil aus jungen Menschen bestehen. Dies spiegelt sich auch in den Gottesdiensten der Ortsgemeinden wider. Der Altersdurchschnitt liegt bei etwa 30 Jahren. Der Grund dafür ist, dass die Familien oft zahlreiche Kinder haben. Eine attraktive Kinder- und Jugendarbeit mit vielen Angeboten vor allem im Sport- und Medienbereich zeigt ein großes Bemühen um diesen Nachwuchs: Man möchte möglichst viele Jugendliche für ein Leben im Glauben und die aktive Mitarbeit in der Gemeinde gewinnen. Die Rolle der Frauen ist ambivalent. In den Versammlungen kommen sie eher am Rande vor. Auf der Osterkonferenz wurden die „Schwestern“ erst in der Abschlussveranstaltung dazu ermutigt, sich mit „Zeugnissen“ zu beteiligen. Gleichzeitig aber ist es – ganz im Sinne der Heiligungsbewegung – nicht grundsätzlich unmöglich, dass von Gott besonders begabte Frauen strategisch wichtige Aufgaben in der Gemeinde übernehmen oder geisterfüllte Erkenntnisse beitragen.

Was heißt Heiligung?

Die Prägung der BCC ist den Heiligungsbewegungen des 19. Jahrhunderts zuzurechnen, die letztlich auf John Wesleys Anschauungen von der „christlichen Vollkommenheit“ basieren. Man hat also ähnliche Wurzeln wie die Gemeinschaftsbewegung, die Pfingstbewegung oder dezidierte Heiligungskirchen wie die „Kirche des Nazareners“. An einigen entscheidenden Wegmarken entschied sich die BCC jedoch für einen ganz eigenen Weg, der vom Hauptstrom der Heiligungsbewegung abführte: Sie konzentrierte sich einerseits ganz auf das Erbe der Heiligungstheologie, behielt aber eine Reihe von pfingstlerischen Elementen wie zum Beispiel das Zungenreden bei. Dies führte dazu, dass zwei große Impulse der Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts, Diakonie und Mission, von der BCC nur in verhältnismäßig geringem Maße aufgenommen wurden. Während sozialdiakonische Aktivitäten in Schulen, Heimen oder Krankenhäusern in anderen Bewegungen geradezu als Ausweis der Geisterfüllung angesehen wurden, konzentrierte sich die Wohltätigkeit innerhalb der BCC weitgehend auf die Familien der eigenen Mitglieder. Unter „Mission“ wiederum wurde vor allem die internationale Ausbreitung eigener Gemeinden verstanden. Aktuell gibt es in elf Ländern sogenannte „Missionsstandorte“, die auf finanzielle Unterstützung durch die BCC angewiesen sind. Dazu kam in den letzten Jahren der strategische Aufbau einer „digitalen Missionsarbeit“. Mit Brunstad-TV und BCC-Media zielte sie zunächst auf die eigenen Mitglieder ab; in neuester Zeit wirkt sie aber auch evangelistisch nach außen (vgl. z. B. die Websites https://activechristianity.org bzw. https://aktiveschristentum.de). Das größte Projekt ist momentan die Entwicklung von „Gate Zero“, einem Computerspiel, mit dem Jugendliche in die Welt des Neuen Testaments eintauchen können.

Bei dem für die BCC zentralen Thema „Sünde“ fällt – ähnlich wie in anderen Heiligungsbewegungen – auf, dass es (wenn überhaupt) nahezu ausschließlich im Bereich der individuellen Ethik konkretisiert wird: Sünde meint das Fehlverhalten des Einzelnen. Es geht zum Beispiel um charakterliche Schwächen, etwa die Neigung, sich vorschnell aufzuregen oder nicht zu vergeben, aber auch um sexualethische Fragen wie den Konsum von Pornografie. Ökologische Fragen (Stichwort Bewahrung der Schöpfung) wie Fleischkonsum, fairer Handel oder die Vermeidung von Flugreisen kommen ebenso wenig vor wie sozialethische Fragen rund um Rassismus oder soziale Ungerechtigkeit. Die durch den christlichen Glauben angestrebte „Vollkommenheit“ bezieht sich also weitgehend darauf, im beruflichen und familiären Alltag ein sinnerfülltes und glückliches Leben zu führen und subjektiv ein reines Gewissen vor Gott und den Menschen zu behalten.

Zum Selbstbewusstsein der BCC gehört traditionell auch eine gewisse kirchengeschichtliche Ignoranz. Die in Brunstad allen Besuchern zugängliche historische Ausstellung führt zunächst einen Film vor, der mit biblischen Szenen beginnt und nach einem Abschnitt zur Apostelgeschichte unmittelbar zur Bekehrung von Johan Oscar Smith im Jahr 1898 springt. Besucher können sich beim Gang durch die Ausstellung vom Audio-Guide die Entwicklung der BCC erklären lassen. Das Christentum vor der Entstehung der BCC wird dabei ebenso ausgeblendet wie die heutige Vielfalt christlicher Konfessionen. Mittlerweile sind erste Ansätze erkennbar, sich aktiv mit kirchenhistorischen Bezugspunkten zu beschäftigen, um sich auch als Teil einer größeren Bewegung zu verstehen.

Norwegischer Frühling

Seit einigen Jahren streben führende Personen der BCC eine Modernisierung und Überwindung der Isolation der Bewegung an. Zu beobachten ist dabei, dass in vielen Punkten wieder auf den Gründer Johan Oscar Smith verwiesen wird, der selbst viel offener gewesen sei als dies manche seiner Nachfolger dann im 20. Jahrhundert interpretierten. Ein „Back to the roots“ dient somit intern als Hebel für die Transformation.

Spannend bleibt dabei das Verhältnis der Kirche zur Theologie. Die Gründerväter der Bewegung waren keine Theologen und standen von Beginn an der Beschäftigung mit wissenschaftlicher Theologie eher ablehnend gegenüber. Da die Struktur der Kirche keine hauptamtlichen Pastoren vorsieht, gibt es bis heute auch keine eigene theologische Ausbildungsstätte. Aus diesem Grund verfügt die weltweite BCC bislang auch über keine eigenen Theologen, die zu einer tieferen Auseinandersetzung mit der heutigen Theologie in der Lage wären. Die Kirchenleitung und der weitere Führungskreis der Bewegung bestehen aus Personen, die in verschiedensten säkularen Berufen ausgebildet wurden oder studiert haben und heute entweder als Angestellte oder Unternehmer arbeiten. Die fehlende Expertise in puncto wissenschaftliche Theologie wird im gegenwärtigen Öffnungsprozess zunehmend als Mangel empfunden, weil für die ökumenischen Dialoge schlicht das Wissen und Vokabular fehlen. Grundsätzlich aber besteht die tiefe Überzeugung fort, die fehlende theologische Bildung habe keinerlei negative Auswirkungen auf den geistlichen Zustand der Kirche. Dieser hänge allein davon ab, dass die führenden Gemeindeglieder mit Gott verbunden sind und sich vom Heiligen Geist die richtige Schrifterkenntnis schenken lassen, um sie der Gemeinde weiterzugeben. Auf dieser Basis wurde 2022 die sogenannte „Trosgrunnlag“ („Glaubensgrundlage“) veröffentlicht, ein neunzigseitiges Dokument, in dem die eigene Theologie unter Anführung von vielen Bibelstellen ausführlich dargelegt wird. Eine englische Version liegt mittlerweile vor, die deutsche Übersetzung soll demnächst erscheinen. Ähnlich wie die Neuapostolische Kirche sucht somit auch die BCC die eigene Öffnung zu befördern, indem sie der Öffentlichkeit transparent Rechenschaft über die eigenen Überzeugungen gibt.

Zugleich lässt sich gegenwärtig auch eine Stärkung und Zentralisierung der formalen Organisation beobachten. Dabei bewegt man sich von einem eher kongregationalistischen Kirchenmodell mit informeller Zugehörigkeit hin zu einem eher zentralistischen Modell mit formaler Mitgliedschaft. Dafür wurde unter anderem im Jahr 2021 der internationale BCC-Verbund gegründet, dem die deutsche DCG wohl im Jahr 2024 auch offiziell beitreten wird. Signifikant ist dabei, dass die global agierende Kirche sich heute bewusst nach Brunstad, ihrem Konferenzort in Norwegen, benennt. Dies allein schon zeugt von der zunehmend zentralistischen Struktur und der Bedeutung des Konferenzzentrums, das bisweilen sogar ausdrücklich mit der historischen und eschatologischen Rolle Jerusalems verglichen wird. Dies wird auch durch Sätze wie „Gott hat es gefallen, sich in Brunstad zu offenbaren!“ oder durch die Bezeichnung Brunstads als „Rednerstuhl Gottes“ hervorgehoben. Man setzt daher auch alles daran, das Convention Center zu nutzen, zu erhalten und die Kirchenmitglieder durch Arbeitseinsätze, Spenden und Pachtverträge an dessen Unterhaltung zu beteiligen. Die BCC hat mit dem Aufbau des Convention Centers in Brunstad, dessen Kosten auf etwa 500 Millionen Euro geschätzt werden, in den letzten 25 Jahren ein durchaus beeindruckendes Zentrum geschaffen, das nun als Identifikationsort mit vielfältigen Möglichkeiten genutzt wird. Im deutlichen Kontrast zu den eher einfachen, flexiblen und informellen Anfängen der Bewegung bindet ein solcher Komplex zugleich aber auch immense Kapazitäten und Finanzen; die Kirche dürfte daher künftig auch stark mit wirtschaftlichen Fragen beschäftigt sein.

Chancen und Herausforderungen

Die beschriebenen Transformationen dürften ein Grund dafür sein, dass die DCG/BCC in den letzten Jahren und Jahrzehnten auch Mitglieder verloren hat. Es gibt eine Aussteigerszene, die im Rückblick manches sehr kritisch sieht und als zu eng, gesetzlich und abgeschlossen empfindet. Manche bringen vor, dass geistliche und finanzielle Aspekte zu sehr miteinander vermischt worden seien. Anderen war der individuelle Erwartungsdruck in Bezug auf Mitarbeit und Spenden einfach zu groß.

Die gegenwärtige Öffnung steht noch ganz am Anfang und findet hauptsächlich durch persönliche Kontakte des Leitungskreises statt. Bislang werden die Gemeindeglieder selbst wenig dazu ermutigt, über den eigenen Tellerrand zu blicken und Angebote anderer Gemeinden zu besuchen oder gar festere Beziehungen aufzubauen. Dabei könnte eine solche Integration in die Ökumene durchaus das Potential für Win-win-Synergien haben. Am naheliegendsten wäre für die DCG sicherlich zunächst die Mitarbeit in den lokalen Arbeitskreisen der Evangelischen Allianz und eine aktive Beteiligung an den Allianz-Gebetswochen. Dabei ginge es vor allem um Erstbegegnungen, bei denen man andere Frömmigkeitsformen kennen- und anerkennen lernt und zugleich dazu herausgefordert wird, auch die eigenen Räume für gemeinsame Veranstaltungen zu öffnen.

Wie in allen Öffnungsprozessen von ehemals isolierten christlichen Gemeinschaften ist die BCC derzeit mit einer doppelten Herausforderung konfrontiert. Einerseits gilt es, nach innen weiterhin die besondere Qualität der eigenen Kirche zu betonen, um Abwanderungsprozesse auszuschließen. Andererseits gilt es anzuerkennen, dass ein authentischer christlicher Glaube auch in anderen Kirchen gelebt werden kann. Es kommt somit auf die Prägung eines neuen Bewusstseins an, mit dem Ziel, sich in der internen Kommunikation nicht mehr als die einzig wahre Form des Christentums präsentieren zu müssen, um sowohl für die eigenen Mitglieder als auch für diejenigen, die hinzugewonnen werden sollen, attraktiv und überzeugend zu bleiben. Das Konferenzzentrum in Brunstad könnte dabei weiterhin als ein Identifikationsort für die eigene Kirche fungieren und bei einer weiteren Öffnung zugleich als eine Art Geschenk für die Ökumene dienen, indem es für andere christliche Konferenzen oder ökumenische Treffen geöffnet würde.

Maßgeblich für die Zukunft dürfte schließlich sein, wer nach einem altersbedingten Abtreten von Kåre J. Smith die geistliche Führung der BCC übernehmen wird. Da Leitungspositionen in der BCC bisher nicht durch Wahlen, sondern eher in informell-charismatischen Prozessen besetzt und bestätigt wurden, ist es nur schwer zu prognostizieren, welche Personen nach Smith den Kurs der BCC bestimmen werden und was dies für den betretenen Öffnungsweg bedeuten wird.

Insgesamt bietet die gegenwärtige Entwicklung sowohl für die BCC selbst als auch für die Ökumene viele Chancen. Die BCC könnte durch die begonnenen Dialogprozesse manchen problematischen Aspekten der eigenen Bewegung offen begegnen und diese gegebenenfalls auch überwinden. Zugleich könnten von der BCC, die das Thema einer aktiv gelebten individuellen Heiligung als ihr besonderes „Pfund“ in die Ökumene einbringt, auch belebende Impulse in andere Kirchen ausgehen. Es wäre von daher wünschenswert, wenn das Begonnene von allen Seiten mit gegenseitigem Vertrauen, Offenheit und Transparenz weiter vorangebracht würde.

Frank Lüdke, Marburg, 08. September 2023