Reform des Islam. 40 Thesen
Abdel-Hakim Ourghi, Reform des Islam. 40 Thesen, Claudius Verlag, München 2017, 237 Seiten, 18,00 Euro.
Abdel-Hakim Ourghi, Leiter des Fachbereichs Islamische Theologie an der Pädagogischen Hochschule Freiburg, ist derzeit einer der prominentesten Befürworter einer Islamreform. Pünktlich zum Oktober im Reformationsjahr 2017 veröffentlichte er 40 Thesen, die zusammenfassen, was er bisher mit medialer Unterstützung an verschiedenen Stellen verstreut zum Thema geäußert hat.
In drei Kapiteln führt der Vf. ins Thema ein und umreißt seine Position. Der Hauptteil enthält die Thesen in kurzen Kapiteln von jeweils wenigen Seiten (das längste hat 14 Seiten). Mit einem Epilog und dem Anmerkungsteil schließt das Buch ab.
Mit zwei Begriffen können Ziel und Inhalt des Buches auf den Punkt gebracht werden: öffentliche Anklage mit der Absicht, den vorherrschenden Diskurs einer seit Jahrhunderten herrschenden konservativen Theologie kritisch infrage zu stellen, und Empowerment. So könnte man die durchgehende Ermutigung von Musliminnen und Muslimen – sie werden immer wieder direkt angesprochen – zum eigenständigen Denken, zur intensiven Auseinandersetzung mit dem Koran und seiner Interpretation in Bezug auf die eigene Lebenssituation nennen. „Eine zeitgemäße Interpretation des Koran will nichts anderes als die Macht des konservativen Islam brechen und Wert auf die selbstständige, verantwortungsvolle Wahrnehmung des Selbst legen“ (159).1 Eine solche Reform kann nur von Muslimen ausgehen. „Nur Muslime können den Islamismus bekämpfen. Und dies kann nur durch die Reform des Islam stattfinden ... Nur wir Muslime können die Reform des Islam in Angriff nehmen“ (228f).
Unter Anklage steht nicht pauschal der Islam (der „in erster Linie ein Glaube voller Spiritualität ist“, 35), sondern der hausgemachte „pathologische Zustand der islamischen Identität“ (Kap. II, mit Bezug auf A. Meddeb, La maladie de l’Islam), die Abkapselung der Muslime gegenüber Andersgläubigen und Andersdenkenden auf der Basis des Deutungsmonopols einer jahrhundertealten Gelehrtentheologie, die den Einzelnen bevormundet, Frauen benachteiligt und keine eindeutige Handhabe gegen Gewaltanwendung zur Verfügung stellt. Der Autor geht von der Sinnkrise des Islam aus, die sich in inhaltlichen Engführungen, strukturellen Verhärtungen und einer Rückwärtsgewandtheit zeigt, insgesamt in einem schädlichen Stillstand. Ourghi tritt gegen das Verdrängen der unheimlichen, „dunklen Seite“ des Islam an („Der Islam“ habe durchaus mit Gewalt und Terror zu tun, da die theologischen Grundlagen „eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Legitimation dieser Gewalt oder etwa bei der Unterdrückung von Frauen“ spielten, 18), aber auch gegen die Behauptung der Reformunfähigkeit des Islam, die sowohl von interessierter muslimischer Seite als auch von Religionskritikern geäußert wird.
Ein klarer Schwerpunkt der 40 Thesen ist das Koranverständnis, die Hermeneutik, die sich vom Ballast der Gelehrtentradition befreien und auf dem Prinzip der Vernunft aufbauend zu einer freien und eigenständigen Erforschung des „Heiligen Buches des Islam“ finden muss. Die Interpretationsbedürftigkeit und die Reformfähigkeit des Islam werden unter Rekurs auf den Koran selbst begründet und mit Blicken in seine Auslegungsgeschichte verdeutlicht, die eine große Zahl von Reformanstrengungen aufweist und alle Ansätze für die nötige Reform in sich trägt.
Es wird über den Reformbegriff, über Islamkritik und über den Koran als Gottes Wort, genauer das Verhältnis von Gotteswort und Menschenwort, reflektiert. Dabei schälen sich als weitere Schwerpunkte eine humanistische Ethik (man erinnert sich an Mouhanad Khorchide) und ausgehend vom Menschen- und Gottesbild Fragen der Menschenrechte heraus (Würde, Freiheitsrechte, Gleichberechtigung). Der Mensch Muhammad soll von nachträglichen historischen Verfremdungen und Rückprojektionen befreit werden, damit seine historische Rolle als Verkünder der Offenbarung gewürdigt werden kann (interessant die Unterscheidung von Prophet und Gesandtem, Thesen 13-17). Ebenso geht es auch um ein positiveres, angstfreies Gottesbild.
Praktische Fragen kommen kaum vor, am ehesten noch im Blick auf Frauen (Kopftuch, These 34), aber die konkreten Fragen des Alltags stehen nicht im Vordergrund. Die Sprache ist nicht immer sorgfältig, manchmal zu plump vereinfachend (z. B. wie der Koran den „Status eines Menschenworts“ gewann, These 9, oder wie der „Sklavenstatus der Frau im Islam“ abzuschaffen sei, These 35), in theologischer Hinsicht hätte hier und da eine Vertiefung gutgetan. Vor allem die sich durchziehende Auffassung, dass alle Religionen (gleichen) Anspruch auf Wahrheit hätten, die Unterscheidung zwischen Gläubigen und Ungläubigen daher obsolet sei und alle Religionen als „gleichwertig“ zu gelten hätten, die Voraussetzung für einen „erfolgreichen Dialog“ also die „wechselseitige Anerkennung“ der Gesprächspartner sei („Wer eine religiöse Wahrheit absolut setzt, macht die Religion zur Gefahr“, 227) und sein Ziel, „die Schaffung einer verbindlichen, gemeinsamen Ethik der drei monotheistischen Religionen“, erscheint theologisch doch deutlich unterbestimmt. Dass der Grundsatz solus homo „neben dem Glauben an Gott“ im Mittelpunkt stehen solle (227), hört sich für protestantische Ohren ebenfalls reichlich schief an.
Aber: Es sind keine tiefschürfenden wissenschaftlichen Erörterungen, zumal nicht aus der Feder eines Theologen, sondern Thesen, die in unmittelbarer Reaktion auf Grundsatzfragen Impulse setzen wollen. Manches wiederholt sich, manches erscheint etwas disparat, doch der rote Faden ist das Anliegen: die Förderung und Formung eines humanistischen, liberalen, europäischen Islam, der die hiesigen Wissenschaftstraditionen schätzt und nutzt und auf diese Weise auf Augenhöhe mit den Religionen und Weltanschauungen in der Gesellschaft kommuniziert. Das wird mit hohem Anspruch vorgetragen, im Ton leidenschaftlich und sehr selbstbewusst – und zugleich optimistisch (Der Reform wird sich der konservative Islam „nur mit Gewalt widersetzen können. Aufhalten können wird er sie jedoch nicht ...“, 10).
Das lässt auch über die vielen Druckfehler, darunter auch gröbere Versehen, hinwegsehen. Es ist ein außerordentlich wichtiges Buch zur richtigen Zeit, zuerst und gerade für Musliminnen und Muslime, die sich der Dringlichkeit des Themas nicht verschließen.
Friedmann Eißler
Anmerkungen
- Denn: „Es gibt im Islam keine vermittelnde Instanz zwischen Gott und dem Menschen und eine solche ist auch nicht nötig. Auch Frauen können die Grundlagen des Islam im Rahmen ihrer eigenen Selbstbestimmung deuten und damit zum Ende der männlichen Dominanz in ihrer Religion beitragen“ (16).