Reformationsjubiläum als kulturelles und religiöses Ereignis
Auf dem Weg zum Reformationsjubiläum am 31. Oktober 2017 ist vieles in Bewegung gesetzt worden. Das Gedenken geschieht nicht national und konfessionell eingeengt. Es ist verbunden mit differenzierenden historischen Erinnerungen, mit Dankbarkeit für das reiche reformatorische Erbe, zugleich mit der Bereitschaft zur Selbstkritik und dem Bemühen, Reformation als unabgeschlossene Aufgabe zu sehen. Auch wenn den Ursprungsorten der Reformation eine besondere Bedeutung zukommt, die Wirkung ist in weltweiter Perspektive wahrzunehmen. Bereits im 16. Jahrhundert zeigte sich evangelischer Glaube vielgestaltig, mit verschiedenen stilistischen Ausprägungen, in unterschiedlichen Zentren und einer Ausstrahlung, die keineswegs auf das Luthertum und die reformierte Tradition beschränkt blieb. Festzuhalten ist allerdings auch, dass der Augustinermönch Martin Luther (1483 – 1546) in der frühen Phase dieser Bewegung im Zentrum stand.
Die Reformation hat die politischen und kulturellen Grundlagen unserer Gegenwart mitgeprägt. Ohne die Erinnerung an sie lässt sich die Geschichte vieler Städte Deutschlands und Europas nicht erzählen. Deshalb beteiligen sich in Deutschland Kommunen, Städte, Länder und der Bund am Reformationsgedenken. Die Evangelische Kirche in Deutschland mit ihren 20 Landeskirchen, ebenso zahlreiche Freikirchen und evangelische Gemeinschaften nutzen das Jubiläum, um sich über ihren heutigen Auftrag zu verständigen. Ein Festgottesdienst und ein Staatsakt in Berlin eröffnen das Jubiläumsjahr am 31. Oktober 2016. Einen Tag vorher wird die neue Lutherübersetzung in Eisenach den Gemeinden zum Gebrauch übergeben. Die Neuausgabe ersetzt den bisher maßgeblichen Text (Revision 1984). In Wittenberg ist die Schlosskirche neu eingeweiht worden. Nach der feierlichen Eröffnung des Jubiläums wird es weitergehen, mit zahlreichen wissenschaftlichen und kulturellen Initiativen und Aktivitäten, die darum bemüht sind, die Reformation als „offene Lerngeschichte“ zu begreifen, als Impuls für eine heutige Erneuerung der Kirchen aus dem Geist Christi. Vom 20. Mai bis 10. September 2017 werden zur Weltausstellung Reformation in Wittenberg zahlreiche Besucher erwartet. Der Deutsche Evangelische Kirchentag versammelt sich mit Gästen aus der weltweiten Ökumene am 28. Mai 2017 zum Schlussgottesdienst auf den Elbwiesen in Wittenberg. Der 31. Oktober 2017 wird einmalig ein bundesweiter Feiertag sein.
Eine Vielzahl von Impulsen stehen in Verbindung mit der Reformation: kulturelle, bildungsorientierte, religionsrechtliche, politische, ebenso kirchliche und theologische. Dabei zeigt sich auch, dass es kein einheitliches Narrativ zum Reformationsjubiläum gibt. Atheistische Organisationen beklagen die aus ihrer Sicht „antihumanistischen“ Tendenzen Luthers. Einzelne Freikirchen kritisieren, dass die Anliegen der sogenannten „radikalen Reformation“ keine hinreichende Berücksichtigung finden. Katholiken sehen als Folge der Reformation die tiefgreifende Ausdifferenzierung und Spaltung des europäischen Christentums, obgleich durch den ökumenischen Dialog Gemeinschaft gewachsen ist. Protestantische Minderheiten thematisieren ihre Marginalisierung und Ausgrenzung.
Die Reformation ist – darauf hat die EKD-Schrift „Rechtfertigung und Freiheit“ m. E. mit Recht hingewiesen – zuerst als religiöses Ereignis zu verstehen. Das „reformatorische Lärmen“ beginnt mit dem Thesenanschlag von 1517. Ein konkreter Bereich kirchlichen Lebens, die Frage nach Buße, Beichte und Ablass, wird zum Ausgangspunkt der reformatorischen Bewegung. Im Zentrum der Reformation als religiöses Ereignis steht die Wiederentdeckung der Rechtfertigungsbotschaft, die Gottes freie Gnade gegenüber allem Volk (vgl. Barmer Theologische Erklärung, These VI, 1934) bezeugt und christliche Identität in konzentrierter Weise zur Sprache bringt. Sie redet von Gottes gnädiger Zuwendung zur Welt (sola gratia), seinem heilvollen Handeln im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi (solus Christus). Sie bezeugt, dass Gottes Liebe unverdient zum Menschen kommt, dass sie nicht als Lohn, sondern als Geschenk im Glauben empfangen wird (sola fide). Nach dem Selbstverständnis der reformatorischen Kirchen ist die Ausrichtung der Botschaft von der freien Gnade Gottes die zentrale Aufgabe der Kirche. Die Botschaft von der Rechtfertigung allein durch Christi fremde Gerechtigkeit ist kein isolierter Lehrsatz neben anderen, vielmehr markiert er Grund und Mitte des christlichen Zeugnisses. Es ist Aufgabe aller Kirchen, diese Botschaft heute verständlich zur Sprache zu bringen.
In einer durch weltanschauliche Vielfalt geprägten Gesellschaft ist es wichtig, unterscheiden zu lernen, Unterscheidungsfähigkeit zu gewinnen und zu vermitteln. Reformatorische Theologie ist bestimmt und geprägt von Unterscheidungen: zwischen Schöpfer und Geschöpf, zwischen Person und Werk, zwischen Glaube und Liebe, zwischen Gesetz und Evangelium. Der Mensch missachtet seine Bestimmung, wenn er Grenzen nicht respektiert und Unterscheidungen aufhebt. „Wir sollen Menschen sein und nicht Gott.“ Dieser Satz Martin Luthers enthält zentrale christliche Orientierungsperspektiven, die in weltanschaulichen Dialogen und Auseinandersetzungen von grundlegender Bedeutung sind. Christlicher Glaube ist eine Schule des Unterscheidens. Unterscheidungen haben etwas Heilsames an sich.
Die Rechtfertigungsbotschaft bestreitet, dass der Mensch sich durch Werke angemessen verwirklichen und definieren kann. Im Wissen um Gottes gnädige Annahme braucht er Anerkennung nicht um jeden Preis zu suchen. Der auf Gottes Liebe Vertrauende muss sich durch sein Handeln nicht „produzieren“. Seine Werke sind freie Lebensäußerungen. Er steht nicht unter dem Zwang, sich durch Werke ein Denkmal zu setzen. „Er ist von der Denkmalpflege seiner selbst befreit” (Jürgen Moltmann).
Für die Begegnung mit anderen Religionen enthält die Rechtfertigungsbotschaft die provozierende Perspektive, dass kultisches und sittliches Handeln nicht heilskonstitutiv sind. Provozierend ist diese Perspektive allerdings nicht nur im Blick auf zahlreiche nichtchristliche Religionen, Weltdeutungen und Erlösungskonzeptionen, sondern ebenso für alle gesetzlichen Konzeptionen des Christlichen, die die Freiheit eines Christenmenschen verleugnen. Die Botschaft von der Rechtfertigung ruft auch den Christen zurück zur Wahrheit des Evangeliums, zu der gehört, dass der Mensch sich Sinn und Ziel des Lebens nicht selbst schaffen kann, dass er ein Empfangender ist, wenn es um die Erfahrung göttlicher Gnade geht. In der Begegnung mit der befreienden Liebe Gottes darf sich der Mensch vom Unschuldswahn und der atemlosen Jagd nach Anerkennung befreien lassen. Die zuvorkommende Gnade Gottes deckt die Taktik des menschlichen Ichs auf, es nicht gewesen zu sein und es andere gewesen sein zu lassen. Sie offenbart, dass die Selbstentlastung des Ichs durch das Beschuldigen anderer kein Weg zur Wahrheit ist. Das durch das Evangelium entlastete Ich aber ist frei zum Vertrauen auf die göttliche Verheißung und zur Liebe, die nicht das Ihre sucht und dem Frieden und der Gerechtigkeit nachjagt.
Reinhard Hempelmann