Bernhard Nitsche

Reinkarnation

Zur westlichen Aneignung einer populären Vollendungshoffnung

Wer heute den Fernseher einschaltet, kann in unzähligen Fantasy-Verfilmungen auf Drachen, Trolle und Gespenster, auf Feen und Götter stoßen. Offensichtlich leben wir in einem Kontext, der zugleich postsäkular und postreligiös ist, weil sich die Grenzen von profan und sakral, von religiös und säkular auflösen.1 In diesem Kontext bleibt die basale Differenz zwischen reiner Diesseits-Einrichtung und möglicher Transzendenz-Bezogenheit bedeutsam. Sie kann vermutlich noch immer als eine fundamentale Leitunterscheidung zur Bestimmung dessen verstanden werden, was als religiös gelten soll: Entweder richten sich die Menschen in einer geschlossenen Welt ein, die allein die Immanenz des kosmischen Geschehens kennt, und suchen darin ihr je eigenes Glück. Oder sie empfinden diese reine Immanenz für sich selbst als einen ungenügenden Bezugsrahmen. Denn dieser kennt allein die normative Kraft des Faktischen. Die Suche nach Gelingen und Erfüllung ist dabei auf die gegebene Kontingenz beschränkt. Fragen nach der großen Gerechtigkeit für alle Menschen oder der universalen Versöhnung der Geschichte voller Abbrüche und Widersprüche bleiben offen.2 Gründe für ein prinzipielles Vertrauen in das unverfügbare Dasein werden dann nicht gebraucht und nicht gesucht. Dem stellt sich das westliche Reinkarnationsdenken entgegen, indem es den Primat des Spirituellen vor dem Faktischen und den Primat der transzendierenden Vollendungshoffnung gegenüber dem Selbsteinschluss in Kontingenz betont. Zugleich hat das Denken von Reinkarnation Anteil an der ökonomischen Grammatik von Vollendungshoffnungen. Dieser Zusammenhang soll abschließend bedacht werden, wenn individuelle Gewinne und zentrale ökonomische Strukturmomente im Blick auf die Heilsökonomie des Reinkarnationsdenkens in seiner westlichen Aneignung herausgestellt werden.

Zur Aktualität des Reinkarnationsdenkens

Die breitenwirksame Popularisierung der Reinkarnationsidee(n) „unterschiedlichster Herkunft und Ausrichtung“ ist inzwischen weit fortgeschritten.3 Zwischen 20 und 25 Prozent der Menschen in Deutschland neigen dem Gedanken der Reinkarnation zu oder halten die Hypothese für möglich. Fragt man nach den Gründen, so kann mit Rüdiger Sachau darauf hingewiesen werden, dass die westliche und moderne Aneignung des Reinkarnationsdenkens einerseits durch hohe Kompatibilitäten zwischen dem autonom-emanzipatorischen Denken in Konzepten der Selbstsorge, Selbstorganisation und Selbstverantwortung ausgezeichnet ist sowie andererseits mit den individualisierten Vorstellungen vom privaten Glück und der eigenen Optimierung bis hin zur Selbstvervollkommnung einhergeht.4 Dieses Denken ist von der Erwartung positiver Lernchancen und durch einen ungebrochenen Fortschrittsoptimismus bestimmt. Stehen das Ziel und sein Erreichen außer Frage, so bleibt nur die Zahl der Etappen auf dem Weg offen. Dies gilt auch für die Frage, welche Wegabschnitte direkt zum Ziel führen und welche Wegabschnitte notwendige, weil ergänzende und vertiefende Umwege als Lernfelder beinhalten.

Diese moderne, fortschrittsorientierte Vorstellung kann im Bild einer nach Höhe (Länge) und Weite (Breite) wachsenden Spirale dargestellt werden. Mit dem Bild der Fortschrittsspirale verbindet sich nicht nur die Vorstellung, dass sich das Leben „in wachsenden Ringen“ entwickelt und heranreift (Rilke).5 Dieses Bild aus der Pflanzenwelt wird mit dem menschlichen Zeitbewusstsein von Gegenwart und Zukunft verbunden, sodass ein Mensch seinen Geist bzw. seine Seele im Durchlaufen verschiedener Stadien progressiv entwickelt. Der einzelne Mensch kann im Durchlauf durch analoge Bedingungen und Lebensaufgaben seine Seele entfalten und durch die Arbeit an sich selbst zur Vollkommenheit runden. Damit wird ein ethisch-spiritueller Reifungsprozess der eigenen Selbstvervollkommnung beschrieben.

Allerdings haben diese westlichen Ausprägungen des Reinkarnationsdenkens entscheidende Voraussetzungen: Sie reproduzieren das emanzipierte und individualisierte Paradigma, wonach jeder Mensch in unhintergehbarer Eigenverantwortung „Schmied des eigenen Glückes“ ist. Diese Konzeption der soteriologischen „Ich-AG“ legt das Gelingen in die Hände des Individuums und seine Selbstverantwortung. Dessen biologische und familiäre Disposition, sein soziales Gefüge, sein geschichtlicher Lebenszusammenhang, seine Privilegierung oder Entprivilegierung, seine gesamtkosmische Einflechtung, all das wird als Ausdruck privater und individueller Entscheidung betrachtet. Denn im Zentrum des Gedankens von Reinkarnation steht ein kausal kalkulierbarer und rational steuerbarer Tun-Ergehen-Zusammenhang einer nach Kriterien des Denkens und Handelns offen gelegten Vergeltungs-Kausalität. Damit rücken die Fragen nach den sozial vernetzten Bedingungen eines glücklichen Lebens sowie die Fragen nach einer menschheitsuniversalen Gerechtigkeit aus dem Blick. Genauerhin wird von diesen Fragen entlastet, weil die Verantwortung für das jetzige Dasein in vergangenen, zurückliegenden Leben liegt und die offene Zukunft unendlich viele Chancen bietet, um das eigene Schicksal zum Positiven zu wenden. Die befristete Zeit des Lebens im Hier und Jetzt ist vor allem für das künftige Leben bedeutsam. Die jetzigen Entscheidungen und aktuellen Gestaltungsweisen des Lebens bestimmen weniger den unmittelbaren Lebenszusammenhang selbst als vielmehr die mittleren Transzendenzen künftiger Leben. Deren Prämissen und Bedingungen werden durch das jetzige Leben prädisponiert. In dieser Logik der fortschrittsorientierten Akkumulation wird eine Kontinuität des Individuums vorausgesetzt. Doch darf als höchst umstritten gelten, was mit der Beschreibung dessen, was im Kreislauf von Leben und Tod, von „Selbst-Befreiung“ oder „Selbst-Versklavung“ wieder in den Zusammenhang des Lebens und des Leidens zurückgeführt wird, assoziiert ist.

Eine erste trennscharfe Unterscheidung ergibt sich bezüglich der Orte und Gestalten der Wiederverkörperung. Zumindest in den europäischen Traditionen der Moderne wird mit dem Gedanken der Reinkarnation in aller Regel die Vorstellung einer Wiederverkörperung im menschlichen Daseinszusammenhang verbunden. Mithin stellen jene Systeme, die in der westlichen und nördlichen Hemisphäre einen Wechsel zwischen dem menschlichen, tierischen, übermenschlichen oder gar pflanzlichen Dasein annehmen, die Minderheit dar.

Systematisch kann die Ausformulierung und Aneignung des Reinkarnationsgedankens zweitens danach unterschieden werden, ob es sich um eine Form der „Seelenwanderung“ oder um eine Form der „Wiederverkörperung“ handelt. In der Literatur wird von „Wiederverkörperung mit Seelenwanderung“ im hinduistischen Denken und von „Wiederverkörperung ohne Seelenwanderung“ im buddhistischen Denken gesprochen.6 Dieses Unterscheidungskriterium ist angesichts der pluralen Traditionsstränge in Hinduismus und Buddhismus historisch-systematisch allerdings von begrenzter Reichweite und dient eher dazu, grundlegende Tendenzen im Selbstverständnis der westlichen Aneignung festzumachen. An dieser Stelle ist die religionswissenschaftliche und religionsgeschichtliche Rückfrage dringlich.7

Der Begriff der „Seele“ hält hier den offenen Problemstand fest, was in welcher Hinsicht wiederverkörpert und als die kontinuitätsverbürgende Instanz angesehen wird. Wie die nachfolgenden Darlegungen zeigen, werden sehr unterschiedliche hinduistische und buddhistische Begriffe in den englischen und deutschen Übersetzungen nahezu unisono mit „Seele“ übersetzt.

Daraus ergeben sich zwei weiterführende Schwierigkeiten. Zunächst kann die subjekttheoretische Debatte zeigen, dass die Frage der Personkontinuität im Stakkato der Bewusstseinsmomente und in der Nacheinanderfolge der Ich-denke-Fälle keineswegs selbstverständlich ist, sondern eigener Begründung bedarf.8 Darüber hinaus ist für die hinduistischen und buddhistischen Kontexte der genaue Sachgehalt klärungsbedürftig. Zumeist dominiert bei der Reinterpretation der unterschiedlichen Konzepte unter geformten europäischen Denkmustern ein platonisch-neuplatonisches oder gnostisches Denken, welches die unsterbliche Seele oder eine sich durchhaltende Lichtgestalt vom Leibbezug ablöst. Angesichts solcher Problemlagen verschärft sich die Frage, inwiefern sich das moderne Reinkarnationsdenken auf einen traditionell geprägten Hinduismus oder Buddhismus berufen kann.

Die moderne Aneignung und westliche Profilierung des Reinkarnationsdenkens kennt verschiedene Paradigmen. Sie kann zunächst an jene Fragen anknüpfen, die bereits Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781) in 44 von 100 Paragraphen seiner evolutiv ausgerichteten Denkschrift „Die Erziehung des Menschengeschlechtes“ aufgeworfen hat.

Das Paradigma von der Erziehung des Menschengeschlechtes

Für Lessing gehört die Vorstellung der Reinkarnation zu den ältesten Anschauungen der Menschheit. Deshalb fragt er danach, ob die Hypothese von der mehrfachen Existenz eines Menschen in unterschiedlichen Leben (§ 94), mithin die Seelenwanderung oder der Reifungsprozess der Seele auf dem Weg des Lernens, lächerlich oder ernst zu nehmen ist (§ 95). Aus ganz praktischen Gründen geht Lessing von der Notwendigkeit einer Fülle von Lernerfahrungen und Reifungsschritten aus, denn der Weg zur Vollkommenheit erfordert für ihn eine Vielzahl von Erfahrungen und Möglichkeiten: „Du hast auf deinem ewigen Wege so viel mitzunehmen! So viel Seitenschritte zu tun! … Eben die Bahn, auf welcher das Geschlecht zu seiner Vollkommenheit gelangt, muss jeder einzelne Mensch [früher, oder später] erst durchlaufen haben; – in einem und eben demselben Leben durchlaufen haben? Kann er in eben demselben Leben ein sinnlicher Jude und ein geistiger Christ gewesen sein? Kann er in eben demselben Leben beide überholet haben? … Das wohl nun nicht! – aber warum könnte jeder einzelne Mensch auch nicht mehr als einmal auf dieser Welt vorhanden gewesen sein?“ (§ 92-94)

Nach Lessing wird der Gedanke im Laufe der Romantik (u. a. Johann Georg Schlosser, 1739 – 1799) und insbesondere im Verlauf des 19. Jahrhunderts sehr populär. Einen wichtigen Markstein setzt der französische Spiritualismus des 19. Jahrhunderts. Allan Kardec (Hippolyte Léon Denizard Rivail, 1804 – 1869) formulierte in seiner Programmschrift „Buch der Geister“ (1857) eine „Vielheit der Existenzen“. Diese bündelte er unter dem Begriff der Reinkarnation. Wie Lessing die ethisch-moralische Linie der Menschenbildung betonte, vertrat Kardec die Auffassung, dass es viel zu lernen gibt und die ethisch-moralische Entwicklung deshalb einen langen Prozess darstelle. Allerdings kann dieser einen doppelten Ausgang (gut: Himmel versus schlecht: Hölle) haben. Beim notwendigen Aufstieg helfen die höheren Geister (z. B. Schutzengel oder Jesus), die mit Gott als dem höchsten Geist in Verbindung stehen.9

Das Paradigma der vollkommenen Christogenese aller Schöpfung

1785 erscheint in Leipzig die anonyme Schrift „Beiträge zur Lehre von der Seelenwanderung“, die von einem zeitgenössischen Gelehrten mit hoher theologischer und philosophischer Bildung geschrieben worden sein muss. Das darin abgedruckte Gedicht „Der Metempsychosist“, das poetisch und systematisch auf hohem Niveau ausgearbeitet ist, kann hier nicht wiedergegeben werden. Dieser Titel dient nachfolgend als Pseudonym für den Verfasser.10 Hier interessiert das zentrale Anliegen, die Versöhnung von Seelenwanderungshypothese, Christentum und Aufklärung. Im philosophisch und ethisch aufgeklärten Reifungsprozess mit einem geistlichen und weisheitlichen Fortschrittsdenken ist Christus Wegweiser und Vorbild auf dem Weg zur Vollkommenheit. Gemäß dem Wort des Matthäus „Darum sollt ihr vollkommen sein, wie Euer Vater im Himmel vollkommen ist“ (Matth 5,48) kann nur ein solcher Mensch Maßstab und Leitstern dieses Prozesses sein, der selbst aus dem Schoß des Vaters stammt und in die Wirklichkeit des Vaters zurückgekehrt ist. Die Klarheit und Reinheit des Vollkommenen kann nicht durch die Anstrengung des Menschen erreicht werden. Sie ist im Vertrauen auf die Verdienste Christi möglich und deshalb unverdienbare Gnade, also eine in der Hoffnung auf Gott geschenkte Möglichkeit. So ist der Mensch auf die Vollkommenheit des Himmels und nicht auf die Verlorenheit der Hölle ausgerichtet. Signifikant und untypisch bezieht der anonyme Verfasser das gesamte kosmische Geschehen in diesen Prozess der geistlichen Bewusstseinsbildung (oder „spirituellen Noogenese“) ein: „Soll aber ein Wesen all die Stufen der Erden, Steine, Pflanzen, Tiere mit ihren vollen überzähligen Mittelschattierungen durchsteigen, so muss es auch notwendig die verschiedenen Gradationen der Menschen Unvollkommenheit und Vollkommenheit durchschreiten.“11

Besondere Bedeutung kommt der Schlussbetrachtung zu, in welcher der Metempsychosist den spezifischen „Nutzen“ der Vorstellung einer Seelenwanderung unter fünf Gesichtspunkten zusammenfasst und herausstellt: „Sie gibt mir (a) einen bestimmten und eben deswegen beruhigenden Blick in die Zukunft, wenn ich das Bedürfnis fühle, in jene Dunkelheiten jenseits des Grabes hinauszuschauen; sie gibt mir (b) manche deutlichere, und eben deswegen mehr befriedigende Aufschlüsse über manche sonderbare Auftritte dieses Lebens, über die ungleiche, oft ungerecht scheinende Austeilung physischer und moralischer Güter, [zudem] über so genanntes Glück und Unglück, über Freuden und Leiden, die sie mich als nothwendige, höchstweise und höchstgute Erziehungsmittel betrachten lehret; sie bestärkt und vergrößert (c) meinen Glauben an den allgemeinen Welten- und Menschen-Vater, und mein kindliches Vertrauen zum unsichtbaren aber nie irreleitenden Führer; sie bestätigt mich (d) im Glauben an Seelenfortdauer und Unsterblichkeit; sie treibt mich (e) zu Menschenliebe, Duldsamkeit und zuvorkommender Dienstfertigkeit gegen alle meine Mitwanderer, die zwar auf sehr verschiedenen Wegen doch alle nach einem Ziele hinstreben, sich wohl gar nicht immer unerkannt begegnen, … sich unterstützen, belehren und ihre Erfahrungen mitteilen.“12

In typischer Weise wird hier ein aufklärerisch idealisierter und ethisch hochmotivierter Solidaritätszusammenhang unter allen Menschen formuliert, die Schwestern und Brüder oder Weggefährten auf den unterschiedlichen Wegen zum selben Ziele sind. Wie in den holistischen Konzepten des 20. Jahrhunderts werden hier bereits Naturgegebenheiten und alle Lebewesen in einer dynamischen Werdewelt eingefangen, deren höchste Existenzform auf Vollkommenheit hin ausgerichtet ist.

Das Paradigma von rationalem Karma und himmlischer Lichtgestalt

Für die Gründerin der Theosophischen Gesellschaft, die Deutsch-Russin Helena Pe­trovna Blavatsky, geb. Gräfin Hahn (1831 – 1891), sind es u. a. die Aporien der Theodizee-Problematik, welche eine rationale Plausibilität für den Gedanken der Reinkarnation und die eigenverantwortliche Begründung der Abgründe des Lebens eröffnen: „Nur das Wissen von den beständigen Wiedergeburten einer und derselben Individualität durch den ganzen Lebenszyklus; ... nur diese Lehre, sagen wir, kann uns das geheimnisvolle Problem von Gut und Böse erklären und den Menschen mit der schrecklichen scheinbaren Ungerechtigkeit des Lebens aussöhnen. Nur eine solche Gewissheit kann unseren empörten Gerechtigkeitssinn beruhigen.“ Die theosophische Gesellschaft knüpft damit bewusst an das indische Karmadenken an und interpretiert es im Lichte einer rationalistischen Gerechtigkeitsmaxime und der technokratischen Moderne als strenge kausale Kontinuität bzw. Determination. Darüber hinaus greift die Begründung die platonisch-europäische Seelenwanderungslehre auf. Insofern stellt der Kreislauf der Wiedergeburten eine planbare Möglichkeit dar, sein Leben selbst zu rechtfertigen und die eigene Vervollkommnung voranzutreiben. In diesem Zusammenhang ist die Frage noch wenig erforscht, in welchem Sinne und Maß die europäische Theosophie den indischen Neohinduismus beeinflusst hat. Doch ist diese Frage sowohl für die Entwicklung des neohinduistischen Selbstverständnisses als auch für die Analyse von interkulturellen Beziehungen grundlegend. Denn die Theosophie war entschieden an einer Abgrenzung vom Christentum interessiert. Aufgrund dieser kulturellen Wechselwirkung darf vermutet werden, dass das neohinduistische Karmadenken zu einem zentralen Identitätsfaktor und zu einem Identitätsmarker gegenüber dem (kolonialen) Christentum wurde.13

Allerdings hat etwa Sri Aurobindo eine solche Vergeltungskausalität als Vorstellung primitiver, barbarischer Gerechtigkeit abgelehnt.14 Wie bereits beim Metempsychosisten werden die unverständlichen Schicksale des Lebens und die Gerechtigkeitsprobleme des individuellen Lebens von der Vertikalen (Transzendenzbezug) in die Horizontale (Herkunfts- und Zukunftsbezug) verlegt. Im Unterschied zum Metempsychosisten dominiert nicht das geschwisterlich-solidarische Engagement auf dem Weg zur Vollkommenheit, sondern (in der Theosophie und im Neohinduismus?) die individualisierte Perspektive aufeinanderfolgender Existenzen. So werden die zeitgleichen Ungleichzeitigkeiten und die existenziellen wie sozialen Gerechtigkeitsprobleme privatisiert. An die Stelle der unverfügbaren Gnade rückt das funktionale Gesetz des nach Gedanken und Werken kalkulierbaren, individuellen Fortschritts oder Rückschritts.

Aufgrund interner Streitigkeiten innerhalb der theosophischen Bewegung begründete Rudolf Steiner, zusammen mit anderen Mitgliedern der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft, den neuen Traditionsstrang der Anthroposophie. Sie zielt auf eine Synthese zwischen der ratio­nalen und individualisierten Gesetzeslogik des karmischen Denkens, der Figur Christi als der Leitidee des vollkommenen göttlichen Menschen und einer (neu)platonischen Unsterblichkeit der Seele. Steiner geht von einer Wiederverkörperung und einem wiederholten Erdenleben als Schicksal des Menschengeistes aus. Im Lernfortschritt neuer Erfahrungen kann das „Konto“ der Erlösung und Vollendung positiv oder negativ gestaltet werden. Als Karma können die Karten angesehen werden, die im Spiel des Lebens gespielt werden. Hingegen ist es die Freiheit des Menschen, mit den Karten im Spiel gestaltend aktiv zu sein.15 Der Mensch soll sein Leben der Lichtgestalt des Himmels (Christi) zuführen. Weil dies ein längerer Lernprozess ist, wird das „Ich“ als die wahre Wesenheit des Menschen in unterschiedlichen Zusammenhängen wiederverkörpert. Dieses Ich ist in seinem karmischen Dasein von drei Hüllen umwoben, die die konkrete geschichtliche Existenz bestimmen und entsprechend ihrer Materialität und Erdenschwere unterschieden werden können (physischer Leib, Ätherleib, Astralleib).

Der Läuterungsprozess, den das Ich nach dem Tod durchläuft, kann dann durch vier Phasen charakterisiert werden. Im Tod lässt das Ich den physischen Leib fallen. Dieser wird Teil der kosmischen Wirklichkeit. Die im Ich versammelte Persönlichkeit des Menschen kann vermittels des Astralleibes und des feinstofflichen Ätherleibes die objektiven Geschehnisse des vergangenen Lebens erinnern und anschaulich Revue passieren lassen. Dieser Film des Lebens und der Erlebnisse verläuft zeitlich umgekehrt vom Tode in Richtung Geburt. Nach diesem Erinnerungslauf löst sich in Phase 2 auch der Ätherleib ab und geht in den kosmischen Äther ein. Zugleich bereitet sich das Ich auf die künftige Existenz als neue ethische Herausforderung und karmische Aufgabe vor. Phase 3 wird kamma loka (Phase oder Ort der Begierde) genannt. Sie führt zur Begegnung mit allen geistigen Wünschen und psychophysischen Begierden und benennt den Reinigungsprozess (Fegefeuer: Purgatorium) zur Ablösung von allen irdischen Gebundenheiten und Einflüssen. Um diesen Reinigungsprozess zu durchlaufen, muss die Persönlichkeit des Ich wiederum die ganze irdische Existenz rückwärts vom Tod zur Geburt durchleben, alle Freuden und Schmerzen, alle Taten in Denken und Handeln nach- und neu erleben. In diesem Geschehen der Reinigung wird die Biografie von Abschattungen gereinigt und im Lichte der vollkommenen Geisteswelt geläutert. Sobald dieses erinnerungsgeleitete Läuterungsgeschehen durchlaufen ist, kann auch der Astralleib, welcher die Erinnerung an die vergangenen Geschehnisse ermöglicht, losgelassen und abgelegt werden. Während der Astralleib in die Astralwelt eingeht, bleibt das Ich als reine Persönlichkeit bestehen. Im Land des reinen Geistes wächst das Ich, indem es Vergangenes verarbeitet und neue Aufgaben in den Blick nimmt. Zugleich wird in dieser Prozessphase geklärt, welches alte Karma im neuen Leben abgetragen werden muss. Gemäß der androgynen Kugel-Anthropologie des Platonismus, wonach die männliche und die weibliche Hälfte zusammen den ganzen Menschen bilden, hat das Ich in jeder Epoche sowohl eine männliche als auch eine weibliche Existenz zu durchlaufen. Diese platonisch inspirierte Anthroposophie schließt darum (und im Unterschied zu Buddhismus und Hinduismus) die Existenz des Ich in anderen Daseinsformen pflanzlicher, tierischer oder übermenschlicher Art aus.

Das Paradigma der Popularisierung von Eigenleistung und Wiederverkörperung

Typisch für die gegenwärtige Aneignung des Reinkarnationsdenkens ist vor allem die von der amerikanischen Tänzerin und Schauspielerin Shirley MacLaine vertretene Variante einer an Autonomie und Freiheit interessierten Identitätssuche. Die Vielfalt des menschlichen Lebens und seine unterschiedlichen Schattierungen werden im Bild von der „Raupe mit Schmetterlingsflügeln“ zusammengefasst. Erste und vorrangige Aufgabe im Lebensprozess ist es, „meine Identität zu entdecken“16. Je mehr MacLaine andere Menschen kennenlernte, umso mehr verstand sie, wie sie selbst war und warum sie Tänzerin und Schauspielerin geworden war. Dabei zeigt sich ihre Identitätssuche als Teil einer übergeordneten Sinnsuche, die ihr an sich erfolgreiches Leben rahmen kann. Dieser Deuterahmen soll erklären, wozu das Ganze gut ist, wozu ein individuelles Geschehen und das konkrete Dasein dienen sollen: „Ich habe Erfolg, privat und beruflich, und bin zufrieden damit. Ich trinke nicht, nehme keine Drogen. Ich liebe meine Arbeit, ich liebe meine Freunde. Ich habe ein erfülltes Privatleben, auch wenn‘s ein paar komplizierte Punkte gibt … So wenig ich an Gott und Religion und dem Jenseits interessiert war, so sehr interessierte mich eine andere Sache: die ‚Persönlichkeit‘, meine eigene Persönlichkeit und die aller Menschen, denen ich begegnete. Persönlichkeit und Identität waren etwas Wirkliches für mich … Weil ich am Ursprung einer eigenen Persönlichkeit interessiert war, fragte ich mich, ob in mir mehr sein könnte, als mir bewusst war. Vielleicht lagen in meinem Unterbewusstsein andere Identitäten verborgen.“17

Hier wird exemplarisch deutlich, wie sehr der Reinkarnationsglaube in Moderne und Gegenwart „als Ausdruck individueller Sinnsuche“ verstanden werden muss und einem narzisstischen Lebenstypus zugehört, der die Frage nach dem Unbedingten und damit die Frage nach großer, vertikaler (und göttlicher) Transzendenz in eine Frage nach unüberschaubaren oder ohnendlichen Kausalitäten des individuellen Transzendierens in der Horizontalen, d. h. in eine unabschließbare Folge multi-biografischer Horizonte verwandelt.18 Letztendlich kann die Nutzung von Trance-Medien und -Praktiken okkulter Rituale, von magischen Handlungen, Déjà-vu-Erlebnissen und auch das „Channeling“19 als Varianten des vielfältigen Versuchs von Shirley Mac­Laine verstanden werden, ihre Rollenidentität experimentell zu erproben und zu erweitern. Diese Experimentierfelder sind Bausteine einer erlebnisorientierten und prozessoffenen Identitätskonstruktion sowie Deutemuster auf der Suche nach einer übergeordneten Sinngebung. MacLaines spirituelle Reise repräsentiert so in exem­plarischer Weise den posttraditionalen Typus hoch individualisierter und popularisierter Spiritualität, der sich aus einem traditionellen Christentum heraus entwickelt hat und die Wiedergeburtslehre als Erklärungsmuster für gegenwärtige Lebensprobleme und schicksalhafte Beziehungen integriert.20 Obwohl eine Krebserkrankung oder ein Unfalltod erschreckend und grausam sein können, sind solche Ereignisse für MacLaine doch selbstbestimmt, Resultat eines eigenen, wenn auch vergangenen und vielleicht nicht mehr erinnerten Handelns.21 Ein durchschlagender Zynismus wird dadurch vermieden, dass jeder Mensch über jedes Ereignis seines Lebens selbst schon (in einem vergangenen Leben) bestimmt hat.

Noch der Zeitpunkt und die Umstände des eigenen Todes werden nach MacLaine vom Menschen selbst bestimmt. Daher kann von einem Lebensmodell radikalisierter Selbstverantwortung gesprochen werden. Dieses Modell setzt innerhalb einer multi-biografischen Entwicklung monokausal an. Die Zurückführung gegenwärtiger Umstände auf vergangene Taten soll die gegenwärtigen Zustände schlüssig erklären. Durch diese ohnendliche Verlängerung der Existenzen nach rückwärts (Herkunft) und nach vorwärts (Zukunft) unter dem kalkulierbaren Gesetz des Karmas wird die soteriologische Eigenverantwortung durch extreme zeitliche Entlastung kompensiert.

MacLaines Verständnis von Reinkarnation konvergiert insofern mit dem Denken von Thorwald Dethlefsen, als biografische Schicksalsschläge, individuelle Leiden und persönliche Katastrophen für ihn immer Faktoren sind, die spirituelle Lernaufgaben anzeigen. Insofern kann die Begegnung mit vergangenen Leben (psychoanalytisch) auch als eine Begegnung mit den dunklen Schattenthemen und anstehenden Integrationsaufgaben des jetzigen Lebens gedeutet werden. Für Dethlefsen sind diese Begegnungen mit schmerzlichen Regressionen verbunden. Das Ziel liegt allerdings nicht in der Regression, sondern in der Progression eines bereinigten und zufriedenen Lebens. Im Anschluss an die traditionelle Psychoanalyse und Carl Gustav Jung ist die Vergangenheit kein Selbstzweck. Vielmehr geht es Dethlefsen um die positive Integration der Schattenthemen für ein produktives Hier und Heute.22

Insbesondere Shirley MacLaines Interpretationsansatz ist für die Formen der popularisierten Religion paradigmatisch. Ihr Plädoyer für Hyper-Individualität verbindet sie mit der Vorstellung, dass ihre Subjektivierungsprozesse und Identitätskonstruktionen göttlich umfangen sind und von einem höheren Selbst begleitet werden. Greift die Rede vom Selbst auf Übersetzungen des hinduistischen Denkens zurück, so rekurriert MacLaine auf eine Instanz, die sich ihr im Rahmen der Reinkarnationstherapie durch Chris Griscom erschlossen hat. Diese göttliche Instanz formuliert: „Ich bin bei Dir von Anbeginn der Zeit. Ich bin nie von Dir getrennt. Ich bin Du. Ich bin Deine unbegrenzte Seele. Ich bin das unbegrenzte Du, das Dich durch jede Reinkarnation führt und lehrt.“23 Damit treten Mensch und Gott, Kosmos und Geschichte in einen Gesamtzusammenhang ein, der unter dem Motiv der vereinigten Großen Energie versammelt wird. In diesem Modell wird die heute vielfach verbreitete Rede von Gott als Energie oder die Rede von göttlichen Energien im Kosmos akzentuiert:24 „‚Was ist der Unterschied zwischen Dir und Gott?‘ Fragte ich. ‚Es gibt keinen‘, sagte es, ‚denn jede Energie entspringt ein und derselben Quelle. Wir sind alle Teil von Gott. Wir sind alle persönliche Reflexionen der Gottesquelle. Gott ist wir – und wir sind Gott.‘ ‚Und du bist ich.‘ ‚Richtig.‘ ‚Und weshalb sind wir getrennt worden? Warum sind wir nicht alle eine große, vereinte Energie?‘ ‚Im Grunde genommen sind wir das. Doch einzelne Seelen wurden von der höheren Schwingung getrennt in dem Prozeß, verschiedene Lebensformen zu erschaffen. Verführt von der Schönheit ihrer eigenen Schöpfungen, gerieten sie in Gefangenschaft des Körperlichen und verloren dadurch ihre Verbindung zum göttlichen Licht. Der Schrecken darüber war so groß, daß er ein Schlachtfeld erschuf, welches euch jetzt unter den Begriffen von Gut und Böse bekannt ist. Karma, das heißt Ursache und Wirkung, kam in das Sein als Methode, um letztlich die künstlichen Begriffe von Gut und Böse auszulöschen. Letztlich bewohnten die Seelen höhere Primaten, um sich später zum Homo sapiens zu entwickeln. Reinkarnation ist für Karma ebenso wichtig, wie Karma für Reinkarnation. Sie ist der Vorgang, der jeder Seele Gelegenheit gibt, alle menschlichen Erfahrungen zu machen, sie ist der Weg zur vollkommenen Spiritualität und zur Vereinigung mit der Gotteskraft.“25

Der von MacLaine herausgestellte „Vorgang, der jeder Seele Gelegenheit gibt, alle menschlichen Erfahrungen zu machen“, erlaubt jedem Menschen, multiple Existenzen und multiple Identitäten zu imaginieren, in denen der Wunsch, einmal Superman oder Transvestit, einmal Erfinder oder Philosoph zu sein, ebenso erfüllt werden kann wie der Wunsch, Hure, Hexe oder Heilige und Komödiantin, Kaufmannsfrau oder Königin zu sein.

Aus christlicher Perspektive ist zu bemerken, dass die große göttliche Energie und die menschlich-psychische Energie im Prozess der Vereinigung, in der populären Version von Shirley MacLaine nicht mehr angemessen unterschieden werden. Daraus ergibt sich die Frage, ob in anderen Formen der Rede von Energie der „Gabecharakter“ oder „Geschenkcharakter“, also das asymmetrische Begründungsverhältnis zwischen menschlichem Selbstsein und göttlicher Ermöglichung, deutlicher zum Ausdruck gebracht werden kann. Dann können die sublimen oder offenkundigen Tendenzen zu einem (synthetischen) Energie-Monismus überwunden werden. Dann kann die für den christlichen Glauben bedeutsame Differenz zwischen göttlicher und menschlicher Aktivität bewahrt sein (2. Kor 4,7).

Aussichten: Zur sozio-ökonomischen Grammatik von Heilsökonomien

Signifikant für die moderne Situation religiöser Einstellungen ist die in den Prozessen der Globalisierung, der Pluralisierung und der systemischen Differenzierung der Gesellschaft gegebene Individualisierung in den spirituellen Praktiken und religiösen Überzeugungen. Es besteht kein Zweifel, dass die Menschen in der späten Moderne traditionelle Bindungen oder präskriptive religiöse Glaubensvorstellungen weitgehend hinter sich gelassen haben. Religionssoziologisch unbestritten ist der Anstieg subjektiver Selbst-Ermächtigung in individuellen Zusammenstellungen je eigener Patchwork-Spiritualität.26 Dieses Patchwork wird vielfach nicht anhand der alten Traditionen selbst, sondern aus den öffentlich kommunizierten Traditionsresten der alten Weltreligionen und den modernen, medial kommunizierten Sinnstiftungen in neuer Weise je individuell und synthetisch rekomponiert. So gibt es nicht nur das multifaktorielle Patchwork eigener Identitätsbildung, sondern auch die „multiplen Identitäten“, also jene (mitunter hochreflektierten) Mehrfach-Identifikationen mit Elementen aus unterschiedlichen Traditionen, die über die Systemgrenzen hinweg so etwas wie funktionale Entsprechungen oder Familienähnlichkeiten erkennen lassen.27 Ebenso steht außer Zweifel, dass die individuelle Re-Komposition in hohem Maße nicht nur auf medial kommunizierte Traditionsstücke, sondern auch auf kollektiv anerkannte Kriterien des gesellschaftlichen Mainstreamings zurückgreift. Die Moderne ist darum von der paradoxen Situation geprägt, dass Individualisierung und Standardisierung miteinander ansteigen.28 Um einen profanen Vergleich zu wählen: Zwar hat jeder sein individuelles Mobiltelefon, doch ist der gesellschaftlich/beruflich »out«, der ohne Smartphone lebt.

Die Aneignung des Reinkarnationsdenkens in den westlichen Gesellschaften ist darum typisch in diesem zweifachen Sinne: typisch für die Mischung zwischen Diesseits-Orientierung und Transzendenz-Offenheit sowie typisch für die je individuelle Re-Komposition überlieferter unterschiedlicher Traditionsreste. Der Zusammenhang von multifaktorieller und pluraler Aneignung sowie von individueller und multipler Re-Komposition steht darüber hinaus auch im Zusammenhang „übergeordneter Gesetzmäßigkeiten“. Von daher gewinnt die Frage nach der Ökonomie von Heilsökonomien in doppelter Weise Relevanz.

Einerseits macht diese Frage für persönliche Interessen, individuelle Gewinne und subjektive Beheimatungen aufmerksam. Diese dokumentieren in ihrem Subtext jene Emotionszusammenhänge, rituellen Gestaltungen und lebensorientierten Praktiken, welche Menschen dazu motivieren, dieses oder ein anderes spirituelles Angebot auf dem Markt der Möglichkeiten für sich als wichtig zu empfinden. Die Frage nach den subjektiven Gründen und individuellen Motivationen ist von großer Wichtigkeit. Denn es darf nicht übersehen werden, dass in ihnen eine je individuelle Rationalität der Gründe erkennbar wird, die im Kontext pluraler Auswahl-Religiosität selektiv-eindeutige, patchworkartig-synthetisierte oder integrativ-multiple Identifikationen ermöglicht.29 Allerdings ist anzunehmen, dass diese Gründe primär nicht durch elaborierte Reflexionen einer rationalen Wahl gewonnen werden, sondern aufgrund individueller Einstellungen, spiritueller Praktiken, emotiver Gestimmtheiten sowie aufgrund beziehungsbestimmter Prozesse des Kennenlernens in der persönlichen Umgebung ausgebildet werden.

Die hohe Akzeptanz des Reinkarnationsdenkens liegt unter anderem darin begründet, dass die Bestimmung dessen, was in welcher Weise reinkarniert wird, weithin variabel bleibt und unterschiedlich verstanden wird. In diesem Sinne repräsentiert die westliche Aneignung des Reinkarnationsdenkens eine kontextangepasste und individuell komponierte Vorstellung von Weiterleben, das durch subjektive Selbstermächtigung, individuelle Re-Komposition und multiple Identifikation bestimmt ist. Sowohl die Instanz der Reinkarnation als auch der Modus der Wiederverkörperung bleiben unbestimmt und schmiegen sich dem jeweils individuellen Deuterahmen an. Ob es sich bei der Kontinuität verbürgenden Instanz um den (nichtmenschlichen, weil) göttlichen Grund der menschlichen Subjektivität, um die ungegenständlich spontane Freiheit im Sinne Kants (als transzendentales Vermögen zur Selbsttätigkeit), um die sozial individuierte und geschichtlich bestimmte Persönlichkeit, um eine Tatbilanz oder um eine bewusste bzw. unbewusste Instanz oder Kraft, eine metaphysische Seele oder einen zum Lichtimpuls geschrumpften Identitätskern handelt, wird in der Rede von Reinkarnation sehr variabel verstanden. Hier folgt fast jeder seinen eigenen Assoziationen und Optionen und kann jeder nach eigener Façon selig werden.

Andererseits darf nicht übersehen werden, dass die sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten eine sozioökonomische Atmosphäre erzeugen und ein grundständiges Ökonomie-Verständnis prägen, welches auf die spirituelle Ebene durchschlägt und religiöse Heilsvorstellungen wie den Gedanken der Reinkarnation formt. Folgende Strukturbedingungen erscheinen für ein Verständnis der Ökonomie des Reinkarnationsdenkens in der westlichen Aneignung bedeutsam:

Funktionale Effizienzsteigerung: Das Höher, Schneller, Weiter der modernen Dienstleistungsgesellschaften mit ihren Prozessen der Beschleunigung und der funktionalen Effizienzsteigerung führen zu erhöhten Ansprüchen an das beschäftigte Personal und zu einer Entstandardisierung der Lebensvollzüge. Es zwingt vielen Menschen ein Maximum an Flexibilität und selbstverantwortlicher charismatischer Unternehmerschaft im modernen Multi-Level-Marketing auf.30 Doch wie ist die Multiplizierung von Aufgaben (Multi-Tasking) und die beschleunigte Effizienzsteigerung ohne individuellen Burnout zu realisieren bzw. soteriologisch zu kompensieren?

Im Kontext des Reinkarnationsdenkens ist es vor allem die Vorstellung von der Kontinuität zwischen der jetzigen Existenz und den vergangenen Existenzen, die den Augenblick des jetzigen Daseins ebenso psychisch entlastet, wie sie die Erwartung neuer Chancen in neuen Existenzen eröffnet. Die Begrenztheiten des Lebens und die Vergeblichkeiten der jetzigen Existenz werden durch die Hoffnung oder den Wunsch von unbegrenzten Chancen in der Vielfalt von Möglichkeiten in anderen Existenzen kompensiert. Das beschleunigte Multi-Tasking wird in entschleunigten Multi-Biografien – unter einem „Totalausschluss von Kontingenz“31 – einlösbar. Die Vielfalt der Lebensaspekte und die leistbaren Kontoeinzahlungen können durch potenziell unbegrenzte Möglichkeiten gleichsam ins Unendliche gesteigert werden. Donald Duck kann in der Balance von Anstrengung und Güte zu Dagobert Duck werden, ohne ein Geizhals werden zu müssen. Die Entlastung des jetzigen Lebens nach rückwärts (durch Entscheidungen vergangener Existenzen) und nach vorwärts (durch die Fülle künftiger Möglichkeiten) dürfte entscheidend zum öffentlichen Erfolg der Denkfigur Reinkarnation beitragen.32 Allerdings ist es philosophisch zweifelhaft und nach Shankara und Hegel unmöglich, Vollkommenheit und Vollendung durch die ohnendliche Aneinanderreihung kontingenter Fortschritte zu realisieren.

Inwieweit der generative Wunsch, dass etwas von der eigenen Existenz weitergehen möge, in diesem Denken eine zentrale Rolle spielt, wäre im Blick auf eine sinkende Geburtenrate und eine vielfache Kinderlosigkeit eigens zu prüfen. Gerade dieser Aspekt verknüpft sich mit dem Tribut, welcher die berufliche Karriere von Frauen in den westlichen Leistungs- und Dienstleistungsökonomien vielfach einfordert. So dürfte die verbreitete Aneignung des Reinkarnationsdenkens unter den Prämissen eines narzisstischen und individualisierten Paradigmas vollständiger Eigenverantwortung kein Zufall, sondern auch an dieser Stelle ein signifikanter Ausdruck der Konvergenz von Ökonomie und Heilsökonomie sein.

Entsicherte Moderne: Zudem leben Menschen wertebezogen und globalwirtschaftlich in einer entsicherten Moderne. Die „institutionalisierte Individualisierung“ (Beck) geht mit einer politischen Deregulierung und Privatisierung von Risiken einher. Die Prozesse der Entsicherung führen zu einer kaum mehr durchschaubaren und begrenzt steuerbaren „Weltrisikogesellschaft“ (Beck). Wie, so kann gefragt werden, ermöglicht das Reinkarnationsdenken in diesen Kontexten veränderte Formen der Sicherheit? Sicherheit bietet das westliche Denken der Reinkarnation in doppelter Hinsicht: Zum einen ist sowohl das Ziel der eigenen Selbstvervollkommnung gewährleistet als auch sein entscheidendes Mittel, die Kontinuität der eigenen Existenz in der Vielzahl von Individuierungsprozessen und Fortschritten. Zum anderen scheint der Fortschritt in diesen Individuierungsprozessen garantiert.

Die „Weltrisikogesellschaft“ vollzieht sich unter dem Prinzip der ökonomischen Gewinnmaximierung.33 Der Faktor Geld bemisst in den Prozessen des modernen Wirtschaftens die ökonomische Wertsteigerung. Es gehört daher zur Option der Wirtschaftswissenschaften, dass die ökonomische Logik und funktionale Rationalität des Wirtschaftens durch übergeordnete Gesetzmäßigkeiten rational bestimmbar und strategisch kalkulierbar ist. Das Ziel ist die Gewinn-Akkumulation. Dieses Ziel einerseits und die Rationalität ökonomischer Prozesse andererseits induzieren durch die wirtschaftlichen Prozesse Formen der Entpersonalisierung und Depersonalisierung. Obwohl die übergeordnete Zielvorstellung (Gewinnmaximierung) mithilfe von übergeordneten Gesetzmäßigkeiten (Regeln des Wirtschaftens) durch die Aktivität von Menschen erreicht wird, sind das übergeordnete Tauschmittel Geld und seine Funktionalität zu einer apersonalen Universalie der Kommunikation geworden. Denn die drei klassischen Funktionen des Geldes – als übergeordnetes Tauschmittel für alle anderen Dinge zu dienen, Marktwerte zu bemessen oder Vermögen aufzubewahren –, können ohne jedes persönliche Moment realisiert werden. In einer übergeordneten Weise werden Geldgeschäfte getätigt – ohne Rücksicht auf die konkreten menschlichen Personen und ihre Situationen; ohne Rücksicht auf individuelles Empfinden; auf solidarisches Sozialbewusstsein oder ethisches Gerechtigkeitsempfinden; auf fromme Pietät oder politische Rücksichtnahme. Die großen und zentralen Geschäfte tätigen Banken, Investmentfonds, Finanzberater oder beauftragte Dritte. Dadurch geschehen Entpersonalisierung und Anonymisierung sowohl auf der Ebene der Handelnden als auch auf der Ebene der von diesem Handeln ökonomisch Betroffenen.34 Die „alles bestimmende Wirklichkeit“ (Pannenberg) des Geldes wird als „Substitut“ (Rentsch) oder „Säkularisat“ (Blumenberg) des Absoluten wirksam und erzeugt eine „ökonomisierte Grammatik“ in den religiösen Einstellungen. In Bezug auf die westliche Aneignung des Reinkarnationsdenkens sind Fortschritt durch Gewinnmaximierung sowie menschliches Handeln innerhalb einer übergeordneten, apersonalen Rationalität und Gesetzmäßigkeit wichtige Momente. Die bestimmende Gesetzmäßigkeit prägt das Dasein der Menschen, und die Menschen nutzen die Logik dieser Gesetzmäßigkeit, um individuelle Fortschritte und soteriologische Gewinne zu akkumulieren.

Vor diesem Hintergrund darf die These gewagt werden, dass die westliche Aneignung des Reinkarnationsdenkens dem autonomen Formenkreis zuzurechnen ist und gemäß dem ökonomischen Ziel der Gewinnmaximierung eine der ökonomischen Rationalität vergleichbare soteriologische Rationalität aufweist. Danach ist jeder Mensch „Schmied des eigenen Glückes“ und auf Gedeih und Verderb zur Selbsterlösung „verurteilt“ (Sartre). Im Rahmen der übergeordneten Gesetzmäßigkeiten erfolgreichen Wirtschaftens oder günstigen Karmas kann sich der Mensch „in the long run“ selbst befreien und gesetzeskonform vollenden. Innerhalb der Logik der „ausgleichenden, weil ökonomisch kalkulierbaren Gerechtigkeit des do ut des“ liegen Gelingen und Misslingen, liegen Tod und Verderben oder Erfolg und Glück immer in den Händen des Individuums. Mit Ausnahme der universalen und solidarischen Perspektive des Metempsychosisten, die dem hinduistischen Denken vermutlich nähersteht, als zumeist bewusst ist,35 agieren die Menschen in den anderen Aneignungsformen des Reinkarnationsdenkens individualisiert, d. h. innerhalb der Gesetzmäßigkeiten des Karmas als soteriologische „Ich-AG“.


Bernhard Nitsche, Freiburg


Anmerkungen

  1. Vgl. Pierre Bourdieu, Die Auflösung des Religiösen, in: ders., Rede und Antwort, Frankfurt a. M. 1992, 231-237.
  2. Vgl. José Casanova, Säkularismus – Ideologie oder Staatskunst?, in: Transit 39 (2010), 29-44, hier 33.
  3. Vgl. Helmut Zander, Geschichte der Seelenwanderung in Europa, Darmstadt 1999, bes. 598-602; Helmut Obst, Reinkarnation. Weltgeschichte einer Idee, München 2009, 211-229; Michael Bergunder, Reinkarnationsvorstellungen als Gegenstand von Religionswissenschaft und Theologie, in: Theologische Literaturzeitung 126 (2001), 701-720.
  4. Vgl. Rüdiger Sachau, Westliche Reinkarnationsvorstellungen, Gütersloh 1996.
  5. Vgl. Hermann Josef Wagener, Konstruktionen der Religiosität von Rainer Maria Rilke. Eine kritische Analyse aus entwicklungspsychologischer Perspektive, in: Archiv für Religionspsychologie 28 (2006), 303-337.
  6. Vgl. Obst, Reinkarnation (s. Fußnote 3), 12-27.
  7. Vgl. Bergunder, Reinkarnationsvorstellungen (s. Fußnote 3).
  8. Sofern man nicht auf ein metaphysisches Seelenkon­zept zurückgreift, kann nur eine formallogische Be­gründung der transzendentalen Subjektivität des Menschen das Problem einer zeitlichen Diachronie und semantischen Verschiebung im Wechsel der Ich-denke-Fälle überwinden. Doch ist ein solches Konzept per se nicht in der Lage, die Kontinuität der Persönlichkeit über den Tod hinaus (multi-biografisch bzw. trans-biografisch) zu sichern. Vgl. Bernhard Nitsche, Endlichkeit und Freiheit. Studien zu einer transzendentalen Theologie im Kontext der Spätmoderne, Würzburg 2003, 20-321, bes. 223-225; ders., Personsein – philosophische Problemlagen, interkulturelle Einsichten, transkulturelle Perspektiven, in: Zeitschrift für katholische Theologie 134 (2012), 1-21; Harold Noonan, Personal Identity, London 22003. Wird Person-Kontinuität über die Leibkontinuität definiert, so ist Reinkarnation formallogisch bereits problematisch: John James MacIntosh, Reincarnation und Relativized Identity, in: Religious Studies 25 (1989), 153–165.
  9. Vgl. Obst, Reinkarnation (s. Fußnote 3), 8f.
  10. Vgl. ebd., 146-153.
  11. Beyträge zur Lehre von der Seelenwanderung. Zu finden in der Buchhandlung der Gelehrten, Leipzig 1785, 112f.
  12. Ebd., 179.
  13. Vgl. Wilhelm Halbfass, Karma und Wiedergeburt im indischen Denken, Kreuzlingen 2000, 287-300, bes. 287.
  14. Vgl. Sri Aurobindo Ghose, The Life Divine, Twin Lakes 1990, 773-857, bes. 839; ders., Rebirth and Karma, Wilmot 1991, 14.
  15. So ein späteres Bild von Swami Vivekananda, vgl. Obst, Reinkarnation (s. Fußnote 3), 214.
  16. Shirley MacLaine, Tanz im Licht, München 41990, 113.
  17. Shirley MacLaine, Zwischenleben, München 81986, 85 und 55.
  18. Karl-Fritz Daiber, Reinkarnationsglaube als Ausdruck individueller Sinnsuche. Das Beispiel: Shirley MacLaine „Zwischenleben“, in: Hansjakob Becker /Bernhard Einig / Peter-Otto Ullrich (Hg.), Im Angesicht des Todes. Ein interdisziplinäres Kompendium I., St. Ottilien 1987, 207-225.
  19. Vgl. Hans-Jürgen Ruppert, Channeling, in: MD 53 (1990), bes. 357-361.
  20. Vgl. Daiber, Reinkarnationsglaube (s. Fußnote 18), 218-223.
  21. Vgl. MacLaine, Tanz im Licht (s. Fußnote 16), 408; dies., Zauberspiel, München 81986, 146.
  22. Vgl. ebd., 161-177.
  23. MacLaine, Tanz im Licht (s. Fußnote 16), 346.
  24. Vgl. Sachau, Westliche Reinkarnationsvorstellungen (s. Fußnote 4), 192.
  25. MacLaine, Tanz im Licht (s. Fußnote 16), 350.
  26. Vgl. Christoph Bochinger / Martin Engelbrecht /Winfried Gebhardt, Die unsichtbare Religion in der sichtbaren Religion. Formen spiritueller Orientierung in der religiösen Gegenwartskultur, Stuttgart 2009.
  27. Vgl. Reinhold Bernhardt / Perry Schmidt-Leukel (Hg.), Multiple religiöse Identität. Aus verschiedenen religiösen Traditionen schöpfen, Zürich 2008.
  28. Vgl. Ulrich Beck / Elisabeth Beck-Gernsheim, Indi­vidualization. Institutionalized individualism and its social and political consequences, London u. a. 2002; James A. Beckford, Social Theory and Religion, Cambridge 2003.
  29. Vgl. Laurence R. Iannaccone, Religious Markets and the Economics of Religion, in: Social Compass 39 (1992), 123-131.
  30. Nicole W. Biggart, Charismatic Capitalism. Direct Selling Organizations in America, Chicago 1989.
  31. Sachau, Westliche Reinkarnationsvorstellungen (s. Fußnote 4), 191.
  32. Vgl. Obst, Reinkarnation (s. Fußnote 3), 8f.
  33. Edward Luttwak, Wenige Gewinner, viele Verlierer, in: Die Zeit 50 (1999), 25.
  34. Vgl. Falk Wagner, Geld oder Gott?, Stuttgart 1985, 62; Ulrich Beck, Die Neuvermessung der Ungleichheit, Frankfurt a. M. 2008.
  35. Vgl. Francis D‘Sa, Karmische und Anthropische Geschichte, in: Zeitschrift für Missions- und Religionswissenschaft 87 (2003), 163-180.