Reinkarnation. Weltgeschichte einer Idee
Helmut Obst, Reinkarnation. Weltgeschichte einer Idee, Beck-Verlag, München 2009, 303 Seiten, 14,95 Euro.
Helmut Obst hält eine Überraschung bereit: Der lutherische Theologe, einer der besten Kenner christlicher Dissenter um 1900, der in Halle während der DDR-Zeit Esoterikforschung betrieb, als dort die Eiszeit des staatlich verordneten Atheismus herrschte, ein Mann, der sicher erfahren hat, dass unter Diktaturbedingungen „Orthodoxe“ und „Häretiker“ im gleichen Boot sitzen, dieser Theologe hat jetzt ein Buch über Reinkarnation geschrieben – mit einem unerwarteten Finale.
Aber der Reihe nach: Obst beginnt in den Tiefen der Geschichte, führt uns zuerst nach Indien, dann über zweieinhalb Jahrtausende durch Europa, von der Antike bis ins New Age. Diese Historiographie ist lesenswert, denn Obst kennt die komplizierte Geschichte der Seelenwanderung außerhalb und am Rand der großen Religionsgemeinschaften. Dabei versucht er, eine fast überall gegenwärtige Verbreitung der Reinkarnationslehre aufzuzeigen. Obsts Reinkarnationsbegriff ist weit, meines Erachtens viel zu weit. So findet er außerhalb Europas „Wiedergeburtsvorstellungen“ in „fast allen indigenen Völkern“ (33), die also keine schriftliche Überlieferung besitzen. Aber schon hier steckt der Teufel im Detail. In vielen Fällen dürfte es sich um die Vorstellung einer Teilhabe an einer „geistigen“ Substanz handeln, die immer neu in Individuen präsent sein kann. Doch Teilhabe ist gerade keine „Wiedergeburt“, schon gar nicht die eines Individuums.
Mit dieser Voraussetzung, dass es fast überall Reinkarnation gebe, begibt sich Obst an die Interpretation des Neuen Testamentes – und findet sie auch hier. Es gebe „eine klare Feststellung Jesu zur Reinkarnation“ (88), denn Johannes der Täufer sei der wiedergekommene Elija, der Prophet der Endzeit. Aber das ist gegen den historischen Sinn argumentiert. Wenn im biblischen Kontext jemand „im Geist“ oder „mit dem Geist“ eines anderen handelt, dann bedeutet das nicht, dessen Reinkarnation zu sein, sondern an dessen Geist zu partizipieren. Dies ist zudem eine Deutung aus dem Rückspiegel der nachbiblischen Geschichte. Denn man muss die Materie und das Geistige, etwa den Körper und die Seele, für eine Reinkarnation scharf trennen. Aber genau das geht mit der biblischen Anthropologie nicht, die dualistische Anthropologie in der christlichen Tradition ist im Großen und Ganzen ein Importprodukt aus der griechischen Philosophie. Zudem muss man die neuzeitliche Vorstellung eines autonomen Subjektes in die biblischen Texte projizieren, das ganz oder großenteils selbst seine Erlösung, eben in den Reinkarnationen, bewerkstelligt.
Aber der Theologe Obst kennt natürlich die Bibel und weiß auch, dass er mit seiner Position in der Wissenschaft alleine steht, und so rudert er in den Schlusspassagen zurück: Es gebe „in der Bibel keine Lehre von der Reinkarnation“ (261, Hervorhebung Obst). Also eine „klare Feststellung Jesu“, aber „keine Lehre“ in der Bibel? Dann würde das Neue Testament gegen Jesus lehren. Aber um diesen Widerspruch der neutestamentlichen Autoren gegen die „klare“ Position des Stifters des Christentums zu begründen, braucht man meines Erachtens bessere Argumente.
Mit der Annahme der allerorten verbreiteten Idee der Reinkarnation schreibt Obst seine Geschichte weiter: Bei den Germanen findet er „Wiederverkörperungsvorstellungen“, die es aber dort meiner Kenntnis nach nicht im Sinne von Reinkarnationsvorstellungen gibt, und sieht sie durch die christliche Mission zurückgedrängt (61). Auch das ist so durch die Forschung nicht gedeckt. Skandinavien ist im Wesentlichen nicht zwangsbekehrt worden. In Island, wo eine der wichtigsten Quellen, die Edda, aufgezeichnet wurde, trat man etwa per Thing-Beschluss zum Christentum über.
Auch im Märchen von Frau Holle werde, so Obst, „altes Wissen, so auch der Wiederverkörperungsgedanke, verschlüsselt weitergegeben“ (61). Aber statt sich hier auf fromme anthroposophische Literatur zu stützen, hätte der Blick in die neuere Märchenforschung andere Lösungen nahegelegt: Die Quellen für das „alte Wissen“ dieser Erzählung reichen allenfalls bis ins Mittelalter. Selbst wenn man vorchristliche Wurzeln annähme, etwa bei den Germanen, müsste man die Reinkarnationslehre dort erst hineinlegen, ehe man sie via Frau Holle wieder herausbekäme.
Ein letztes Beispiel – und hier wird es ein wenig kompliziert: Will man bei Origenes, dem großen Kirchenlehrer des dritten Jahrhunderts, der als einer der ersten das christliche Denken systematisch geordnet hat, Reinkarnation, wenigstens „in einem spezifischen Verständnis“, finden (93), muss man zwei Dinge tun: sich zum ersten auf die Polemik seiner Gegner stützen und Origenes’ eigene, explizit gegen die Seelenwanderung gerichteten Äußerungen ignorieren; zum zweiten nahelegen, dass die Vorstellung der Präexistenz, die Origenes annahm (nach der die Seele schon vor der Geburt, im Himmel, existierte), zur Seelenwanderung führe. Obst weiß, dass diese Folgerung nicht zwingend ist, aber er montiert die unterschiedlichen Optionen so zusammen, dass am Ende doch ein reinkarnationsnaher Origenes herausschaut.
Schreibt man die Geschichte des Reinkarnationsglaubens auf diese Art und Weise, so gelangt man zu einer Konsequenz, die für Obsts Schlussfolgerungen wichtig wird: Reinkarnation sei zu allen Zeiten in allen Völkern verbreitet und werde auch von Christen zunehmend geglaubt. Wenn sich Reinkarnation praktisch überall finde, sei es für das Christentum vernünftig, sich der Mehrheit anzuschließen, legt Obst nahe. Aber der Schluss von der Mehrheit auf die Wahrheit ist selbst dann nicht zwingend, wenn die Mehrheit wirklich die Mehrheit wäre. Obst jedenfalls erscheint „der Reinkarnationsglaube“ als ein „vernünftiger Glaube“ (265). Spätestens hier ahnt man, auf welches Finale er hinaus will: „Christentum und Wiederverkörperungsglaube müssen sich nicht unüberbrückbar gegenüberstehen“ (262). Im Klartext, Obst vereindeutigend: Christentum und Reinkarnation sind vereinbar. Und das als die Position eines lutherischen Theologen ist nun doch eine handfeste Überraschung.
Aber dies ist erst die Vorderfront. Hinter Obsts Akzeptanz der Reinkarnation stehen tiefe, nie ganz lösbare Fragen der Theologie, etwa: Warum geht es manchen Menschen gut und anderen schlecht? Für Obst ist diese Frage durch die neuzeitliche Entwicklungstheorie verschärft: Kann man einem Menschen ein schlimmes Schicksal zumuten, wenn er nicht zumindest die Chance einer nachtodlichen Entwicklung hat? Obst begreift Reinkarnation als eine Antwort auf die Möglichkeit einer Entwicklung des Menschen nach dem Tod (260), als Antwort auf die neuzeitliche Theodizeefrage, auf die Frage nach himmelschreiendem Unrecht und dem Unglück von Menschen angesichts der Güte Gottes. Übrigens muss Obst hier den historischen Befund in seinem Sinne deuten; er glaubt nämlich, Reinkarnation sei seit der Antike als „Chance“ verstanden worden (263). Das jedoch widerspricht praktisch allen bekannten Quellen.
Man muss Obst nun zugutehalten, dass er sich damit vor den schwierigen, vielleicht aporetischen Fragen der Theologie in der Deutung des Bösen und Ungerechten nicht drückt. Aber an dieser Stelle wird zugleich ein weißer Fleck seiner Theologie in diesem Buch sichtbar. Seiner Plausibilisierung der Reinkarnation steht keine gleichgewichtige Präsenz der biblischen und theologischen Traditionen zum Umgang mit diesen dunklen Dimensionen zur Seite. Die spirituellen Antworten des Christentums, die die Schuld nicht auf den Menschen alleine abladen, sondern etwa von einem mitfühlenden Gott sprechen, werden nicht als kritische Gesprächspartnerinnen eingebracht.
Sodann muss Obst das protestantische Schriftprinzip zur Seite legen. Denn das Argument, Reinkarnation finde sich in vielen Kulturen und sei auch deshalb für das Christentum eine vernünftige Ergänzung seiner Theologie, läuft darauf hinaus, diese außerbiblischen Traditionen gegen das Faktum stark zu machen, dass sich in der Bibel keine Reinkarnationsvorstellungen finden. Das heißt im Grunde: Religionsgeschichte als Offenbarungsgeschichte. Nun nimmt Obst für sich nicht in Anspruch, eine neue Offenbarung zu besitzen, aber strukturell läuft seine Argumentation mit ihrer Einbeziehung der Religionsgeschichte darauf hinaus. Wenn man das theologisch will, müsste man auch deutlich machen, wie (ich meine: tief) man damit in die Interpretationstraditionen des Christentums, in die protestantische Schriftkultur allemal, eingreift.
Schließlich ist es überraschend, dass gerade ein protestantischer Theologe die Vorstellung von Sündenvergebung und Gnade eher beiläufig zur Sprache bringt und sie kaum in einen kritischen Dialog mit der Reinkarnationslehre treten lässt. Ein Angelpunkt der Aussagen Jesu ist jedenfalls dessen Überzeugung, es gebe die Möglichkeit eines bedingungslosen Neuanfangs, ohne die Last vergangener Schuld, gar aus einem vergangenen Leben. Die Adaption dieses Denkens bleibt blass, auch in der reformatorischen Ausprägung, in der die Unbedingtheit der Rechtfertigung zu einem Identitätsmerkmal wurde. Wo es diese Dimension nicht gibt, und da argumentiert Obst letztlich schlüssig, muss der Mensch das Unglück und die Ungerechtigkeit autonom – im Prinzip jedenfalls – bewältigen. Als zentrale Kritik an der Reinkarnationslehre kommt die Gnade nicht vor. Das ist die eigentliche, irritierende Überraschung dieses Buches.
Helmut Zander, Berlin