Religiös-weltanschauliche Vielfalt in der Demokratie
Vor Ihnen steht ein Politiker, kein Theologe! Wer überzeugend Theologisches hören oder lesen will, der lese den Grundlagentext des Rates der EKD: Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive.1
Je moderner eine Gesellschaft, desto säkularer werde sie. Das war lange Zeit die – fast religiöse – Überzeugung in den westlichen Gesellschaften, jedenfalls unter deren linken „Aufgeklärten“. Säkularisierung (im Sinne des Verschwindens, wenigstens des Zurückdrängens von Religion) sei ein irreversibler Prozess. Dieser Glaube ist, wenn nicht widerlegt, so doch erschüttert: Religion ist am Beginn des 21. Jahrhunderts von überraschender, kräftiger und dabei gewiss sehr widersprüchlicher Vitalität. Religion ist Teil der Moderne. Der Religiöse ist offensichtlich nicht unmoderner als der Areligiöse.
Diese unübersehbare Tatsache widerspricht durchaus der Erwartung von Säkularisten verschiedenster Spielart. Und sie gilt für unseren Globus insgesamt und auch für Deutschland, von dem wir fast täglich die Behauptung hören und lesen können, es sei ein säkulares Land geworden. Alle Zahlen – vom Zensus bis zum Religionsmonitor – zeigen etwas anderes: Je 30 % Protestanten und Katholiken, ca. 5 % Muslime, ca. 5 % Angehörige anderer Religionsgemeinschaften, ca. 30 % Konfessionslose leben in Deutschland. (Die Ex-DDR, also Ostdeutschland, war und ist neben Tschechien das religionsloseste Land auf dem Globus: der einzige durchschlagende „Erfolg“ des SED-Regimes.) Zu den Ergebnissen des Monitors gehört auch: 85 % der Menschen meinen, man solle gegenüber allen Religionen offen sein. Zugleich sieht eine Mehrheit in der zunehmenden religiösen Vielfalt ein Potenzial für Konflikte. Und gerade in jüngster Zeit empfinden viele insbesondere den Islam als Gefahr, mindestens als Quelle von Beunruhigung.
Solche Zahlen sind gewiss interpretationsbedürftig, aber lassen sich doch in dem Urteil zusammenfassen: Wir leben nicht einfach in einer säkularen Gesellschaft, sondern in einer religiös und weltanschaulich pluralen Gesellschaft. So wie auch Religionen (ebenso wie Agnostizismus und Atheismus) selbst individualistischer und also pluraler verstanden und gelebt werden. Es gibt nicht (mehr) den einen, den religiösen oder areligiösen Deutungsrahmen sozialen und individuellen Lebens. Traditionen werden schwächer, Bindungen lockerer, Autoritäten haben weniger Wirkung. Eine Situation der Unsicherheit.
Genau dies aber, diese religiös-weltanschauliche Pluralität ist eine anstrengende Herausforderung für die Gesellschaft insgesamt, also für Religiöse wie Religionslose gleichermaßen. Toleranz ist gefragt, Respekt, Anerkennung, damit Pluralismus friedlich gelebt werden kann. Diese Einstellungen aber sind wahrlich nicht selbstverständlich.
Man erinnere sich an die weltanschaulichen und religiösen Konflikte in den letzten Jahren: Streit um Moscheebauten, Streit um Kopftücher und Kruzifixe oder die Auseinandersetzung um Beschneidung. Und schauen wir über unsere Landesgrenzen hinaus, erscheint Religion (mindestens in Form des islamistischen Fundamentalismus) als geradezu gefährliche, demokratiefeindliche Kraft. Die Reaktionen auf die brutalen Morde in Paris – ein Akt extremster Intoleranz – waren durchaus zwiespältig: Verteidigung von Meinungsfreiheit hier – Protest gegen Blasphemie anderswo. Und dann auch noch Köln … Wir ahnen, wir beobachten, dass sich kulturelle und religiöse Konflikte häufen und verschärfen werden durch den Zustrom so vieler Menschen, von Flüchtlingen aus der islamisch-arabischen Welt.
Vor diesem Hintergrund will ich ein paar Bemerkungen machen über das Verhältnis von Religion und pluraler Gesellschaft, von Kirche und säkularem Staat, von Religion und Demokratie.
1. Koexistenz religiöser und areligiöser Überzeugungen
Ganz grundsätzlich: Die Bundesrepublik Deutschland ist geprägt durch ein besonderes Verhältnis von Staat und Kirche. Der Staat des Grundgesetzes ist weltanschaulich neutral, er verficht selbst keine Weltanschauung, um so die Religionsfreiheit seiner Bürger zu ermöglichen. Man hat dieses Verhältnis von Staat und Kirche als ein Verhältnis der „respektvollen Nichtidentifikation“ bezeichnet. Durch diese Zurückhaltung gibt der Staat ausdrücklich Raum für die starken Überzeugungen seiner Bürger, die die Zivilgesellschaft prägen und damit auch den Staat tragen. Er ist also kein säkularistischer Staat, also auch kein Staat, der einen säkularen Humanismus vorzieht und fördert und Religion aus der Öffentlichkeit verdrängt, wie es etwa Laizisten wünschen und auch eine Mehrheit der veröffentlichten Meinung möchte: Die Religionen, die Kirchen sollen sich gefälligst zurückhalten. So etwa hat die Schriftstellerin Monika Maron an die Religionsgemeinschaften die Forderung gerichtet, „die Säkularität des Landes zu achten“. Mit Blick auf einen tatsächlich oder vermeintlich integrationsunwilligen Islam formuliert sie: „Wenn die religiösen Ansprüche der Muslime mit dem Gleichheitsgebot des Grundgesetzes kollidieren, müsste man … die Privilegien der christlichen Kirchen beschränken, um den Zugriff des Islam auf das öffentliche Leben von uns allen zu verhindern.“ Eine paradoxe Argumentation: Die Angst vor dem Islam wird gegen alle (öffentliche) Religion gerichtet. Ich vermute, das ist eine verbreitete Stimmung.
Die grundgesetzlich garantierte Religionsfreiheit aber ist dagegen die Aufforderung an die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften (also nicht nur an die christlichen Kirchen, sondern auch an andere) und ihre Mitglieder, aus dem Raum des Innerlichen, des bloß Privaten herauszutreten und den Gemeinsinn mitzuformen, an der Gesellschaft mitzubauen, also öffentlich zu wirken und insofern „weltlich“ zu werden. Mit anderen Worten: Der moderne Staat ist säkular nicht dadurch, dass er Religionen ausschließt, sondern dadurch, dass er die Koexistenz einer Vielfalt religiöser wie areligiöser Überzeugungen ermöglicht. Weil der Staat des Grundgesetzes nicht alles selbst erledigen kann und will, lädt er dazu ein, dass die Bürger aus ihrer jeweiligen Überzeugung heraus und nach gemeinsamen Regeln subsidiär zusammenwirken, über religiöse und kulturelle Unterschiede hinaus, gemeinsam das soziale, kulturelle und politische Leben zu gestalten. Diese Einladung auszuschlagen, sollte für Christen undenkbar sein, sie gilt ebenso auch für Juden, Muslime, Atheisten, Agnostiker.
2. Gemeinsame Normen und Werte
Für den Zusammenhalt einer pluralistischen Demokratie, einer widersprüchlichen, vielfältigen Gesellschaft reicht offensichtlich nicht das allein aus, auf das ganz selbstverständlich zunächst hingewiesen werden kann und muss: die gemeinsame Sprache, die Anerkennung von Recht und Gesetz, der vielgerühmte und gewiss notwendige Verfassungspatriotismus. Auch nicht die Beziehungen, die die Gesellschaftsmitglieder über den Markt und Arbeitsprozesse miteinander eingehen, nämlich als Arbeitskräfte oder Konsumenten (das sind die zwei Rollen, in denen der Markt uns Menschen überhaupt nur kennt). Auch das Beziehungsgeflecht, das wir über diese beiden Rollen erzeugen, reicht offensichtlich nicht aus, den Zusammenhalt einer so widersprüchlichen Gesellschaft zu garantieren.
Über all dies Selbstverständliche und Notwendige hinaus bedarf es, so meine ich, grundlegender Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen in dem, was wir Maßstäbe, Normen oder „Werte“ nennen. Es bedarf tendenziell gemeinsamer Vorstellungen von der Freiheit und ihrer Kostbarkeit, vom Inhalt und Umfang von Gerechtigkeit, vom Wert und der Notwendigkeit von Solidarität, gemeinsamer oder wenigstens verwandter Vorstellungen von sinnvollem und gutem Leben, von der Würde jedes Menschen, von der Integrität der Person, von Respekt und Toleranz.
Dieses nicht-politische, sondern ethische und kulturelle Fundament gelingender Demokratie – das ist nicht ein für alle Mal da, sondern es ist gefährdet, ist umstritten, kann erodieren. Es muss immer wieder neu erarbeitet werden, es muss weitergegeben, vitalisiert, vorgelebt, erneuert werden. Das ist der Sinn des so oft zitierten Satzes des ehemaligen Verfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Der freiheitliche, säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er nicht selbst garantieren kann.“ Die Verantwortung für diese Voraussetzungen, für dieses ethische Fundament unseres Zusammenlebens tragen – über die Zuständigkeit des Bildungssystems hinaus – alle Bürger, insbesondere die kulturellen Kräfte einer Gesellschaft und darin eben auch und in besonderer Weise Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und also auch und selbstverständlich gerade die christlichen Kirchen! Gewiss nicht sie allein in einer pluralistischen Gesellschaft, nicht die Christen und die religiösen Menschen allein und selbstverständlich nicht so, dass die Kirchen noch triumphalistisch daherkommen könnten. Sondern sie müssen sich in einer pluralistischen Gesellschaft als Dialogpartner verstehen, sich in die Debatte, ja auch in den Streit einbringen. Aber die Kirchen, die Christen sollten dabei auch nicht leisetreterisch und nicht ängstlich sein.
Ein kleines Beispiel: Mit Blick auf die Erfahrung mit seiner Tochter an einer Kölner Schule mit einem Migrantenanteil von über 50 % hat Navid Kermani vor einigen Jahren geschrieben: „Gelernt habe ich allerdings auch, dass Integration dort gelingt, wo die heimische – also auf der Schule meiner Tochter: katholische und kölsche – Kultur nicht schamhaft in den Hintergrund gerückt, sondern gepflegt und selbstbewusst vertreten wird. Aus Furcht vor den Reaktionen muslimischer Eltern nicht mehr Advent zu feiern, wie es in manchen Kindergärten oder Schulen geschieht, ist mit Sicherheit das falsche Signal. Es geht nicht darum, sich selbst zu verleugnen, sondern den anderen zu achten. Wer sich selbst nicht respektiert, kann keinen Respekt erwarten.“
3. Religion ist nicht allein Privatsache
Die für Religion (und auch dem Humanismus verpflichtete Weltanschauungsgemeinschaften) wesentliche Dimension der Nächstenliebe kann ja nur konsequent gelebt werden, wenn sie bis in die Sphäre des Politischen reicht und nicht davor haltmacht. Vor diesem Hintergrund zu verlangen, dass Religion allein Privatsache sein dürfe und nicht mehr, sollten Christen (und auch Juden und Muslime und andere Religionsgemeinschaften) sich nicht gefallen lassen. Gewiss ist Religion insofern Privatsache, als sie selbstverständlich Sache der freien, persönlichen Entscheidung des Einzelnen ist. Aber zu verlangen, sie müsse auch im privaten, nichtöffentlichen Raum bleiben, sie dürfe keine öffentliche Existenz, keinen politischen Wirksamkeitsanspruch haben – das verlangte eine Verfälschung von – nicht nur christlicher – Religion.
Ich zitiere aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (von 2009): „Die Religionsfreiheit beschränkt sich nicht auf die Funktion eines Abwehrrechts, sondern gebietet auch im positiven Sinn, Raum für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung und die Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet zu sichern.“
Vor einigen Monaten hat Navid Kermani, der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels 2015, am Ende seiner beeindruckenden Dankrede in der Frankfurter Paulskirche die Anwesenden aufgefordert, sich zu erheben zu einem Gebet der Solidarität für vom Islamischen Staat im Irak Entführte. Er hat diese Bitte mit dem erklärenden (fast entschuldigenden) Satz verbunden: „Was sind denn Gebete anderes als Wünsche …“ Trotzdem hat dies zu einer kleinen Kontroverse geführt, die durchaus verräterisch ist. In der Süddeutschen Zeitung wurde Kermani ein „unerträglicher Übergriff“ an einem „Ort konfessionsloser, zivilreligiöser Feierstunden“ vorgeworfen und zwar durch seinen Wechsel von der Rede ins Register Gebet. Die Religionsfreiheit gebiete es, das Gebet den einzelnen Bekenntnissen zu überlassen. Und – Jürgen Habermas zitierend – die gläubigen Bürger sollten „ihre religiösen Überzeugungen in eine säkulare Sprache übersetzen“.
Der journalistische Kritiker verrät ein Verfassungs- wie Religionsverständnis, das ich für problematisch halte: Religion wird ins apolitische stille Kämmerlein verbannt; im Sinne eines radikalen Laizismus habe sie im öffentlichen Raum nichts zu suchen. Ein solches Verständnis wird dem Anspruch von Religion nicht gerecht und entspricht auch nicht der deutschen Verfassungstradition, die eben nicht laizistisch geprägt ist. Und es kann sich übrigens auch nicht auf Jürgen Habermas berufen, der ausdrücklich formuliert: „Die Antwort, die der Laizismus gibt, ist unbefriedigend. Die Religionsgemeinschaften dürfen, solange sie in der Bürgergesellschaft eine vitale Rolle spielen, nicht aus der politischen Öffentlichkeit verbannt werden … Religiösen Bürgern und Religionsgemeinschaften muss es freistehen, sich auch in der Öffentlichkeit religiös darzustellen, sich einer religiösen Sprache und entsprechender Argumente zu bedienen ... Das universalistische Anliegen der politischen Aufklärung erfüllt sich erst in der fairen Anerkennung der partikularistischen Selbstbehauptungsansprüche religiöser und kultureller Minderheiten.“
Das ist nach meiner Überzeugung die eigentliche Herausforderung von zunehmendem religiös-weltanschaulichem Pluralismus: Nicht Atheismus, nicht Laizismus ist die Antwort auf „Religion im Plural“, sondern eine Zumutung anzunehmen. Diese Zumutung besteht darin, sich der Anstrengung unterziehen zu müssen, den Anderen zu verstehen, das Eigene zu übersetzen, eine gemeinsame Sprache zu finden. Noch einmal Habermas: „In der Rolle von demokratischen ‚Mitgesetzgebern‘ gewähren sich alle Staatsbürger gegenseitigen grundrechtlichen Schutz, unter dem sie als Gesellschaftsbürger ihre kulturelle und weltanschauliche Identität bewahren und öffentlich zum Ausdruck bringen können.“
4. Toleranz ist eine anstrengende Tugend
Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft, das sagt sich ganz leicht. Sie ist aber keine Idylle, sondern eine Zumutung. Eine freie Gesellschaft ist keine gemütliche Gesellschaft. Denn mit Pluralismus ist gemeint: die konfliktreiche, strapaziöse Pluralität von Überzeugungen, Weltbildern, Wahrheitsansprüchen, Wertorientierungen, Lebensweisen, sozialen Lagen, kulturellen Prägungen. Wie lässt sich die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die kulturelle und religiös-weltanschauliche Vielfalt in unserer Gesellschaft „ertragen“, besser „leben“ – ohne Ängste, ohne Ausgrenzungen, ohne Unterdrückung und Gewalt? Wie ist der Zusammenhalt einer in vieler Hinsicht widersprüchlichen Gesellschaft möglich und zu sichern? Eine immer wieder drängend diskutierte Frage.
Ohne Toleranz ist dieser Zusammenhalt gewiss nicht zu haben. Und erst in solcher Gesellschaft ist Toleranz geradezu existenziell nötig (in weltanschaulich-homogener Gemeinschaft – ebenso wenig in einer totalitären Gesellschaft – bräuchte man sie nicht). Erst in einer Gesellschaft der Differenzen erweist sich Toleranz als notwendige und zugleich anstrengende Tugend, die aber nicht einfach immer schon da ist, sondern um die man sich sorgen, sich kümmern muss – auch und gerade, wenn Religions- und Meinungsfreiheit von Staats wegen, also verfassungsmäßig garantiert sind.
Erst nämlich, wenn aus der obrigkeitlichen Duldung Andersgläubiger ein Recht auf freie Religionsausübung geworden ist, das die Gläubigen wie die Ungläubigen einander als freie Bürger gegenseitig einräumen und anerkennen, erst dann kommt Toleranz zu sich. So Jürgen Habermas (in einem Vortrag in Berlin 2002 „Wann müssen wir tolerant sein?“). Toleranz sei dann gefordert, wenn markante religiös-weltanschauliche Differenzen zwischen Bürgern einer Gesellschaft aufbrächen und fortbestünden. Das aber ist unübersehbar (darin sind wir uns doch wohl einig) die gegenwärtige und zukünftige Situation in unserem Land, in Europa, auf unserem Globus. Religiöse Toleranz hat die Funktion, „die gesellschaftliche Destruktivität eines nicht-verhandelbaren, also unversöhnlich fortbestehenden Dissenses aufzufangen. Das soziale Band, welches Gläubige mit Andersgläubigen und Mitgliedern derselben säkularen Gesellschaft verbindet, soll nicht reißen“ (Jürgen Habermas).
Toleranz ist aber eine herbe, anstrengende Tugend, weil sie eben nicht Laissez-faire, Indolenz, Desinteresse, Gleichgültigkeit, Beliebigkeit meint. Bei der Toleranz als einer Tugend der praktischen Vernunft geht es um die schwierige Verbindung von eigenem Wahrheitsanspruch mit der Anerkennung des Wahrheitsanspruchs des Anderen. Toleranz ist eine unersetzliche Dimension von Gerechtigkeit – so wie ich als Sozialdemokrat sie verstehe, Gerechtigkeit nämlich als gleiche Freiheit. Tätige Toleranz ist also „dauernde Aufgabe“, ist Strukturprinzip eines lebbaren Pluralismus, der ja – wie wir längst wissen – weder national noch global eine Idylle ist, sondern voller Zumutungen und Konflikte. Toleranz ist Zentrum einer gelebten Kultur der Anerkennung gleicher Lebens- und Freiheitsrechte.
Die christlichen Kirchen haben seit der Reformation einen höchst mühevollen Erfahrungsprozess, eine bittere Lerngeschichte in Sachen Toleranz und Freiheit hinter sich. Ihr vorbehaltloses Ja zur Religionsfreiheit, ihr vorbehaltloses Ja zur Demokratie als der politischen Lebensform der Freiheit ist noch nicht so alt, es stammt aus dem 20. Jahrhundert. Die Kirchen haben inzwischen gelernt, auf politische Macht oder gar Gewalt zu verzichten zur Durchsetzung des eigenen Wahrheitsanspruchs, sich des Missbrauchs von Religion zur Begründung von Gewalt zu erwehren und ihm energisch zu widersprechen – ohne an Leidenschaft, an Überzeugungskraft zu verlieren und eine „lauwarme Religion“ werden zu müssen. An diese Lerngeschichte zu erinnern und heute zu zeigen (zu beweisen), dass und wie Toleranz und Freiheit praktisch gelebt werden können – das, meine und hoffe ich, ist Aufgabe der christlichen Kirchen und könnte auch ein Sinn des kommenden Reformationsjubiläums sein. Und genau das machte dieses Jubiläum dann wichtig – für die ganze Gesellschaft.
5. Was ist das verpflichtend Gemeinsame?
Wir Christen, Juden, Muslime und Angehörige anderer Religionsgemeinschaften (auch Agnostiker und Atheisten – aber bleiben wir bei den Religionen) sind Teil des Pluralismus – wir stehen nicht über ihm, haben keinen Ort außerhalb. Das ist für mich der Sinn des nun vielfach wiederholten Satzes „Der Islam gehört zu Deutschland“, so wie – geschichtlich selbstverständlicher – das Christentum und das Judentum und die Aufklärungstraditionen.
Was bedeutet dieses kleine Wort „gehört“ wirklich? Werden wir diesen anspruchsvollen Satz durchhalten können in unserem Land – angesichts so vieler Menschen muslimischen Glaubens, muslimisch-arabischer Kulturprägung, die zu uns gekommen sind?
Der wissenschaftlichen Literatur kann man entnehmen, dass es durchaus unterschiedliche Wege der Aufnahme von Migranten gibt: Insertion als äußerliche Anwesenheit unter voller Beibehaltung ihr kulturellen Ursprungsidentität; Assimilation als komplette Übernahme der Kultur des Aufnahmelandes; schließlich Integration als gleiche Teilhabe an den Chancen und Pflichten, also auch der politischen und zivilen Kultur des Aufnahmelandes bei Wahrung ihrer selbst gewählten Glaubens- und Lebenskultur. Für alle drei Modelle lassen sich in den europäischen Ländern Beispiele finden. Was ist aus ihnen zu lernen?
Dem Insertionsmodell sind die Niederlande vor geraumer Zeit ziemlich nahegekommen. Das dort praktizierte Toleranzkonzept eines nur noch rein äußerlich verbundenen Nebeneinanders („Versäulung“) separater ethnischer und religiöser Kulturen, später „Multikulturalismus“ genannt, ist erst nach traumatischen Erfahrungen und heftigen Konflikten vehement verworfen worden. Es funktionierte nicht und brachte weder ein gemeinsames Staatsbürgerbewusstsein noch übergreifende Solidarität hervor.
Das Assimilationsmodell erschien dem postkolonialen Frankreich mit seinem laizistischen Staatsbewusstsein zunächst als selbstverständlich: Wir sind alle Franzosen, und Religion spielt keine Rolle. Auch dieses laizistische Modell ist, vor allem aus Gründen der krassen sozialen Ungleichheit und Ausgrenzung in den dafür fast zum globalen Symbol gewordenen Vororten der großen Städte (banlieues) gescheitert. Und in der alten Bundesrepublik: Haben die Deutschen sich tatsächlich um die Integration der „Gastarbeiter“ gekümmert? Sie waren doch nur Arbeitskräfte, die bald wieder gehen sollten – aber nicht gingen. Das war eine der Lebenslügen der alten Bundesrepublik. Was lernen wir aus dieser Erfahrung?
„Die deutsche Gesellschaft hat sich durch Migration stark verändert und immer mehr Menschen nehmen für sich in Anspruch, als Bürger dieses Landes diesen Wandel mitzugestalten“, so sagt es Naika Foroutan (Migrations- und Integrationsforscherin, Berlin). Es gehe „um die fundamentale Aushandlung von Rechten, von Zugehörigkeit, von Teilhabe und von Positionen. Das ist das neue Deutschland. Es handelt sich und seine (nationale) Identität gerade postmigrantisch neu aus.“ Um wie viel mehr gilt das heute und erst recht in den kommenden Jahren?
Dieser Prozess, beobachte ich, ist offensichtlich eine ziemliche Herausforderung, erzeugt Misstöne und Ressentiments und macht vielen (Einheimischen) Angst. Pegida ist dafür ein Symptom. Eine gewichtige Rolle spielt dabei, was ich Entheimatungsängste nenne: Vertrautes, Selbstverständliches, kulturelle Traditionen und soziale Gewohnheiten – das alles wird unsicher, geht verloren, eigene Identität wird infrage gestellt. Eine diffuse Abwehr von Religion greift um sich: „Islamisierung des Abendlandes“ heißt die „Gefahr“ auf der Straße (Pegida-Anhänger sind meist konfessionslos). In den Feuilletons ist die Rede von den monotheistischen Religionen als gewaltfördernd, als „Brandstifter und Brandbeschleuniger“. Ohne die Religionen wäre die Welt friedlicher, ist ein geläufiger Glaubenssatz unter den intellektuellen Eliten (die dabei die ziemlich areligiösen Hitler, Stalin, Mao, Pol Pot vergessen).
Die Frage nach der Gefährlichkeit von Religion, nach ihrem Gewaltpotenzial ist ja auch wirklich ernst zu nehmen – auch wenn sie gegenwärtig Judentum und Christentum nicht unmittelbar betrifft, weil zumal das Christentum eine (lange und widersprüchliche) Geschichte der Mäßigung, der Trennung von Kirche und Staat, der Unterscheidung von Religion und Politik, des Erwerbs von Toleranzfähigkeit hinter sich hat.
Aber wie geht das, angesichts der allabendlichen Fernsehnachrichten über unter Berufung auf den Islam begangene Gewalttaten die Unterscheidung von Islam und Gewalt festzuhalten, sie immer neu zu betonen – ohne einen sippenhaftartigen Bekenntniszwang gegenüber den deutschen Muslimen auszuüben und ohne die frustrierende ständige Distanzierungsaufforderung an unsere muslimischen Nachbarn? Das gilt ja erst recht nach Paris, nach den Kölner Schandtaten und ihren emotionalen Wirkungen: Wie bleibt die notwendige Differenzierung möglich? Andererseits: Die ständige Wiederholung der beschwörenden Abwehrformel „Das alles hat nichts mit dem Islam zu tun“ hat, fürchte ich, gegenteilige Wirkung bei vielen, denn – das ist ja Teil der täglichen Nachrichten – die Terroristen sind nun mal Muslime bzw. und genauer: Sie behaupten es zu sein und berufen sich unüberhörbar und unübersehbar auf den Koran.
„Es gibt eine friedliebende Deutung des Korans, aber auch eine gewalttätige“, sagt der islamische Theologe Mouhanad Khorchide. Ahmad Mansour, der Berlin Muslim, hat in einem Spiegel-Essay geschrieben: „Wenn Kanzlerin Angela Merkel jetzt sagt: „Der Islam gehört zu Deutschland“, dann möchte ich sie fragen: welcher Islam? Muslime gehören zu Deutschland, zweifellos. Aber mein Islam ist ein anderer als der Islam der Hassprediger, ein Islam, der nicht in eine Demokratie gehört.“
Wenn wir also ja zum Islam als einem Teil Deutschlands sagen, dann erlaubt und verlangt dieses Ja dann auch Fragen: nach einer Reform des Islam, nach seiner Vielfalt, seiner inneren Differenzierung, seiner Theologie, nach den Unterschieden zwischen einem europäischen (deutschen?) Islam und dem Islam etwa in Saudi-Arabien oder anderen islamisch bestimmten Staaten ohne Religionsfreiheit.
Die Überwindung von Ängsten und Vorurteilen gegenüber dem Islam hierzulande ist gewiss eine gemeinsame Aufgabe der Religionsgemeinschaften und der demokratischen Gesellschaft. Sie ist es also auch für Atheisten und Agnostiker, wenn diese denn gegenüber dem Islam, also den Muslimen, nicht nur ein Verhältnis gnädiger, herablassender Duldung, sondern wirklichen Respekts einnehmen wollen. Es ist aber ganz wesentlich auch eine Aufgabe der muslimischen Gemeinschaften und ihrer Imame und Sprecher und ihrer Offenheit und Gesprächsbereitschaft. Wir haben noch viel Verständigungsarbeit vor uns, damit Toleranz als Respekt gelebt wird und nicht als bloße gnädige Duldung.
Alle – Christen, Juden, Muslime, Atheisten, Agnostiker usw., Einheimische wie zu uns Gekommene – wir alle werden uns einer neuen Debatte stellen müssen: Was begrenzt kulturell-religiöse Selbstbestimmung, was ist das verpflichtend Gemeinsame, worauf gründen wechselseitige Anerkennung und Gesprächsfähigkeit und Gesprächsbereitschaft der Verschiedenen? Wie vergewissern wir uns des Gemeinsamen, damit wir Vielfalt friedlich leben können? Darum geht es, muss es gehen – egal, wie wir es nennen: ob „Leitkultur“ (ein irgendwie belasteter, verdorbener Begriff) oder „zivilbürgerliche Kultur“/„gemeinsame Bürgerschaft“ (reicht dies?) oder wie ich es nenne: „das nichtpolitische, sondern ethische und kulturelle Fundament gelingenden Pluralismus, gelingender Demokratie“.
Zum Schluss
Integration ist eine doppelte Aufgabe: Die zu uns Gekommenen sollen heimisch werden im fremden Land. Und den Einheimischen soll das eigene Land nicht fremd werden.
Angst und Hass sind sehr verschiedene Emotionen! Angst überwindet man nicht durch Schulterklopfen oder Beschimpfungen, sondern durch Aufklärung, durch Gespräch, durch Begegnung, durch gemeinsames Handeln. Hass (gegen Fremde, gegen Ausländer, gegen Juden, gegen Demokraten) haben wir offensiv zu begegnen, zu widersprechen und zu widerstehen. Die Artikulation von Besorgnissen ist etwas gänzlich anderes als Hetze. Wir sollten sehr auf solche Unterscheidungen achten und danach handeln.
„Niemand kann verlangen, dass unser Land sich ändert“ (Viktor Orbán). – Das ist ein Satz der Angst (von der ich vermute, dass viele Menschen auch in unserem Land sie teilen). Es ist aber auch ein fataler Satz. Denn wir wissen doch: Nur offene, sich verändernde Gesellschaften sind produktiv und haben Zukunft! Das ist doch auch die Erfahrung von 1989: Geschlossene, eingesperrte Gesellschaften bedeuten Stillstand, sind nicht überlebensfähig, müssen überwunden werden!
Deshalb ist es unsere Aufgabe, gerade als Angehörige verschiedener Überzeugungsgemeinschaften, als demokratische Bürger, die Ängste bei vielen zu überwinden, die Aufgabe der Integration anzunehmen, die „neue Völkerwanderung“ zu gestalten – europäisch und national – durch klare Regeln (z. B. ein Integrationsgesetz) und europäische Vereinbarungen. Mit menschlichem Anstand, mit Kraft und Ausdauer, mit langem Atem. „Ohne Angst und Träumerei“ – so hat es der frühere Bundespräsident Johannes Rau einmal formuliert.
Wolfgang Thierse
Anmerkungen
1. Gütersloh 2015.