Religiöse Fragen in der Psychotherapie. Psychologische Zugänge zu Religion und Spiritualität
Michael Utsch, Religiöse Fragen in der Psychotherapie. Psychologische Zugänge zu Religion und Spiritualität, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2005, 327 Seiten, 29,00 Euro.
Um es vorweg zu sagen: Die Stärke dieses bemerkenswerten Buches ist auch seine Schwäche, nämlich der Anspruch, methodische und erkenntnistheoretische, teilweise auch theologische, Grundfragen einerseits, und Forschungsergebnisse andererseits, jeweils gleichzeitig und im Zusammenhang der Geistes- und Forschungsgeschichte zu behandeln. Orientiert an der Grundfrage nach dem Verhältnis von Religion und wissenschaftlicher Psychologie präsentiert der Autor deshalb in vier Teilen eine Fülle von Sachverhalten und eigenen Überlegungen, die nur durch die Wahl einer kleinen Type auf 327 Seiten unterzubringen waren. Dabei reicht der Inhalt des Buchs weiter als sein Titel, denn nicht nur das Thema „Religion und Psychotherapie“, sondern auch zahlreiche Fragen der allgemeinen Religionspsychologie werden behandelt. Die Gliederung ist gut und übersichtlich, grau unterlegte Kästen mit Zusammenfassungen markieren immer wieder den Fluss der Darstellung. Sehr hilfreich ist Kapitel 9, das ein kurzes Fazit der vorherigen Ausführungen anbietet. Was möglich war, um Leserinnen und Lesern die Orientierung zu erleichtern, wurde getan, einschließlich eines Stichwortregisters. Das Projekt des Autors erzwingt jedoch einen häufigen Wechsel der Aussage- und Sprachebenen und fordert ständige, wache Aufmerksamkeit beim Lesen. Von daher entsteht manchmal der Eindruck, ein wissenschaftliches Handbuch zum Thema „Religion und Psychologie“ vor sich zu haben, was die Publikation eigentlich nicht sein will. Jedenfalls macht es der Charakter des Buches so gut wie unmöglich, seinen Inhalt in einer Besprechung zu referieren. Sie muss sich darauf beschränken, den Standpunkt des Autors und das Ziel seiner Arbeit zu beschreiben, und einige Hinweise zu geben, wie dieses Ziel verfolgt wird.
Aus der persönlich gehaltenen Einleitung ist zu entnehmen, dass der Autor die Frage, wie sich Religion und Psychologie zueinander verhalten, als Christ stellt. Dabei begibt er sich weder in eine apologetische Position gegenüber psychologisierender Religionskritik, noch will er auf psychologische Untersuchungen religiöser Erfahrung verzichten, noch will er diese Erfahrung auf psychologische Erklärungen reduzieren. Die unterschiedlichen Frage- und Aussagekategorien sollen vielmehr sorgfältig unterschieden und aufeinander bezogen werden. Dieser Ansatz wird entfaltet, wenn in Teil 1 die Psychologie der Religion im Einzelnen behandelt wird, ein Thema, das der Autor in einem früheren Werk (Religionspsychologie, Stuttgart 1998) darstellte, und das er nun „up to date“ bringt, indem er zum Beispiel neurobiologische Sachverhalte mit aufnimmt. Der Teil beginnt jedoch mit der Religionssoziologie der Neuzeit und ihren psychologistischen Ideologien. Weiterhin wird die Geschichte der Religionspsychologie behandelt und die von ihr transportierten und verwerteten Menschenbilder werden diskutiert. Teil 2 befasst sich mit Religion als Thema von Beratung und Psychotherapie, dabei auch mit dem Verhältnis von Psychologie und christlicher Seelsorge. Dabei werden die spirituellen Therapien behandelt, und die Wirkung der Religion auf die Gesundheit, ein besser erforschtes Feld als manche andere, nimmt viel Raum ein. Wer Informationen zu diesem Thema sucht, wird hier gut bedient. Ein Kapitel zur spirituellen Sinnfindung schließt Teil 2 ab. Teil 3 befasst sich mit der Praxis unter der pointierten Fragestellung, ob und wie religiöse Themen in die Helferbeziehung eingeschlossen, oder von ihr ausgeschlossen, werden sollten. In diesem Teil wird besonders deutlich, dass der Autor als Referent der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen über viele Praxiskontakte verfügt, bis hin zu interessanten Fallkonstellationen, durch die Methoden und Theorien „geerdet“ werden. Teil 4 entfaltet unter der Überschrift „Therapeuten berichten“ den Praxisbezug weiter, indem elf Ärzte und Therapeuten (Pardon: zwei Frauen sind darunter) aus ihrer Arbeit berichten und über dieselbe nachdenken. Der bunte Strauß der Personen und ihrer Gedanken ist faszinierend und wäre eine eigene Besprechung wert, er reicht von einer Berühmtheit wie Tilman Moser über eine Musiktherapeutin bis zum Chefarzt einer Klinik, die der Pfingstbewegung nahe steht. Nur eine grantelnde Randbemerkung sei erlaubt: Warum stammen alle zwölf Stimmen aus der Tiefenpsychologie, mit einer kleinen Garnitur humanistischer und transpersonaler Ausrichtung? Denken psychologisch-empirisch orientierte Therapeuten, die zum Beispiel das Krankheitsbild Anorexia, oder Phobien, oder Depressionen verhaltens- und kognitionstherapeutisch behandeln, nicht über Religion nach, oder schreiben sie nicht darüber? Das könnte immerhin sein, wäre aber schade. Vielleicht regt das vorliegende Buch auch diese Leute, die im Verdacht besonderer fachlicher Nüchternheit stehen, zu Nachdenken über Religionsfragen an. Das wäre sicherlich im Interesse des Autors und würde dem Fach gut tun. Wer das Buch durchgearbeitet hat, wird davon überzeugt sein.
Hansjörg Hemminger, Stuttgart