Kirche

"Religiöse Orientierung gewinnen" - EKD-Denkschrift zum Religionsunterricht

„Religiöse Orientierung gewinnen“ – EKD-Denkschrift zum Religionsunterricht. Unter dem Titel „Religiöse Orientierung gewinnen“ wurde am 6.11.2014 eine Denkschrift der EKD vorgestellt, die zentrale Fragen religiöser Bildung im Religionsunterricht (RU) unter den Bedingungen religiös-weltanschaulicher Vielfalt erörtert. Programmatisch heißt es im Untertitel: „Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule“ (www.ekd.de/download/religioese_orientierung_gewinnen.pdf). Bisher fand dieser wichtige Text nur begrenzte Beachtung. Seit April 2015 gibt es für Interessierte die Möglichkeit, sich online mit Kommentaren und Anmerkungen am Diskussionsprozess über Themen und Anliegen der Publikation zu beteiligen.

Kenntnisreich werden in der Denkschrift die Veränderungen und Herausforderungen der religiös-weltanschaulichen Landschaft benannt: demografischer Wandel, unzureichender Ausbau des kooperativen Religionsunterrichts, RU und interreligiöse Bildung, RU und Konfessionslosigkeit. In Fortschreibung der vor 20 Jahren erschienenen EKD-Denkschrift „Identität und Verständigung“ wird unterstrichen: Auch heute ist der RU konfessionell orientiert. Konfessionelle Bindung und dialogische Offenheit schließen sich gerade nicht aus. Dialog und Verständigung werden nicht durch Selbstrelativierung gefördert. Eine erkennbare Identität ist Voraussetzung für Dialogfähigkeit. Allerdings ist heute nicht nur zu fragen, wie sich evangelischer Religionsunterricht zu anderen christlichen Konfessionen verhält, sondern auch danach, welche Verhältnisbestimmungen zu anderen Religionen und zu religionsdistanzierten und atheistischen Weltdeutungen zur Geltung zu bringen sind.

Der heutige RU ist offen für Religionsdistanzierte und Andersgläubige, ohne die Unterschiede zwischen den Weltdeutungen der Religionen und Weltanschauungen einzuebnen. Er versteht sich als Chance für Kinder und Jugendliche. Für viele ist es der einzige Ort, an dem eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit religiösen Fragen und kirchlichen Themen stattfindet. Pluralitätsfähigkeit wird als zentrales Bildungsziel ins Spiel gebracht, das für die schulische Bildung wie für den Religionsunterricht gleichermaßen gilt. Aus evangelischer Perspektive meint Pluralitätsfähigkeit nicht den Verzicht auf ein eigenes Bekenntnis, eine eigene Perspektive. Vielmehr geht es darum, mit religiösen und konfessionellen Differenzen respektvoll und zugleich konstruktiv umzugehen. Religiöse und weltanschauliche Überzeugungen werden ihrer Natur nach nicht von allen geteilt. Religiöse Bildung dient dazu, Unterschiede wahrzunehmen und Gemeinsamkeiten zu entdecken und zu stärken. In den Ausführungen der Denkschrift wird religiöse Vielfalt in der „doppelten Spur von Gemeinsamkeit und Differenz bearbeitet“.

Lebensgeschichtliche und lebensweltliche Aspekte sind in religiösen Bildungsprozessen von zentraler Bedeutung. Die alltägliche Begegnung mit fremden Religionen und Weltanschauungen fordert heraus, die eigene Perspektive auf andere, fremde Glaubensweisen zu beziehen. Eine grundlegende Dialogoffenheit und wechselseitig kritische Wahrnehmungen gehören zusammen. Die Denkschrift zeigt eindrucksvoll, dass die evangelische Kirche ihr eigenes Bekenntnis mit der Achtung fremder religiös-weltanschaulicher Orientierungen zu verbinden sucht und für Religionsfreiheit und eine überzeugte Toleranz eintritt, die freilich auch Kritik und Unterscheidung einschließen kann. Harmonisierungsstrategien sind als Antwort auf die Situation weltanschaulicher Vielfalt ebenso untauglich wie fundamentalistische Abwehrreaktionen.

Die Pluralität von Weltanschauungen und Religionen ist in offenen Gesellschaften unaufhebbar. Zur aktiven Toleranz gehört die Anerkennung widerstreitender Überzeugungen. Religiöse Bildung muss angesichts der Vielfalt weltanschaulicher Orientierungen die Wahrnehmung für den fremden und den eigenen Glauben gleichermaßen schärfen und so zur Stärkung religiöser Urteilsfähigkeit beitragen. Wie ein roter Faden zieht sich das Stichwort Pluralitätsfähigkeit durch alle Ausführungen der Denkschrift.

Man wird fragen können, ob das unter Schülerinnen und Schülern weit verbreitete Phänomen der Religionsdistanz genügende Aufmerksamkeit gefunden hat. Gleichwohl gilt: Die Analysen der Denkschrift sind lesenswert, die Vorschläge zur Weiterentwicklung des Religionsunterrichts anregend. Es lohnt sich, kritisch und ergänzend, korrigierend und zustimmend Abschnitte und Passagen zu kommentieren. Im RU haben die christlichen Kirchen Gelegenheit, sich am Diskurs über die Lebens- und Zukunftsfragen der Gesellschaft zu beteiligen, und sind zugleich aufgefordert, ihre Glaubens- und Lebensorientierungen öffentlich zu verantworten.


Reinhard Hempelmann