Jürgen Straub

Religiöser Glaube und säkulare Lebensformen im Dialog. Personale Identität und Kontingenz in pluralistischen Gesellschaften

Ernst-Dieter Lantermann, Die radikalisierte Gesellschaft. Von der Logik des Fanatismus, München 2016, 223 Seiten, 19,99 Euro.

Jürgen Straub, Religiöser Glaube und säkulare Lebensformen im Dialog. Personale Identität und Kontingenz in pluralistischen Gesellschaften, Gießen 2016, 226 Seiten, 24,90 Euro.

Mit Recht wird kritisiert, dass psychologische Erkenntnisse zu selten auf aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen angewendet würden und sich Forscher gerne in ihren universitären Elfenbeinturm zurückzögen. Es gibt aber rühmliche Ausnahmen. Zwei Psychologen haben im letzten Jahr mit psychologisch geschultem Blick aktuelle gesellschaftspolitische Konfliktherde analysiert und wichtige Impulse zum Umgang mit Fanatikern und zum Dialog zwischen Gläubigen und Atheisten vorgelegt.

Ernst-Dieter Lantermann hat bis vor Kurzem an der Universität Kassel Persönlichkeits- und Sozialpsychologie unterrichtet. Sein Buch ist im feuilletonistischen Stil flüssig geschrieben und leicht verständlich. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist das Verschwinden von Gewissheiten als Signatur unserer Zeit. Viele Menschen fühlten sich von dem raschen Tempo der gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen überfordert. Die angewachsenen Unsicherheiten gefährden nach Lantermann die eigenen Bedürfnisse, Werte und Überzeugungen. Dies werde als ein bedrohlicher Angriff auf das Selbstwertgefühl wahrgenommen. Mit Abraham Maslow betrachtet er den Wunsch nach Sicherheit als ein grundlegendes, unverzichtbares menschliches Bedürfnis, das heute kaum zu stillen sei. Aus psychologischer Sicht verweist er auf wichtige innere Ressourcen der „Selbstregulationskompetenz“, die sich als besonders hilfreich für die Bewältigung unsicherer und belastender Anforderungen erwiesen hätten. Dazu zählt vor allem ein hohes „Kohärenzgefühl“, d. h. die Fähigkeit, inneren und äußeren Ereignissen Sinn und Bedeutung zu verleihen, das Vertrauen darauf, seine Lebensaufgaben aus eigener Kraft meistern zu können, und das Dasein allgemein als strukturiert und verstehbar wahrzunehmen. Mit diesen Ressourcen könne Unsicherheit recht gut bewältigt werden. Wer solche nicht zur Verfügung habe, gerate leicht in die Netze der Radikalisierung – so begründet Lantermann die „Psycho-Logik“ des Fanatismus.

Nach dieser psychologischen Herleitung des menschlichen Drangs nach Sicherheit wird im zweiten Abschnitt zu „selbstwertdienlichen Unsicherheitsreduktionen“ an fünf Beispielen verdeutlicht, wie sie in unterschiedlicher Gestalt fanatischer Überzeugungen in unsere Gesellschaft und unseren Alltag Einzug gehalten hätten. Den Trend zur Radikalisierung weist der Autor an den Phänomenen Fremdenhass, sozialer Rückzug, bewachte Wohnanlagen, optimierte Körper und „sinnstiftende Mahlzeiten“ nach. Mit flotter Sprache und anschaulichen Beispielen verdeutlicht der Autor hier seine zuvor getroffenen psychologischen Analysen überzeugend. Erfreulich ist natürlich auch festzustellen, dass in das Kapitel zum Veganismus maßgeblich Überlegungen eines EZW-Referenten eingeflossen sind, die der Autor Aufsätzen der vorliegenden Zeitschrift entnommen hat.

Im letzten Abschnitt plädiert der Psychologe für eine produktive Aneignung des Ungewissen. Er erinnert an die inneren Ressourcen, die als Schutz- und Widerstandsfaktoren wie ein inneres Schutzschild wirken könnten. Nach seiner Einschätzung verfügt Deutschland über eine außerordentlich robuste, aktive Zivilgesellschaft, weshalb er den gesellschaftlichen Herausforderungen wie Verständigung, gegenseitige Unterstützung, Solidarität und Fairness optimistisch entgegensieht.

Auch wenn neuere Forschungsergebnisse zur Psychologie des Fanatismus (vgl. dazu die Angaben im gleichlautenden Stichwort im MD 2/2017) und wichtige religionspsychologische Aspekte zur Dynamik geschlossener Gruppen fehlen, hat der Autor eine wichtige Studie zu einem brisanten Thema vorgelegt.

Auf einem etwas abstrakteren Niveau, aber nicht weniger engagiert gelingt es dem Bochumer Kultur- und Sozialpsychologen Jürgen Straub in seinem neuen Buch, eine tragfähige Brücke zwischen den tief verfeindeten Geschwistern Wissen und Glauben zu bauen, indem er sie durch stabile, identitätstheoretische Säulen stützt.

Die Studie ist systematisch gegliedert und beginnt mit den schwierigen, häufig durch Vorurteile belasteten Beziehungen zwischen religiösen und säkularen Lebensformen. Vehement widerspricht Straub der typischen Kontrastierung von Religion und Moderne. Die provozierende Hypothese der Studie lautet: Das „säkulare Zeitalter“ (Charles Taylor) bietet eine vorzügliche Plattform, auf der religiöse und säkulare Lebensformen friedlich miteinander zusammenleben können. In den folgenden Kapiteln legt der Autor überzeugend dar, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts die politisch bedeutsame Trennlinie keineswegs zwischen religiösen und nichtreligiösen Menschen verlaufe, sondern zwischen Menschen, die „Kontingenzbewusstsein und Offenheit in ihr komplexes Selbst- und Weltverständnis integriert haben“, und denen, „die totalitär strukturiert sind – gleichgültig, ob sie nun gläubig sind oder nicht“ (112).

Das Thema ist klar und gesellschaftlich hoch relevant: Wie lassen sich religiöser Glaube und säkulare Lebensformen, anstatt zu rivalisieren und sich gegenseitig abzuwerten, in einem offenen Dialog halten? Wie lässt sich personale Identität und Kontingenz in pluralistischen Gesellschaften leben, ohne miteinander in Streit zu geraten? Diese Frage ist auch deswegen brisant, weil die Mehrheit der deutschen Bevölkerung nicht religionsfrei oder gar atheistisch eingestellt ist. Natürlich hat die kirchliche Bindung deutlich nachgelassen – der Mitgliederschwund der großen Kirchen ist unübersehbar, wobei der demografische Wandel als Einflussgröße nicht übersehen werden darf. Aber immerhin schätzen sich 19 Prozent der Deutschen nach dem Religionsmonitor 2013 als tief religiös oder spirituell ein. Diese Zahl hat sich aufgrund der Migrationsströme noch erhöht. Wenn also ein Fünftel bis ein Viertel der deutschen Bevölkerung religiöse oder spirituelle Werte verfolgt, muss auch eine strikt wertneutrale und säkulare Psychologie lernen, damit professionell umgehen.

Straub zeigt in einem langen und differenzierten Kapitel auf, dass die „Säkularen“ keineswegs neutral sind. Insbesondere den „Neuen Atheisten“ weist Straub eine „Sündenbock-Strategie“ nach. Wenn etwas schlecht läuft – schuld daran sind die unaufgeklärten und dogmatisch verbohrten Religiösen. In sorgfältigen Einzelanalysen entlarvt der Autor die naturalistischen Ideologien der Entwürfe von Dawkins, Dennett und Kollegen. Herbert Schnädelbach ordnet er als einen „exzentrisch-milden Atheisten“ ein, während er Thomas Metzinger eine „generelle Psychopathologisierung“ vorhält. Deshalb wird seine naturalistische Philosophie als ein „vergleichsweise subtiler, raffinierter Versuch“ in das Einzugsgebiet des „Neuen Atheismus“ gestellt. Polemische Religionskritik, so lautet ein Zwischenfazit Straubs, scheint ihm „ein Teil des Problems, keine Lösung“ zu sein (82). Exemplarisch zeichnet der Autor den Dialog zwischen Jürgen Habermas und Joseph Ratzinger nach, der von Offenheit, Sachlichkeit und Fairness geprägt sei. Unter diesen Voraussetzungen könnten Ähnlichkeiten im Verschiedenen und ein überraschendes Einvernehmen festgestellt werden.

Straub hält einen von Sachlichkeit geprägten interreligiösen und interkulturellen Dialog für eine politische Notwendigkeit in offenen, pluralistischen Gesellschaften. Als Verständigungsbrücke entfaltet der Autor in den folgenden Kapiteln die jeweilige personale Identität, die er als ein „offenes, kontingentes und dynamisches Selbst- und Weltverhältnis“ charakterisiert. Unter dieser Prämisse würden sich „gläubige und areligiöse Menschen in einer psychologisch höchst bedeutsamen Hinsicht ähneln und sich auch deswegen gut miteinander verständigen und vertragen – ungeachtet aller sonstigen Unterschiede“ (107). Theoretisch klingt das einleuchtend, doch mühsam ist alle praktische Umsetzung. Hier hätten praktische Beispiele zur Veranschaulichung des Gesagten eine wichtige Funktion übernommen.

Im letzten Kapitel wird begründet, warum das Prinzip der Laizität als gesellschaftliche Grundordnung die beste Voraussetzung für ein friedfertiges Miteinander bildet. Angesichts der Pluralität von Weltbildern sei heute eine vertiefte Haltung der Toleranz nötig. Leider werden hier die Befunde des bisherigen Gedankengangs teilweise wiederholt und mit sozialphilosophischen und gesellschaftspolitischen Diskursen verbunden. Viel spannender wäre es gewesen, konkrete Anregungen zur Verbesserung des interreligiösen und interkulturellen Dialoges zu erhalten, wie das im vorigen Kapitel entfaltet wurde. Was verhindert fundamentalistische Abwehr, was den Rückzug in populistische Milieus? Hier fehlen Konkretionen zur praktischen Umsetzung des Erkannten.

Leider löst der Autor auch ein Versprechen aus seinem Vorwort nicht ein. Er positioniert seine Studie im weiten Feld der Religionspsychologie, in das er nun erste Schritte gemacht habe. Es werden aber keine Bezüge zur religionspsychologischen Forschung hergestellt, obwohl sie thematisch naheliegen. Einen fruchtbaren Dialog zwischen analytischem Denken und religiöser Weisheit auf Grundlage einer Persönlichkeitstheorie hat Julius Kuhl zum Beispiel als „Spirituelle Intelligenz“ (München 2005) beschrieben, der damit ähnliche Intentionen wie Straub aus identitätstheoretischer Sicht verfolgt. Hier könnte ein spannender Dialog zwischen zwei Kollegen einsetzen, der einige Gemeinsamkeiten, aber auch Gegensätze hervorbringen würde.

Trotzdem ist die Studie aus mehreren Gründen spannend. Zum einen ist sie verständlich geschrieben und greift aktuelle politische Diskussionen auf. Zum anderen kann man dem Autor keinesfalls Parteilichkeit oder eine „hidden agenda“ vorwerfen. Unmissverständlich outet er sich als ein „Gottloser, dem nach eigenem Befinden noch nicht einmal etwas fehlt“ (81). Umso verdienstvoller, dass er sich differenziert und sachlich mit religiösen Glaubensformen auseinandersetzt! Straubs Plädoyer für eine offene, pluralistische Zivilgesellschaft, die im Bewusstsein von Kontingenz und Differenz einen für beide Seiten fruchtbaren Dialog zwischen unterschiedlichen personalen Identitäten – religiösen und atheistischen – ermöglicht, macht Mut, dieser anspruchsvollen Aufgabe nachzukommen.


Michael Utsch