Wolfgang Vögele

Religiöses Amerika - Säkulares Deutschland?

Eine Tagung in der Katholischen Akademie Bayern in München vom 3. - 4.11.2005

Die Katholische Akademie Bayern und das Council on Public Policy, ein Think Tank amerikanischer und deutscher Wissenschaftler und Politiker, organisierte vom 3. bis 4. November 2005 in München eine Konferenz unter dem Titel „Religiöses Amerika – Säkulares Deutschland“. Die Konferenz war verknüpft mit einer ähnlichen Tagung, die in derselben Woche in New York stattfand und einem vielbeachteten Vortrag, den die designierte Bundeskanzlerin Angela Merkel am Abend vor Tagungsbeginn vor über 900 angemeldeten Zuhörern über die Werte Europas gehalten hatte.

Was macht die Hauptunterschiede zwischen den USA und Europa in Sachen Religion aus? Der Bayreuther Soziologe Michael Zöller, einer der Mitorganisatoren der Tagung, betonte in seinem einführenden Vortrag, in den USA sei der Prozess der Säkularisierung sehr viel langsamer und nachhaltiger verlaufen als in Europa. Das habe bewirkt, dass sich das Verhältnis zwischen der Aufklärungsphilosophie und Religion nicht so konfliktreich gestaltet habe wie in Europa. Den amerikanischen christlichen Denominationen sei es immer gelungen, politische und kulturelle Strömungen mit zu beeinflussen, ohne zu deren Opfer zu werden. Die Denominationen schafften es, in allen die amerikanische Gesellschaft prägenden Konflikten – von der Abschaffung der Sklaverei bis zur affirmative action, die Minderheiten gleiche Rechte an Schulen und Universitäten einräumen sollte – eine gestaltende Rolle zu spielen.

Alan Mittleman (New York) bezweifelte Max Webers These, wonach Modernisierungs- und Säkularisierungsprozesse unlöslich miteinander verknüpft seien. Sowohl in Europa als auch in den USA werde die Modernisierung nicht zu einem Untergang der Religionen führen. Dieses zeige sich an einer intensiven Auseinandersetzung über den Islam, die gegenwärtig die USA präge und die nach dem 11. September 2001 mit großer Heftigkeit aufgebrochen sei.

Joshua Mitchell (Washington, D.C.) erklärte die Besonderheiten der amerikanischen Religionskultur aus ihrer Geschichte: Schon aus den Reflexionen des Amerika-Beobachters Alexis de Tocqueville gehe hervor, wie Religion in den USA als kommunitaristisches Gegengewicht gegen den Einsamkeitsindividualismus der liberalen Tradition verstanden werden müsse.

Michael Novak (Washington, D.C.) differenzierte das komplexe Verhältnis zwischen Religiosität und Säkularität in den USA: Er sprach davon, wie sich ein „praktischer Säkularismus“ auch in den Religionskulturen der Denominationen breit macht. Er betonte gleichzeitig den starken Einfluss der biblischen Religionen auf die politische Kultur und entwickelte dies am Leitfaden des Freiheitsbegriffs. Entscheidend für die amerikanische politische Kultur sei der in christlich-jüdischer Tradition zu denkende Ruf in die Freiheit – und daraus folgend die Antwort des Menschen in Gehorsam oder Ungehorsam. Damit ergab sich für Novak eine spannende, aufeinander aufbauende Stufenfolge: Freiheit setze eine (demokratische) Republik voraus. Eine Republik setze bestimmte Habitusformen politischer Kultur voraus. Und Religion wiederum sei die Voraussetzung solcher Habitusformen, Einstellungen und Mentalitäten. In der folgenden Diskussion stellte ein amerikanischer Beobachter einen wichtigen Zusammenhang zwischen Religion und Sozialstaat heraus. Wenn es richtig sei, Religion als den Versuch zu denken, mit den Kontingenzen und dem Chaos des Lebens umzugehen, dann sei vielleicht deshalb in den USA der Religionsbedarf größer als in den europäischen Staaten, weil in den USA der (materielle) Kontingenzen ausgleichende Sozialstaat bei weitem nicht so stark ausgebildet sei.

Der Politologe William Galston (University of Maryland) konnte dieses Bild weiter differenzieren. Seine entscheidenden Thesen lauteten: Der Einfluss des amerikanischen Mainstream Protestantismus auf die Politik nimmt ab. Nicht die Differenzen zwischen Protestantismus, Judentum und katholischer Kirche sind für die USA entscheidend, sondern die Kontroversen zwischen konservativen und liberalen Kräften innerhalb dieser Religionen und Denominationen. Strittig ist dabei die Rolle der Religion in der Politik, das Politikverständnis einer liberalen Demokratie und die Pluralität innerhalb der eigenen Religion.

Durch diese Vorträge amerikanischer Experten kristallisierte sich langsam und stetig ein deutlicheres Bild der amerikanischen religiösen Kultur heraus: Der europäische Blick, der in den USA vor allem die Vorherrschaft politisch einflussreicher evangelikaler Fundamentalisten am Werk sieht, reicht zu kurz. Ihm fehlt es an Tiefenschärfe.

Was bedeutet das aber im Vergleich zur deutschen und europäischen Religionskultur? Der Publizist Otto Kallscheuer (Berlin) stellte die Frage: Stehen die USA als Musterland des religiösen Pluralismus mit den etablierten Instituten von Religionsfreiheit, liberaler Öffentlichkeit und Gewaltenteilung gegen die europäischen Nationen, die durch Volksparteien, Volkskirchen, damit verbundene konfessionelle Milieus und das Sozialstaatsprinzip stärker auf Konsens und Homogenität ausgerichtet sind? Kallscheuer sah in seiner Diagnose eine Krise der (relativen) europäischen Religionshomogenität heraufziehen: In ihr zerbrechen konfessionelle Milieus, sozialstaatliche Strukturen lösen sich auf und haben damit langfristig auch auf die Religionsgemeinschaften Auswirkungen. Er beobachtete eine große Parallelität zwischen der Krise des Sozialstaats, der Krise der Volksparteien und der Krise der Volkskirchen. Wie auch immer man diese These beurteilen mag: Diese Krise ist spezifisch europäisch, dafür lässt sich in der amerikanischen politischen Kultur keine Parallele finden.

Kallscheuers Vortrag leitete zu Frageperspektiven über, die sich dem Vergleich europäischer und amerikanischer Religionskultur widmeten. Der Schlusstag der Tagung war darum von der Diskussion über das Konzept der Zivilreligion geprägt. Die in Deutschland von Hermann Lübbe und in den USA von Robert Bellah aufgeworfene Frage nach religiösen Beständen der politischen Kultur, die jenseits konfessioneller Prägungen gelten, fand zwar in den letzten Jahren weniger Aufmerksamkeit als noch in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts, aber sie taugt immer noch als Leitfrage, um die Besonderheiten des Verhältnisses von politi-scher Kultur und Religionen herauszuarbeiten.

Lübbe selbst war ja in der deutschsprachigen soziologischen Diskussion dadurch hervorgetreten, dass er als einer der ersten der These energisch widersprochen hatte, dass mit fortschreitender Säkularisierung alle Religionen zum Untergang verdammt seien. Dagegen gäbe es einen Bestand von Religion, der trotz Aufklärung und Säkularisierung weiterhin Bestand habe. Diese These hat sich bestätigt, nicht nur, was amerikanische und europäische Verhältnisse angeht. Damit stellen sich allerdings besondere Fragen nach dem Verhältnis von Religionsfreiheit und politischer Kultur, nach dem Verhältnis von Mehrheits- und Minderheitsreligionen, nach der Aufgabe von Kirchen und Religionen und ihrem kritischen wie konstruktiven Beitrag für die Rechtskultur eines demokratischen Verfassungsstaats.

In diesem Kontext ist die Frage nach der Zivilreligion angesiedelt. Dabei ist es möglich, sich positiv und kritisch auf dieses Konzept zu beziehen. Der Staatsrechtler Christian Hillgruber (Bonn) bevorzugte gegenüber dem Konzept der Zivilreligion die Besonderheiten deutschen Staatskirchenrechts. Der Staat versteht sich danach als weltanschaulich-neutral. Er trifft nur die eine Voraussetzung, dass jedes menschliche Dasein sinnvoll und würdig ist. Diese Voraussetzung erkennt er im Prinzip der Menschenwürde (Art. 1 Grundgesetz) an. Eine Begründung für diese Menschenwürde kann der Staat nicht bieten, dafür braucht er die Religionen, vorzugsweise das Christentum. Die christlichen Kirchen stellen für Hillgruber theologische und darum begründende Auslegungen der „nicht-interpretierten These“ (Theodor Heuss) der Menschenwürde bereit. Insofern leiste das Christentum in Gestalt der katholischen und evangelischen Kirche einen Beitrag zu den Voraussetzungen des Staates, die dieser nach der bekannten These Ernst Wolfgang Böckenfördes selbst nicht garantieren kann.

Am Ende bleibt die Frage: Kann die amerikanische Konstellation aus konsensueller Zivilreligion und differenzierender Religionsfreiheit besser mit Menschen unterschiedlichen Glaubens zurechtkommen als die deutsche Option, die sich aus Staatskirchenrecht, Bekenntnis zu Menschenwürde und Menschenrechten sowie weltanschaulicher Neutralität des Staates aufbaut?

Deutlich wurde bei der Tagung, dass die deutsche wie die amerikanische politische Kultur dieselben Probleme zu lösen haben: Wie können Menschen verschiedener Religionen möglichst konfliktfrei zusammenleben und unterschiedliche politische Interessen in gemeinsamen Kompromissen lösen? Wie kann das bleibende Vorhandensein religiöser Interessen, Einstellungen und Überzeugungen in einer pluralen, liberalen Öffentlichkeit seinen adäquaten Ausdruck finden?

Auch das zeigte die Tagung: Eine ganze Reihe wichtiger politischer Fragen, vom EU-Beitritt der Türkei über den Werte-Unterricht in Berlin bis zur Frage nach einem Gottesbezug in der Präambel der europäischen Verfassung sind ohne ihre religiöse Grundierung und das dabei mitschwingende komplexe Verhältnis von Religion, Recht, Politik und Kultur nicht zu lösen.


Wolfgang Vögele, Berlin


Nachbemerkung:
Die Katholische Akademie in Bayern plant, die Vorträge der Konferenz in Auszügen in der nächsten Nummer ihrer Hauszeitschrift „zur debatte“ zu publizieren. Die Zeitschrift kann leicht über die Website der Akademie (http://www.kath-akademie-bayern.de) bestellt werden.