Volker Zotz

Religion als Projektion

Der Buddhismus als Sehnsuchtsort

Hört man die Formulierung „Religion als Projektion“, liegt der Gedanke an jenen Aspekt der Religionskritik Ludwig Feuerbachs nahe, der als Projektionstheorie bezeichnet wird. Der Mensch überträgt sein Verlangen nach Todlosigkeit, Freiheit von Ohnmacht, Allwissenheit, Liebe und Gerechtigkeit auf ein höheres Wesen, dessen Vollkommenheit damit alles verkörpert, was er im Grunde sein möchte. Feuerbach selbst verwendete in diesem Zusammenhang nicht den Begriff der Projektion, sondern den der Reflexion: „Die Religion ist die Reflexion, die Spiegelung des menschlichen Wesens in sich selbst.“2

Nach Feuerbach bilden religiöse Aussagen also keine höheren Wahrheiten ab, sondern gewähren Aufschlüsse über die Wünsche des Menschen und damit über seine Natur. Von der Idee ausgehend, dass mit Religion verbundene Vorstellungen Auskunft über menschliche Anliegen geben, soll hier die Faszination betrachtet werden, die der Buddhismus in Europa ausübt. Was verrät es über Wünsche und damit von den empfundenen Defiziten, wenn er als attraktiv empfunden wird? Wie spiegeln Menschen ihr Wesen durch Aussagen über buddhistische Inhalte?

Was dabei zur Sprache kommen wird, ist zuvor in zweierlei Hinsicht zu relativieren. Paul Tillich gab im Hinblick auf Projektionstheorien zu bedenken, dass immer auf etwas projiziert wird, weshalb nicht der Schirm, auf den ein Bild fällt, mit dem Projizierten zu identifizieren ist.3 Darum gilt als erster Vorbehalt: Was sich über Projektionen auf den Buddhismus durch seine Anhänger feststellen lässt, gewährt allenfalls Aufschlüsse darüber, auf welche Weise dieser ihnen zum Sehnsuchtsort wurde. Über Wahrheiten oder Irrtümer dessen, was sie Buddhismus nennen, ist damit nichts ausgesagt.

Sodann sei vorausgeschickt, dass das hier Dargelegte sich zwar auf erkennbare starke Tendenzen in der Geschichte der westlichen Rezeption des Buddhismus bezieht, aber keinesfalls verallgemeinert werden darf. Letztlich gibt es so viele Motive für die Hinwendung zum Buddhismus wie Menschen, die sie vollzogen. Einfache Erklärungen, die für Konversionen einen Aspekt wie die Begeisterung am Exotischen, bestimmte philosophische Inhalte oder Angebote der Meditation zentral stellen, werden der Komplexität des Sachverhalts nicht gerecht.

Zur Geschichte der buddhistischen Bewegung in Deutschland

Der Beginn einer Bewegung explizit bekennender Buddhisten lässt sich für Deutschland mit 1903 datieren.4 In diesem Jahr gründete Karl Seidenstücker (1876 – 1936) in Leipzig den „Buddhistischen Missionsverein für Deutschland“. Die Gemeinschaft betonte, dass sich ihr Wirken nicht gegen etablierte Religionen richtete und ihre Mitglieder selbstverständlich einer christlichen Kirche angehören könnten.

Hinter dem nach außen kommunizierten entspannten Verhältnis zum christlichen Abendland verbarg sich jedoch eine gegenteilige Haltung. Unter dem Pseudonym Bruno Freydank hatte Seidenstücker im Jahr vor der Vereinsgründung das Buch „Buddha und Christus“ veröffentlicht, eine bittere Abrechnung mit dem Christentum.5 Im Alten Testament berichteten Brutalitäten wird hier eine gewaltlose buddhistische Ethik entgegengehalten. Im Unterschied zur christlichen Mission, die sich in Seidenstückers Darstellung hauptsächlich des Schwerts bediente, schildert er die Geschichte eines friedliebenden Buddhismus, der sich allein durch seine Überzeugungskraft ausbreitete. Das Buch entwirft das Szenario eines bevorstehenden geistigen Kampfs zwischen Christentum und Buddhismus. Christen, die dabei den Buddhismus kritisieren, werfen einem Gleichnis Seidenstückers zufolge Kot gegen die Sonne, die ungetrübt weiterscheint, während der Kot auf die Werfenden zurückfällt.

1903, im Jahr der Gründung des Buddhistischen Missionsvereins, veröffentlichte Seidenstücker wiederum als Bruno Freydank das Buch „Die Greuel der christlichen Zivilisation“.6 In Form von Briefen, die ein vorgeblich in Europa reisender Tibeter in die Heimat schreibt, werden Geschichte und Gegenwart des Abendlands im Licht einer heilen buddhistischen Welt kritisiert: Das Christentum suggerierte dem Menschen eine Rolle als Krone der Schöpfung, weshalb er die Welt rücksichtslos ausbeutet. Schlachthöfe und Tierversuche, Stierkampf und Jagd werden zu Beispielen eines christlichen Missachtens der Natur, das sogar vor Menschen keinen Halt macht. In christlichen Ländern schreckt man vor Experimenten an Menschen nicht zurück und unterdrückt in Amerika die schwarze Bevölkerung. Die christliche Ehe erscheint im Buch als ein Mittel zur Versklavung von Frauen.

So erweist sich die Gründung der ersten buddhistischen Gemeinschaft in Deutschland von einem starken antichristlichen Sentiment getragen. Für die Beteiligten hatte das Zurückdrängen des Christentums mindestens denselben Stellenwert wie die Mission für den Buddhismus.

Seidenstückers Kritik am Christentum und seine Idealisierung buddhistischer Länder hängt sicher zu einem beträchtlichen Teil von persönlichen Erfahrungen ab. Als Sohn eines protestantischen Geistlichen wuchs er im Pfarrhaus auf. Der Protestantismus dürfte ihm als zu prosaisch erschienen sein, denn er berichtet von paranormalen Erlebnissen in der Jugend.7 Ein Medizinstudium brach er nach fünf Semestern ab, weil er Tierversuche verabscheute, und promovierte schließlich als Indologe.

Doch ging es wohl um mehr als um persönliche Erlebnisse eines Einzelnen in Elternhaus und Studium. Das Bewusstsein Seidenstückers, anderer Mitglieder des Missionsvereins und vom Buddhismus Angesprochener, in einem Kulturkampf zu stehen, weist Bezüge zu realen Tendenzen in der Gesellschaft auf. Die Bedrohung der Natur durch die triumphierende Technik und Industrialisierung, die steigende Bedeutung des Nationalismus und eine Säkularisierung, die auch die Kirchen erfasste, erlebten jene als besonders leidvoll, die nicht mit dem Strom schwammen.

Weil sie nicht glaubten, dass das Abendland aus eigener Kraft die Umkehr aus sozialen Ungerechtigkeiten, Krieg und Naturverachtung schaffen könnte, beschworen sie das Vorbild buddhistischer Kulturen. Hier glaubte man alle gut versorgt, es herrsche soziale Gerechtigkeit; sexuelle Unterdrückung und Prostitution hätten keinen Platz. Man achte die Rechte der Tiere, für die man sogar Krankenhäuser baue und die dem Menschen nicht als Nahrung dienten. Dass Seidenstücker in „Die Greuel der christlichen Zivilisation“ einen Tibeter zum Anwalt des Vegetarismus macht, ist symptomatisch dafür, wie das idealisierte Bild des Ostens als Gegenentwurf zur eigenen Realität ohne Bezug zu den Fakten entsteht. Für die überwiegende Mehrzahl der Buddhisten Tibets spielte der Vegetarismus nie eine Rolle.

Bei so viel Verklärung besteht die Gefahr der Ernüchterung. Auch dieser Umstand trug dazu bei, dass viele, die sich dem Buddhismus begeistert zugewandt hatten, ihm wieder den Rücken kehrten. Seidenstücker, der sich zwei Jahrzehnte nach der Gründung des Buddhistischen Missionsvereins dem Katholizismus zuwandte, war bei Weitem nicht der einzige exponierte Vertreter des Buddhismus in Deutschland, der wieder einen anderen Weg einschlug. Wolfgang Bohn, der 1912 in Halle den „Bund für Buddhistisches Leben“ gründete, resümierte als Katholik zehn Jahre später, der Buddhismus habe „nicht einmal die Mehrzahl der wenigen, die sich an ihn hingen, sittlich und asketisch beeinflussen können“8. Im Laufe des Jahrhunderts, in dem eine buddhistische Bewegung in Europa besteht, war er in dieser Weise für viele eine Durchgangsstation.

Gibt es den Buddhismus überhaupt?

Drei Motive der Projektion, die seit den Anfängen des Buddhismus im Westen stark präsent waren, sollen exemplarisch skizziert werden. Als erstes wird es um den Buddhismus gehen, von dem man so selbstverständlich spricht. Als solcher muss er als eine westliche Erfindung gelten. Wie das Wort eine europäische Prägung ist, für das nicht alle Sprachen der buddhistisch genannten Länder ein Äquivalent kennen, lässt sich auch das damit Bezeichnete nicht wirklich auffinden. Drastisch ausgedrückt kann man sagen: Der Buddhismus ist als solcher gar nicht existent. Alles das, was man damit bezeichnet, hängt zwar unter historischer Perspektive zusammen, doch führt der Sammelbegriff leicht in die Irre.

Dies kann ein Vergleich mit dem Christentum verdeutlichen. Hier gibt es von den orthodoxen Kirchen, dem Katholizismus und Protestantismus bis zu Gemeinschaften wie Jehovas Zeugen und der Neuapostolischen Kirche ein breites Spektrum. Doch basieren die unterschiedlichen Konfessionen auf einem Kanon. Abweichende Interpretationen haben mit der Bibel eine gemeinsame Grundlage.

Was man Buddhismus nennt, kennt keinen einheitlichen Kanon. Im Theravāda, der in Myanmar, Thailand, Laos und Sri Lanka vorherrschenden Konfession, ist die kanonische Grundlage ein in Pāli überlieferter Kanon, dessen Inhalte in Tibet nicht zu den heiligen Schriften gehören und die nicht einmal ins Tibetische übersetzt wurden. Dagegen werden tantrische Texte, die in Tibet als bedeutendste Schriften des Kanons gelten, aus der Perspektive des Theravāda als häretisch eingestuft.

Wie im Fall unterschiedlicher textlicher Grundlagen besteht unter den Konfessionen keine Einigkeit über die religiöse Praxis und deren Ziel. Zwar wird die Mehrheit der Buddhisten zustimmen, wenn man das Nirvāna, was wörtlich „Erlöschen“ heißt, als ihr Ziel bezeichnet. Aber dessen Interpretationen weichen denkbar stark voneinander ab. Das Spektrum reicht von Vorstellungen ewiger Seligkeit bis zu der Auffassung, dass das Nirvāna als solches gar nicht existiert, sondern lediglich ein Ausdruck für den Moment darstellt, in dem das Dasein eines Wesens ohne weitere Folge erlischt.

Auch die Methoden zum Erreichen des Nirvāna sind gegensätzlich. Dem Theravāda gelten ethische Regeln als essenziell, und eine asketische Lebensweise wird als besonders hilfreich betrachtet. Für die Jōdo Shinshū, eine der großen Konfessionen des Buddhismus in Japan, sind das Bemühen um ein Einhalten von Regeln und die Askese Hindernisse der Erlösung, weil sie egoistischer Berechnung entspringen. Da einzig die Hingabe an den Buddha befreien soll, lehnt man in der Jōdo Shinshū gleichfalls die Meditation ab, die man dagegen im Zen für das wesentliche Erfordernis der Erlösung hält. Im wiederum krassen Unterschied zum Meditieren mit einem leeren Geist im Zen stehen die an Inhalten reichen Bildmeditationen im Vajrayāna Tibets.

Nicht zuletzt diese starken Differenzen in Lehre und Praxis ließen in Asien so gut wie keine ökumenische Bestrebung unter Buddhisten aufkommen. Tatsächlich war die buddhistische Ökumene seit dem 19. Jahrhundert ein Projekt westlicher Konvertiten. Der Amerikaner Henry S. Olcott, der 1880 zum Buddhismus übertrat, legte 1891 die Schrift „Fundamental Buddhistic Beliefs“ vor, die als gemeinsame Grundlage eines weltweiten Zusammenschlusses der Buddhisten dienen sollte. Fand er in Ländern des Theravāda zunächst ein Echo, konnten die Autoritäten der buddhistischen Konfessionen Japans ihre Lehren darin nicht finden und verweigerten ihre Unterschriften.9

Den zweiten Plan einer buddhistischen Weltvereinigung verfolgten in Asien Ende der 1920er Jahre zwei Deutsche mit der Gründung einer „International Buddhist Union“. Ihr Präsident Nyanatiloka (Anton Güth, 1878 – 1957) und der Generalsekretär Anagarika Govinda (Ernst Lothar Hoffmann, 1898 – 1985) gaben den erfolglosen Versuch nach wenigen Jahren auf.

Offenbar bedurfte es der Sozialisierung in einem Umfeld, in dem religiöse Pluralität als problematische Zersplitterung empfunden wurde, um die Idee einer buddhistischen Weltgemeinschaft in Angriff zu nehmen. Ökumene ist ein zutiefst christliches Anliegen. Wird die nicht bestehende Einheit der Kirche Jesu Christi als unheilvoll empfunden, hängt dies mit dem Stellenwert der Ekklesia zusammen, der sich auf den in Asien real existierenden Buddhismus nicht übertragen lässt. Die Idee einer Gemeinde aller Buddhisten spielte hier nie eine Rolle. Etwas einer christlichen Abendmahlgemeinschaft nur annähernd Entsprechendes scheint angesichts der großen Unterschiede in den erlösenden Praktiken unter den buddhistischen Konfessionen kaum denkbar.

Es lässt sich vermuten, dass westliche Konvertiten durch Versuche einer Ökumene in ihrem idealen Buddhismus eine konfessionelle Zersplitterung heilen wollen, die in der christlichen Sphäre ihrer Herkunft als unselig galt. Dafür spricht auch das Phänomen buddhistischer Verbände in Europa wie die „Deutsche Buddhistische Union“ und die „Österreichische Buddhistische Religionsgesellschaft“, die verschiedene Konfessionen enger vereinen, als dies im buddhistischen Asien jemals der Fall war. Die buddhistische Religionsgesellschaft Österreichs verabschiedete eine Verfassung, in der es wider alle historische Evidenz und die Realität in Asien heißt: „Der Buddhismus ist eine einheitliche Religion.“

Die 1950 gegründete „World Fellowship of Buddhists“ mit Sitz in Bangkok ist in buddhistischen Ländern kaum bekannt und gewann in den 65 Jahren ihres Bestehens kein Profil als eine das Zusammenwirken fördernde Weltorganisation. Was für westliche Konvertiten ein dringliches Bedürfnis darstellt, war asiatischen Buddhisten offensichtlich bislang eher fremd.

Doch sollte man es nicht bei der Feststellung belassen, die Einheit des Buddhismus sei eine Projektion von Konvertiten, die ihre Sehnsucht nach harmonischer Gemeinschaft in einer heilen Kirche reflektiert. Projektionen stellen oft sogar dann, wenn sie auf groben Missverständnissen der Projektionsfläche gründen, folgenreiche kreative Leistungen dar. Religionen bestehen nicht zuletzt aus der Geschichte ihrer auf Projektion beruhenden Modifikationen. Als der Buddhismus Eingang in China fand, wurde er dort im Licht des Daoismus verstanden, wodurch er Gestalten und Ideen hervorbrachte, die wenig Ähnlichkeit mit früheren Entwicklungen in Indien aufweisen. Auch wenn der Buddhismus Chinas stark auf Projektionen in der Phase der Übernahme beruht, entstand in ihm eine selbstverständliche und sinnstiftende Religiosität, die ihrerseits stark beeinflusste, was man in Korea und Japan als Buddhismus versteht.

Gingen westliche Buddhisten wie Olcott und Govinda von der inneren Einheit des Buddhismus in Asien aus, die nur auf jemanden wartete, der eine alle verbindende Organisation stifte, erlagen sie einem Missverständnis. Doch der Ansatz, räumlich und inhaltlich getrennte Gestalten des Buddhismus als Ganzheit zu betrachten, lässt sich als originelle Schöpfung werten, die neue Einsichten verspricht. Anagarika Govinda ging davon aus, jede buddhistische Konfession „kann gleichermaßen den Anspruch erheben, einen wahrheitsgemäßen Aspekt der buddhistischen Lehre wiederzugeben“, wodurch die Gesamtschau aller Richtungen „den Sinn und die Bedeutung jeder einzelnen Phase und Schule“ vertieft.10 Auch wenn buddhistische Konfessionen Asiens dies nicht so praktizieren, mag hier ein Impuls für Künftiges liegen.

Eine gewaltfreie Religion?

Ein zweites Motiv für Projektionen, das die Faszination am Buddhismus konstant begleitete, sieht ein vorgeblich geringeres Gewaltpotenzial in vom Buddhismus geprägten Kulturen. Seidenstücker wie viele weitere Konvertiten seiner Zeit und im folgenden Jahrhundert setzten den christlichen Westen als gewalttätige Sphäre mit Kriegen, Todesstrafe und Verfolgungen in starken Kontrast zur friedlicheren buddhistischen Welt. Erscheinungen wie die Inquisition und Glaubenskämpfe wollte man in westlichen buddhistischen Kreisen lange als Probleme des Christentums oder monotheistischer Religionen sehen. Vom buddhistischen Klerus getragene Christenverfolgungen im Japan des 17. Jahrhunderts wurden ebenso ausgeblendet wie die zahlreichen gewalttätigen Konflikte zwischen buddhistischen Konfessionen, die es unter anderem in der Geschichte Tibets wie Japans gab. Im 15. Jahrhundert ging zum Beispiel die japanische Konfession Tendai, die ein eigenes Heer unterhielt, gegen die von ihr als Rivalin empfundene und als häretisch eingestufte Jōdo Shinshū vor.

Zwar verdeutlicht die journalistische Berichterstattung über Konflikte wie die zwischen Singhalesen und Tamilen in Sri Lanka sowie Buddhisten und Muslimen in Myanmar, dass der buddhistische Klerus oft alles andere als eine friedensstiftende Funktion erfüllt. Dennoch hält sich das Stereotyp, Buddhisten hätten im Unterschied zu Christen niemals Religionskriege geführt.

Diese Projektion lässt sich nur aufrechterhalten, wenn man die reale Geschichte buddhistischer Länder ignoriert oder zu der gewagten Konstruktion greift, gewaltsame Glaubenskonflikte im Westen gingen auf das Christentum zurück, während im buddhistischen Asien religiöse Begründungen für Gewalt nicht ernst zu nehmen seien. Derartiges findet sich nicht nur bei vom Buddhismus faszinierten Konvertiten, sondern auch in wissenschaftlicher Literatur. So liest man im „Internationalen Handbuch der Gewaltforschung“ über buddhistisch begründete gewaltsame Auseinandersetzungen: „Trotz der religiösen Motivation bzw. ideologischen Legitimierung handelt es sich aber nicht um Religionskriege, zumal die Gegner meist ebenfalls Buddhisten waren.“11

Nach diesem Verständnis wäre der Dreißigjährige Krieg kein Religionskrieg, weil Christen gegen Christen kämpften. Oder es zählt im Christentum die Verschiedenheit der Konfessionen, die von der Projektion des einheitlichen Buddhismus ausgeblendet wird, weshalb es unmöglich scheint, dass Buddhisten aus religiösen Gründen übereinander herfallen?

Einklang von Buddhismus und Wissenschaft?

Als drittes Motiv für Projektionen sei die Idee der Konformität des Buddhismus mit der Wissenschaft angeführt. Die in der Geschichte der westlichen Rezeption des Buddhismus häufige Vorstellung tritt ebenfalls gerne als ein Kontrast zum Christentum auf. Während dessen Aussagen über die Schöpfung und über die Auferstehung eines Menschen, der zugleich Gott sei, als der Vernunft widersprechend gewertet werden, geht man davon aus, dass der Buddhismus vernunftgemäß argumentiere und es ermögliche, seine Lehren nachzuprüfen. Dabei wird ein prinzipieller Unterschied behauptet zwischen der christlichen Offenbarungsreligion und der buddhistischen Erfahrungsreligion, deren Prinzipien wissenschaftlicher Überprüfung standhalten.

Für Seidenstücker verwies der Buddhismus „auf die panhenotistische oder monistische Grundidee, d. h. auf die Idee, daß es in der Welt keine getrennten bleibenden Wesenheiten gibt, daß das Universum ein Ganzes und eine Alleinheit ist, daß alle Erscheinungen nur wechselseitige Aspekte und Modi des Alls sind, die den jeweiligen Stand der Kausalität zum Ausdruck bringen“12. Für ihn wie für viele Buddhisten der ersten Generation bestätigte die damalige mechanistische Physik die buddhistische Lehre vom Karma, nach der Gedanken, Worte und Taten nach dem Prinzip der Kausalität gesetzmäßige Wirkungen zeitigen. Ethische Aussagen des Buddhismus schienen quasi naturwissenschaftlich untermauert.

Die Parallelen zu wissenschaftlichen Erkenntnissen schienen die Aussagen des Buddhismus auf besondere Weise zu bestätigen. Aus den langen historischen Konflikten zwischen Religion und Wissenschaft im Abendland ging Letztere als Siegerin hervor. Das kopernikanische Weltbild hatte sich durchgesetzt, und unter den Gebildeten schwanden zunehmend die Zweifel an der Evolutionstheorie. Der Buddhismus war im Unterschied zum Christentum im Abendland nicht durch Auseinandersetzungen mit der Wissenschaft vorbelastet. So ließ er sich in Übereinstimmung mit Erkenntnissen der Naturforschung sehen. Zudem galt er als eine nicht-theistische Religion, die dem Atheismus entgegenkam, der zum guten Ton eines naturwissenschaftlichen Weltverständnisses gehörte. So konnte der Atheist und Darwinist Ernst Haeckel, der eine wissenschaftskonforme Weltanschauung propagierte, den Buddhismus über die abendländische Religion stellen: „Das Christenthum kennt nicht jene rühmliche Liebe zu den Thieren ..., welche zu den Sittengesetzen vieler anderer älterer Religionen gehören, vor Allem der weitverbreitetsten, des Buddhismus.“13

Die Übereinstimmung des Buddhismus mit der Wissenschaft wäre widerlegt gewesen, als man vom mechanistischen Weltbild Abstand nahm und die Physik andere Wege ging. Doch blieb der Buddhismus in seiner westlichen Rezeption für viele Anhänger immer im Einklang mit der Wissenschaft. Inzwischen werden Korrespondenzen zwischen Buddhismus und Quantenphysik gesehen.14 Der jeweilige Einklang von Buddhismus und Wissenschaft übersteht sogar erhebliche Brüche in der Naturerkenntnis. Die Idee von der Einheit der unterschiedlichen buddhistischen Richtungen macht es leicht, den abweichenden Lehren immer andere Motive zu entnehmen, um sie mit neuen Modellen der Naturforschung in Beziehung zu setzen. So entspricht der Buddhismus durchgehend dem sich wandelnden wissenschaftlichen Weltbild.

Die Konformität mit der Wissenschaft wurde im Westen als wesentliches Element buddhistischer Selbstdarstellung betrachtet. 1984 plädierte Karl Schmied, der damals der Deutschen Buddhistischen Union vorstand, auf einer Konferenz der Buddhistischen Union Europas in Turin für eine Kontaktaufnahme zu Universitäten und Hochschulen, um „die Vereinbarung von Buddhismus und Wissenschaft herauszustellen“.15

Die Projektion von dem den Offenbarungsreligionen entgegengesetzten wissenschaftlichen Buddhismus hält im Licht seiner Quellen nicht stand. Auch wenn der Buddha in vielen Texten folgerichtig argumentiert und sich nicht auf das Mandat eines Gottes beruft, sind die ihm zugeschriebenen Lehren nicht weniger als Offenbarung zu bezeichnen als zentrale Aussagen in Judentum, Christentum und Islam. Ein Punkt, in dem die Überlieferungen verschiedener Konfessionen des Buddhismus übereinstimmen, ist der Bericht von der Herkunft der Lehre. Der Mann Gautama Siddhartha wurde zum Buddha, als er während der Meditation unter einem Baum eine als Erwachen (bodhi) bezeichnete gewaltige Vision erfuhr. Er sah hunderttausend verflossene Leben, die seine waren, und erkannte so, dass Tiere, Menschen und Götter dem Kreislauf der Wiedergeburt unterworfen sind. Er sah, dass Welten ohne Anfang und Ende zyklisch entstehen und vergehen. Schließlich erkannte er die Methoden, mittels derer man sich von der Wiedergeburt befreien kann, um Nirvāna zu verwirklichen.16

Was hier am Anfang und im Zentrum der überlieferten Buddhismen steht, ist sicher keine von anderen nachvollziehbare Erfahrung, sondern die Offenbarung von Zusammenhängen, die sich wissenschaftlicher Nachfrage und objektiver Beweisbarkeit entziehen. Das Erwachen des Buddha und die mit diesem verbundenen Inhalte können geglaubt werden wie die Begegnung des Moses mit Gott auf dem Berg Sinai, die Auferstehung Christi und Gottes Offenbarungen an Mohammed. Der Anspruch, die Grundaussagen des traditionellen Buddhismus seien der Erfahrung zugänglicher und in höherem Maße mit wissenschaftlichen Erkenntnissen kompatibel, lässt sich im Hinblick auf die Quellen nicht stichhaltig begründen.

Wer die Projektion vom wissenschaftskonformen Buddhismus aufrechterhalten will, muss konsequenterweise die Quellen von Aussagen reinigen, die nicht im Einklang mit der zeitgenössischen Naturwissenschaft stehen und sich unmittelbarer Überprüfbarkeit entziehen. Ein aktuelles Beispiel für dieses Vorgehen liefert der einflussreiche westliche Interpret des Buddhismus Stephen Batchelor.17 Dieser möchte zu einer Form des Buddhismus gelangen, die nicht auf Glauben basiert, sondern auf Praxis und Kompatibilität mit dem Stand naturwissenschaftlicher Kenntnis: „Wir wissen jetzt über die biologische Evolution des Menschen Bescheid, und auch, wie Selbst-Bewusstsein, Sprache und die Komplexität unseres Gehirns entstanden sind“, stellt Batchelor fest und sieht vor diesem Hintergrund, „dass die Idee der Reinkarnation nicht zu unserem heutigen Bezugsrahmen passt“.

Dabei versteht er sich nicht als jemand, der dem Buddhismus willkürlich eine zeitgemäße Gestalt verleiht, sondern glaubt den eigentlichen Anliegen des Buddha gerecht zu werden, indem er „zu den frühesten, heute verfügbaren Lehrtexten“ zurückgeht, um die Frage zu stellen: „Was von dem, was der Buddha gelehrt hat, stammt tatsächlich von ihm selbst? Wenn ich beispielsweise in den Pali-Schriften lese, habe ich immer im Kopf: Könnte das ebenso gut ein jainistischer Mönch oder ein brahmanischer Priester gesagt haben? Wenn es heißt: Der Buddha wurde von jemandem gefragt: ‚Meine Mutter ist gerade gestorben. Als was wird sie wiedergeboren werden?’ Und der Buddha antwortete: ‚Sie wird im Himmel der Dreiunddreißig wiedergeboren werden’, dann lege ich das höflich beiseite. Doch Ähnliches gilt auch für Einiges, was manche Buddhisten als das wahre Wesen des Buddhismus ansehen: Wenn die Texte vom Nirvana als vom Aufhören des Kreislaufs von Geburt und Tod sprechen, lege ich das ebenfalls höflich beiseite.“

Wie problematisch bereits das exegetische Verfahren ist, auf der Suche nach der essenziellen Lehre des Buddha das auszuscheiden, was im Indien seiner Zeit auch andere gesagt haben könnten, zeigt seine Übertragung auf eine andere religiöse Tradition. Wollte man durch ein solches Vorgehen die eigentliche Lehre Jesu ermitteln, müsste man „Liebe deinen Nächsten“ höflich beiseitelegen, weil es schon in der Tora steht und jeder Rabbiner es zur Zeit Jesu ebenfalls sagte.

Batchelor erwartet von seinem „Prozess der Auslese“ Erkenntnisse darüber, „was spezifisch für die buddhistischen Lehren ist und nicht aus der indischen Kultur ihrer Entstehungszeit abgeleitet werden kann“. Damit nimmt er so etwas wie eine eigentliche Lehre an, die sich unabhängig von den Bedingungen ihres Entstehens herausfiltern oder abstrahieren lässt. Man darf bezweifeln, ob das vermeintlich Originelle einer Religion überhaupt aus dem Kontext ihres Ursprungs und ihrer Geschichte herausgeschält werden kann. Doch ist es angesichts der skizzierten Vorgeschichte nur konsequent, dass Batchelor durch sein Verfahren zu einer vermeintlich eigentlichen Lehre des Buddha gelangt, die sich wiederum bestens mit einem Weltbild verträgt, das dem neuesten Stand der Astrophysik, Evolutionslehre und Hirnforschung entspricht.

Batchelor sieht es als Problem, wenn eine traditionelle religiöse Aussage „nicht zu unserem heutigen Bezugsrahmen passt“, und sucht einen Buddhismus, der sich nicht in „Widersprüche mit unserem gegenwärtigen Weltverständnis verwickelt“. Aus dieser Perspektive inspiriert nicht die Religion zum Übersteigen des Rahmens üblicher Auffassungen, sondern das Verhältnis kehrt sich um. Der säkulare Mainstream wird zur Richtschnur einer Neuvermessung der religiösen Sphäre. Was in ihr als Zumutung für den Zeitgeist erscheint, wird nicht zur Herausforderung einer Auseinandersetzung, sondern man scheidet es aus.

Allerdings lässt sich fragen, ob es so etwas wie den heutigen Bezugsrahmen, das gegenwärtige Weltverständnis in pluralistischen Gesellschaften überhaupt gibt. Mindestens ebenso viele westliche Konvertiten wie jene, die sich mit einem solchen „Prozess der Auslese“ anfreunden, gehen ganz andere Wege. Sie praktizieren unter Lehrern traditioneller Konfessionen Tibets, Japans und Südasiens, wobei sie darin seit Jahrhunderten geltende Anschauungen und Riten als verbindliche Teile ihres Weges akzeptieren. Wie Batchelor sehen sie ihre unterschiedlichen überlieferten Praktiken in der ursprünglichen Lehre des Buddha begründet, und oft halten sie auch ihre religiösen Weltbilder inklusive der Reinkarnation für kompatibel mit der Wissenschaft.

Fazit

Der Buddhismus europäischer Konvertiten ist ein schillerndes Feld. Einerseits tragen ihn Menschen, die neben den Lehren und Übungen ihrer buddhistischen Konfession auch deren in Asien übliche Formen übernehmen, um etwa im korrekten Gewand des Herkunftslandes zu meditieren. Andere wollen das in Asien Gewachsene hinter sich lassen, um sich einzig an das zu halten, was ihnen jeweils als ursprüngliche, reine Lehre erscheint. Zwischen diesen Polen finden sich ungezählte Schattierungen. Gibt es in all dem eine innere Zusammengehörigkeit, die über die ökumenische Projektion vom einheitlichen Buddhismus hinausgeht? Im Hinblick darauf, dass Projektion ebenso eine kreative Leistung wie eine Täuschung sein kann, bleibt offen, ob man in einem halben Jahrhundert noch von dem Buddhismus in Europa sprechen wird.


Volker Zotz, Saarbrücken


Anmerkungen

  1. Der Text beruht auf einen Vortrag auf dem Kirchentag in Stuttgart am 6. Juli 2015.
  2. Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Gesammelte Werke Bd. 5, hg. von Werner Schuffenhauer, Berlin 1973, 127.
  3. Vgl. Paul Tillich, Systematische Theologie Bd. 1, Frankfurt a. M. 71983, 248.
  4. Soweit in der Folge Angeführtes unbelegt bleibt, sei verwiesen auf Volker Zotz, Auf den glückseligen Inseln. Buddhismus in der deutschen Kultur, Berlin 2000.
  5. Bruno Freydank, Buddha und Christus. Eine buddhistische Apologetik, Leipzig 1902.
  6. Bruno Freydank, Die Greuel der „christlichen“ Zivilisation, Leipzig 1903.
  7. Karl Seidenstücker, Die nichtmenschlichen Welten und ihre Bewohner, in: Buddhistischer Weltspiegel 3 (1921/22), 295-303, 345-383, 421-436, 451-473.
  8. Wolfgang Bohn, Die Selbstheilung der kranken Seele durch Erkenntnis und Vertiefung. Zweiter Teil: Die Lösung der Konflikte des Lebens und die Aufhellung des dunklen Zieles, Leipzig 1922, 57.
  9. Vgl. Judith Snodgrass, Presenting Japanese Buddhism to the West. Orientalism, Occidentalism, and the Columbian Exposition, Chapel Hill 2003, 163f.
  10. Lama Anagarika Govinda, Schöpferische Meditation und multidimensionales Bewusstsein, Freiburg i. Br. 1977, 21.
  11. Volkhard Krech, Opfer und Heiliger Krieg. Gewalt aus religionswissenschaftlicher Sicht, in: Wilhelm Heitmeyer/John Hagan (Hg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002, 1255-1275, hier 1260.
  12. H. S. Olcotts Buddhistischer Katechismus, neu bearbeitet ... von Karl Seidenstücker, Leipzig 1908, 177.
  13. Ernst Haeckel, Die Welträthsel, Bonn 41900, 410.
  14. Vgl. z. B. Christian Thomas Kohl, Buddhismus und Quantenphysik. Schlussfolgerungen über die Wirklichkeit, Oberstdorf 32013.
  15. Der Kreis Nr. 173 (1984), 23.
  16. Z. B. Dīghanikāya 36.
  17. Vgl. für das Folgende: Stephen Batchelor, „Buddhismus 2.0.“, in: Buddhismus aktuell 2/2013, 21-25.