„Religion first?“ - Religionsdiskurse im Roten Rathaus
Fünf unterschiedliche Organisationen hatten am 6. Juni 2018 in das Berliner Rote Rathaus zu der Veranstaltung „Religion first?“ eingeladen: die Humanistische Akademie Berlin-Brandenburg, der Humanistische Verband Berlin-Brandenburg, die Evolutionären Humanisten Berlin-Brandenburg, die Humanismus Stiftung Berlin und die Freireligiöse Gemeinde. Vortrag und Podium behandelten die Frage der Diskriminierung nichtreligiöser Menschen. Offensichtlich können Organisationen, die durchaus unterschiedliche Zielsetzungen verfolgen, unter einer solchen Thematik zusammenfinden. Man war sich einig in der Abwehr von Diskriminierung. Keine Diskriminierung und keine Privilegierung – das sollte die Botschaft der Veranstaltung sein. Schon seit einigen Jahren tragen säkulare Organisationen ihre Kirchen- und Religionskritik mit Bezugnahme auf die Diskriminierungsthematik vor. Gefördert wurde der Runde Tisch der Weltanschauungsgemeinschaften im Land Berlin von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa.
Das einführende Statement wurde von Thomas Heinrichs, dem Autor bzw. Mitautor der Studie „Weltanschauung als Diskriminierungsgrund“ vorgetragen. Der promovierte Rechtsanwalt wiederholte als Vertreter des Präsidiums des Humanistischen Verbandes Berlin-Brandenburg die politischen Forderungen, mit denen der Humanistische Verband immer wieder in die Öffentlichkeit tritt: u. a. Gleichbehandlung mit den Kirchen, Berücksichtigung in Rundfunkräten, Abschaffung des staatlichen Kirchensteuereinzugs, Einrichtung von acht Humanistischen Lehrstühlen an Berliner Univertäten, aus Staatsverträgen müssten Verwaltungsverträge werden, Staatsakte und Gedenkveranstaltungen müssten religiös-weltanschaulich neutral gestaltet werden. Heinrichs beklagte den Ausschluss der Weltanschauungen aus dem Berliner Dialog der Religionen, zugleich würdigte er den Umgang Berlins mit weltanschaulicher Vielfalt, auch im Vergleich mit anderen Bundesländern. Mit Entschiedenheit forderte er die Abweichung vom Kirchenmuster hinsichtlich der Mitgliedschaft religionsfreier Menschen. Ginge man nicht wie die Kirchen von formaler Mitgliedschaft aus, sondern zählte die Teilnehmenden bei humanistischen Angeboten und ihre Angehörigen, käme man allein in Berlin auf eine Zahl von 500 000 und müsste ein großes Repräsentationsdefizit im Blick auf nichtreligiöse Menschen konstatieren. Den Wandel der religiös-weltanschaulichen Landschaft beschrieb er so: Die Welt sei nicht mehr so wie früher; Religionen würden an Resonanz verlieren, säkulare Orientierungen an Bedeutung gewinnen; auch Religionen könnten sich zu säkularen Weltanschauungen weiterentwickeln, wofür Teile des Protestantismus ein gutes Beispiel seien.
An dem sich anschließenden Podiumsgespräch, das von Angelika Kallwass moderiert wurde, waren drei Mitglieder des Berliner Abgeordnetenhauses beteiligt. Unterstützung bekam Heinrichs für zahlreiche seiner Thesen insbesondere von Regina Kittler (Die Linke), teilweise auch von Ülker Radziwill (SPD). Die engagierte Katholikin Bettina Jarasch (Bündnis 90/Die Grünen) war die Einzige in der Runde, die Heinrichs in einzelnen Punkten deutlich widersprach. Seine pauschale These, im Blick auf die Religionen bestehe ein Desintegrationspotenzial und Demokratiedefizit, was im Blick auf die Weltanschauungen nicht zu konstatieren sei, wurde von ihr mit Nachdruck zurückgewiesen. Mit Recht wies sie darauf hin, dass der HVD nicht für alle Konfessionsfreien, sondern nur für seine Mitglieder sprechen könne. Als Weltanschauungsgemeinschaft benötige der Humanistische Verband ein „Bekenntnis“, an dem zwar seit Jahren gearbeitet werde, das aber noch nicht vorliege.
Im Wesentlichen stand die Veranstaltung im Zeichen der Selbstvergewisserung von säkularen Humanisten, die sich als modernitäts- und demokratiekonform präsentierten. Nicht zur Sprache kam die nicht zu übersehende Problematik der Antidiskriminierungsstudie von Heinrichs. Die Broschüre enthält keine Informationen zum Hauptautor. Die weltanschauliche Bindung von Heinrichs wird nicht transparent kommuniziert. Die im Rahmen der wissenschaftlichen Publizistik der Antidiskriminierungsstelle veröffentliche Schrift ist – jedenfalls in Teilen – Beispiel für die Instrumentalisierung einer staatlichen Stelle für die Interessen des Humanistischen Verbandes, die in wichtigen Teilen des Textes präsentiert werden.
In der für das Publikum geöffneten Diskussion wurden vor allem antikirchliche Affekte artikuliert. Das Anliegen eines säkularen Humanismus fasste eine Teilnehmerin in der Frage zusammen: „Wie können wir diese Kirche aus dem Staat nehmen und alle gleich behandeln?“ Solche Sätze, die Beifall bekamen, offenbaren, wie einseitig und abgrenzend Religionsdiskurse geführt werden können. Als weltanschauliche Vereinnahmung und unrealistisches Wunschdenken muss die Behauptung Heinrichs bezeichnet werden, es gebe in Berlin eine halbe Million Humanisten im Sinne des HVD. Wenn der staatliche Einzug der Kirchensteuer (der vonseiten der Kirchen bekanntlich finanziert wird) als verfassungswidrig eingestuft, zugleich jedoch eine institutionelle Förderung humanistischer Aktivitäten gefordert wird, ist dies widersprüchlich. Im Selbstverständnis heutiger humanistischer und atheistischer Bewegungen spielen offensichtlich Motive der klassischen Freidenkerbewegung eine anhaltend wichtige Rolle. Der Weg zu einem praktischen Humanismus, der nicht auf abgrenzende Kirchen- und Religionskritik fixiert bleibt, sondern bildungsbezogene und soziale Dienstleistungen zum Programm erhebt, scheint lang zu sein.
Rückblick inklusive Mitschnitt zur Veranstaltung: https://humanistisch.de/x/akademie-bb/meldungen/2018063167 ; Artikel über Heinrichs Antidiskriminierungsstudie: http://ezw-berlin.de/html/15_8588.php.
Reinhard Hempelmann