Religion für Atheisten. Vom Nutzen der Religion für das Leben
Alain de Botton, Religion für Atheisten. Vom Nutzen der Religion für das Leben, Verlag S. Fischer, Frankfurt a. M. 2013, 320 Seiten, 21,99 Euro.
Der Waschzettel des Buches, das auf Englisch mit dem präziseren Untertitel „A Non-believer’s Guide to the Uses of Religion“ erschienen ist, beschreibt den 1969 geborenen Autor als „Flaneur der Kultur- und Geistesgeschichte“, der an einer „Philosophie unseres Alltags“ arbeite. In diesen Kontext passen seine Vorschläge, die Religion für Atheisten nutzbar zu machen und sie damit zugleich ihr selbst zu entziehen. Vieles, was die Religionen anzubieten haben, sei für moderne, säkulare Menschen attraktiv und hilfreich.
De Botton präsentiert sich als Sohn ungläubiger jüdischer Eltern, der als Jugendlicher mit seinem Atheismus in eine Krise geraten sei. Die Krise war aber offenbar nicht sehr tief, denn er ließ sich in ihr nicht wirklich infrage stellen. So propagiert er nun u. a. „innere Stabilität“, „Empathie“, „Verzicht“, „Verzeihen“ und „Zuversicht“, jedoch ohne jede transzendentale Verankerung, wie er in seinem Zehn-Punkte-Manifest am Ende seines Buches ausführt (315ff). Es geht ihm um „Weisheit ohne Doktrin“ (9). Er hat entdeckt, dass „Lösungen für viele Probleme der modernen Seele bei den Religionen zu finden sind, sobald man diese von ihren übernatürlichen Strukturen herausgelöst hat, mit denen sie ursprünglich konzipiert waren“ (300f). Insbesondere Judentum, (katholisches) Christentum und Buddhismus klopft er daraufhin ab, was sie im Blick auf das menschliche Bedürfnis nach Gemeinschaft und Leidbewältigung zu bieten haben. Den Nachteilen, die ein Restaurantbesucher in Kauf zu nehmen hat, stellt er die „Vorteile der Messe“ gegenüber und entwirft dann ein „ideales Restaurant der Zukunft“, ein „Agape-Restaurant“ (!), in dem man zwanglos bei gutem Essen und sinnreichen Gesprächen Kontakt findet. Dass Religionen Versöhnungsrituale anbieten, sei ebenfalls nicht zu verachten; sie ermutigten dazu, zur eigenen Unzulänglichkeit zu stehen. Religionen seien realistisch, sofern sie an den Menschen keine überhöhten Erwartungen stellten; die Ehe, eine der „möglicherweise kummervollsten Institutionen der modernen Gesellschaft“, werde nicht verklärt (181f). Bildung sei heute viel zu stark am Intellekt orientiert; man benötige aber, wie Religionen dies auf ihre Weise realisierten, z. B. einen „Fachbereich für Zwischenmenschliche Beziehungen“, ein „Institut fürs Sterben“ oder ein „Zentrum für Selbsterkenntnis“ (121). Von den Religionen könne man lernen, wie nützlich Disziplin, spirituelle Übung oder ein geordneter Tagesablauf seien.
Besonders ergiebig erscheinen dem Autor Kunst und Architektur: Sie seien „für das Funktionieren unserer Seelen am wichtigsten“ (211). Sie helfen, „unsere eigenen vernachlässigten Verwundungen zu verstehen“, und thematisieren, „was in einer normalen Unterhaltung nicht zur Sprache kommt ...“ (213). Unsere Museen sollten nicht nach Stilrichtungen und Epochen angelegt sein, sondern entsprechend unseren seelischen Bedürfnissen. Eine schematische Darstellung macht klar, wie ein solches Museum aufgebaut sein sollte: Über der „Gallery of Suffering“ die „Gallery of Compassion“, darüber die „of Fear“, die „of Love“ und schließlich die „Gallery of Self-knowledge“ (237). Künstler sollten sich anregen lassen, statt beispielsweise über die „sieben Schmerzen Mariens“ Kunstwerke über die „Sieben Schmerzen der Elternschaft“ oder die „Einundzwanzig Schmerzen der Ehescheidung“ zu schaffen (217).
Der Mensch brauche Rückzugsorte. Wie wäre es also mit einem „Tempel der Gelassenheit“ oder einem „Tempel der richtigen Perspektive“ (249f)? Wie überhaupt „würde ein Tempel aussehen, der keinem Gott geweiht ist?“ (249). Zu reisen sei spirituell ertragreich, aber es fehlten die Reiseleiter und Portiers, die einem sagen, wo man Hilfe für die Bewältigung seiner Frustration bekommen kann (Foto einer entsprechenden Reiseagentur ist beigegeben, 264). Buddhistische Meditation, vom Autor selbst erprobt, Mondbetrachtung und Sternmeditation seien zu empfehlen. Man sollte weniger Bücher lesen, diese allerdings öfter.
Das kann der Rezensent im Blick auf das vorliegende Buch „Religion für Atheisten“ nicht empfehlen; es ist so flott und flach geschrieben, dass man nicht einmal jede Zeile lesen muss. Mit seinem lockeren Stil hat de Botton seinem Anliegen wohl keinen Gefallen erwiesen, denn was er anstrebt, ist durchaus ernst zu nehmen. Er will die Religion enteignen und für Atheisten erschließen, die herkömmlicherweise „von unserer emotionalen Bedürftigkeit nicht viel wissen“ wollen (169). „Religionen sind insgesamt gesehen zu nützlich, effektiv und intelligent, um sie allein den Gläubigen zu überlassen“ (301).
Dabei gelingen dem Autor mitunter gute Beobachtungen: Die Marienfömmigkeit (illustriert durch Bilder von Giovanni Battista Salvi, Giovanni Bellini und eine Ikone, ergänzt durch die Darstellung einer Guanyin-Statue) sei bedürfnisorientiert und hebe „die klare Trennung zwischen dem Erwachsenen-Ich und dem kindlichen Ich auf, die unsere Gesellschaft uns für gewöhnlich vorgaukelt“ (171). „Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf den Atem statt wie sonst auf die Forderungen des Egos richten“, bleibe diesem nichts anderes übrig, als „etwas in den Hintergrund zu treten“ ... (153).
Die Fakten und Kuriositäten, die der Autor aufzuzählen weiß und die er durch reiches Bildmaterial illustriert, sind im Allgemeinen nicht ausgewiesen. Anregen ließ er sich zweifellos durch Auguste Comte, der im 19. Jahrhundert schon einmal eine „positive Religion“ ohne Transzendenz konzipieren wollte und auf den er sich beruft. Comte habe freilich den Fehler gemacht, sein System als „Religion“ zu bezeichnen. Diesen Fehler begeht de Botton nicht: Er enteignet die Religion, indem er sie sich selbst entfremdet. Er will den „Prozess der religiösen Kolonisierung“ umkehren (15).
Er steht mit seinem Ansatz im Kontext einer neuen Atheismus-Welle, die sich „Spiritualität“ und zugleich die Schätze spiritueller Traditionen nicht nehmen lassen will. Spiritualität darf sein, Religion nicht. Spiritualität ist nicht mehr Ingrediens authentischer Religiosität, sondern Religion und Religiosität sind irrige Varianten von Spiritualität. Glaube im christlichen Sinn kommt dabei überhaupt nicht in den Blick. Inmitten der Fülle der hier aufgezählten und beschriebenen Phänomene kommt der Name Jesus von Nazareth nur einmal vor, und zwar im Referat über Comte (292). Jesus von Nazareth, Jesus Christus kann man hier nicht brauchen und nicht einordnen. Alain de Botton hat offenbar ein Gespür dafür, dass Nachfolge Jesu eine echte Alternative wäre. Er belegt das auf eine groteske Weise dadurch, wie er den Protestantismus (allerdings nur kurz) apostrophiert. Er beklagt die Monotonie moderner Architektur. Da wir in Umgebungen leben müssen, die „uns keine andere Wahl lassen, als auf unsere Füße zu starren, ist die moderne Welt definitiv und auf säkulare Weise protestantisch“ (kursiv von de Botton, 240). Es sei „kein Zufall, dass die protestantischen Länder in Europa als Erste die extreme Hässlichkeit erlebten, wie sie für die moderne Welt typisch werden sollte“. Er denkt etwa an Manchester und Leeds. Nun mag man dieses Urteil infrage stellen; interessant ist der Zusammenhang, den der Autor herstellt: Protestantismus erscheint ihm als Alternative zur Religion, ohne dass er ihn einfach als Atheismus abtun könnte. Selbst der Atheist bemerkt, dass christlicher Glaube nicht mit den religiösen Erscheinungsformen des Christentums in eins gesetzt werden kann. Aus dieser Wahrnehmung folgt, dass christlicher Glaube – gerade nach protestantischem Verständnis – seine religiöse Gestalt transzendiert, ja ihr gegenüber kritisch, wenn nicht sogar ikonoklastisch auftreten kann. Will er sich zur Geltung bringen, so muss er seine Religionstranszendenz bejahen. Das heißt: Er kann religiöse Formen nur benutzen, solange er ihnen gegenüber kritisch bleibt und sich nicht von ihnen abhängig macht. Er wird mit dem Erlöschen oder der Enteignung von Religion nicht untergehen, sondern gerade im Kontrast zu religiöser Einkleidung seine wahre, ihm spezifische Kraft entfalten. Publikationen wie die von Alain de Botton helfen ihm, sich daran zu erinnern.
Hans-Martin Barth, Marburg