Ronald Dworkin

Religion ohne Gott

Ronald Dworkin, Religion ohne Gott, Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, 146 Seiten, 19,95 Euro.

Im Mai 2014 erschien die deutsche Übersetzung des Buches „Religion without God“ von Ronald Dworkin. Die Publikation enthält die im Dezember 2011 an der Universität Bern in der Schweiz gehaltenen Einstein-Lectures des Autors. Er legt darin dar, dass menschliches Leben von einem „objektiven Sinn“ bestimmt ist und jeder eine „angeborene und unausweichliche Verantwortung“ hat, „ein gutes Leben zu führen, also anzuerkennen, dass man sich selbst gegenüber in ethischer Hinsicht und anderen gegenüber in moralischer Hinsicht verpflichtet ist“. Das Buch „Religion ohne Gott“ ist Dworkins letzte Publikation. Der international bekannte Rechtsphilosoph und Kommentator von zahlreichen Entscheidungen des höchsten Gerichtes in den USA (Supreme Court) starb im Februar 2013.

Bereits wenige Wochen nach Erscheinen war die deutsche Ausgabe vergriffen. Die Publikation scheint einen Trend aufzugreifen, der verbreitet ist und Resonanz erfährt. Dworkins Buch ist kein Plädoyer für ein buddhistisches Weltverständnis, wie sein Titel nahelegen könnte. Ebenso wenig tritt er für einen naturalistischen Atheismus à la Dawkins ein. Seine großen Themen sind die Objektivität und Unbedingtheit der Werte, die Schönheit des Universums, Tod und Unsterblichkeit.

Dworkin möchte christliche und atheistische Eiferer zur Raison bringen, zur Überwindung von Religionsstreitigkeiten beitragen und hat dabei u. a. konservative Evangelikale und intolerante Atheisten in den USA im Blick. Er geht davon aus, dass Atheisten wie Gläubige einen tiefen religiösen Impuls teilen, und verweist auf Gerichtsentscheidungen und ihnen zugrunde liegende Wertorientierungen. Die Rechtsprechung setzt bei Gläubigen wie bei Atheisten Wertorientierungen voraus: etwa bei der Wehrdienstverweigerung oder bei der Anerkennung der praktischen Religionsausübung von weltanschaulichen Bewegungen, die auf keinen Gott Bezug nehmen.

Manche Passagen Dworkins erinnern an Immanuel Kants Worte vom „gestirnten Himmel über mir“ und dem „moralischen Gesetz in mir“. Aktuelle Analogien ergeben sich zu Gedanken des französischen Schriftstellers Alain de Botton in seinem Buch „Religion für Atheisten“, der Lösungen für Probleme der modernen Seele in den Werten der Religionen sieht, die allerdings von ihren übernatürlichen Strukturen zu trennen seien.

Dworkins Kritik am Konstruktivismus, am Rechtspositivismus wie auch am Szientismus ist bedenkenswert. Mit Recht versucht er, dem Relativismus und der Skepsis etwas entgegenzusetzen. Der religiöse und kulturelle Pluralismus einer liberalen Kultur lebt von gemeinsamen Werten und einem gemeinsamen Rechtsbewusstsein. Gefragt werden muss jedoch: Aus welchen Quellen kommen gemeinsame Werte? Moralische Urteile und Verhaltensweisen stehen in einem Verhältnis zu vormoralischen Voraussetzungen, die innerhalb einer religiösen oder weltanschaulichen Tradition vermittelt werden.

Dworkins Plädoyer für das Gute, das Wahre und das Schöne, das an sich existiert, wird Menschen, die ein atheistisches Selbstverständnis vertreten, allerdings kaum einleuchten. Mit welchen Gründen kann aus einer atheistischen Perspektive darauf bestanden werden, dass Werte unabhängig vom Menschen und absolut existieren? Den vorgenommenen Umdefinitionen der Worte „Gott“, „Religion“ und „Atheismus“ fehlt meines Erachtens Überzeugungskraft.

Die Überlegungen des Rechtsphilosophen zeigen allerdings an, dass die Grenzen zwischen Religion und Atheismus fließend geworden sind. Atheisten dürften darüber kaum erfreut sein, und Glaubende werden nicht zustimmen, wenn gesagt wird, dass Religion etwas Tieferes sei als Gott. Sie werden daran festhalten, dass das Gute nicht gesucht und gefunden werden kann, ohne nach dem göttlichen Willen zu fragen.


Reinhard Hempelmann