Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Deutschland. Konfessionen - Semantiken - Diskurse
Karl Gabriel / Hans-Richard Reuter (Hg.), Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Deutschland. Konfessionen – Semantiken – Diskurse, Mohr Siebeck, Tübingen 2017, 508 Seiten, 124 Euro.
Der Einfluss von Religion auf die Gesellschaft findet unter politischen Akteuren vor allem in Bezug auf die sozialen Leistungen der Kirchen lobende Erwähnung. Bewertungen wie die, dass „die christlichen Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände … in vielen Bereichen unserer Gesellschaft unverzichtbar [sind]“ (CDU/CSU/SPD, Koalitionsvertrag zur 18. Legislaturperiode) stoßen im Allgemeinen auf große Zustimmung.
Die Verbindung von Religion und Wohlfahrt wird in aktuellen Diskussionen in der Regel auf die bestehenden Strukturen und den faktischen Beitrag der Kirchen und ihrer Wohlfahrtsverbände bezogen. Einen tiefergehenden Blick auf „die Bedeutung der christlichen Traditionen und Akteure für die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung in Deutschland“ (V) haben die Forscher des Projekts „Die religiöse Tiefengrammatik des Sozialen“ am Exzellenzcluster „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“ an der Universität Münster entwickelt. Dabei folgen sie der aus einem früheren Forschungsprojekt resultierenden Grundannahme, dass die wohlfahrtsstaatlichen Entwicklungen in Deutschland wesentlich durch religiös-konfessionelle Semantiken geprägt wurden. Obgleich sich diese Semantiken nicht immer unbedingt auf die Ausgestaltung der Sozialpolitik ausgewirkt haben, seien sie dennoch wesentlich für ihren „Möglichkeitsraum“ gewesen (2). Deshalb sehen die Forscher in der Analyse der „Tiefengrammatik“ (ebd.) der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklungen nicht nur einen Beitrag zum Verstehen des deutschen Wohlfahrtsstaates, sondern auch eine Orientierungsmarke für sozialpolitische Akteure, die „nicht nur Systemnotwendigkeiten oder Machtinteressen, sondern auch Wertideen [folgen]“ (ebd.).
Eine Einflussnahme religiöser Traditionen auf die Ausbildung wohlfahrtsstaatlicher Strukturen in Deutschland ist Karl Gabriel und Hans-Richard Reuter zufolge nur unter bestimmten Bedingungen möglich gewesen. Diese seien in der formativen Phase des Wohlfahrtsstaates Ende des 19. Jahrhunderts allesamt vorhanden gewesen. So existierte etwa ein tolerantes Verhältnis zur Moderne in Gestalt des modernitätsoffenen Protestantismus. Zudem waren Staat und Kirche institutionell getrennt. Darüber hinaus herrschte aufgrund der gemischt-konfessionellen Konstellation in Deutschland ein Wettbewerb um Lösungswege vor, und es traten charismatische Persönlichkeiten auf, die kreative Problemlösungen anregten (3). Auf Basis dieser historischen Konstellationen gehen Gabriel und Reuter von einer Einflussnahme religiöser Akteure auf die Formulierung und den Wandel wohlfahrtsstaatlicher Leitsemantiken in Deutschland seit dem Kaiserreich aus. Die Forscher widmen sich in dem Buch der Untersuchung des genauen Stellenwerts und der Bedeutung des „religiösen Faktors im sozial-strukturellen Wandel und in der Wohlfahrtsstaatsentwicklung“ (4).
Methodisch wählen die Forscher hierfür einen lexikalischen Zugang und setzen somit bei einzelnen Begriffen an – wobei sie zwischen institutionellen Semantiken und Wertsemantiken unterscheiden. Als institutionelle Semantiken beschreiben sie solche Begriffe, die primär eine strukturierende Funktion besitzen, wie Arbeit, Armut, Familie, Staat und Wirtschaft (15). Als Wertsemantiken klassifizieren sie hingegen Leitbegriffe, denen primär eine legitimierende Funktion zukommt und um die es interkonfessionelle und religiös-säkulare Deutungskämpfe gegeben hat. Zu diesen Begriffen zählen sie: Gerechtigkeit, Sicherheit, Solidarität, Subsidiarität und Verantwortung (16).
Die Begriffe werden entlang der Unterscheidung von institutionellen Semantiken und Wertsemantiken untersucht und in der Regel aus einer katholischen und evangelischen Forschungsperspektive von etablierten Wissenschaftlern in den entsprechenden Unterkapiteln erörtert (Michael N. Ebertz, Karl Gabriel, Hermann-Josef Große Kracht, Traugott Jähnichen, Andreas Kurschat, Stefan Leibold, Wolfgang Maaser, Torsten Meireis, Sabine Plonz, Hans-Richard Reuter und Christian Spieß, 23-446). Die Ergebnisse dieser fachlich sehr beeindruckenden Einzelbetrachtungen beziehen Gabriel und Reuter abschließend auf die Ausgangsfrage zurück, indem sie die religiös-konfessionelle Dimension der Tiefengrammatik des deutschen Wohlfahrtsstaates komprimiert zusammenstellen:
Ausgehend von den Wertsemantiken stellen die Autoren zwei Schwerpunkte heraus, die konfessionell aber unterschiedlich fundiert werden (480). Der erste Schwerpunkt besteht in der Zuschreibung der Wohlfahrtspflege als Aufgabe des Staates. Diese Auffassung wird von der lutherischen Position, dass der Staat für die gesellschaftliche Ordnung und das Wohl des Einzelnen verantwortlich ist, deutlich gestärkt. Institutionell findet diese Auffassung in der Befürwortung des ordnenden Eingriffs des Staates Ausdruck, der dazu angehalten ist, Ordnung zu gewährleisten und bedrohten gesellschaftlichen Lebensverhältnissen neue Stabilität zu verleihen. Die protestantische Rhetorik kreist Gabriel und Reuter zufolge dabei um den Begriff der „Hilfe“. Erst im Zuge lutherischer Erweckungsbewegungen und vor allem durch den Einfluss der sozialkatholischen Tradition werden dann Elemente zur Begrenzung der Staatsintervention eingeführt. Im Zusammenhang mit diesen Ausdifferenzierungsprozessen staatlicher, gesellschaftlicher und modernisierungsbedingter Konjunktur setzt sich dann die „Verantwortungssemantik“ gegen die „Hilfesemantik“ durch (481).
Der zweite Schwerpunkt ergibt sich aus der Wertsemantik „Solidarität“, die eng mit der Wertsemantik „Subsidiarität“ verbunden ist. Die staatliche Gemeinschaft gilt hierbei zwar als wichtige, aber keineswegs als einzige Ebene des Solidaritätsverhältnisses. „Der Staat sieht sich auf die vielen gelebten Solidaritäten in der Gesellschaft als deren letztverantwortlicher Hüter angewiesen“ (ebd.). Institutionell drückt sich der Solidaritätsgedanke im Korporatismus aus. Korporative Strukturen in der kapitalistischen Wirtschaft dienen etwa einem Interessensausgleich zwischen Kapital und Arbeit. Über das Subsidiaritätsprinzip wird dann der Sozialsektor mit seinen verschiedengestaltigen Trägern und Akteuren legitimiert. Zudem hat sich die Subsidiarität als besonders flexibler Bezugsrahmen erwiesen, der das Eintreten für eine liberale Trennung von Staat und Gesellschaft, aber auch den „Kampf um die Selbstbehauptung traditionaler Gemeinschaftsformen gegen den übermächtigen modernen Leviathan“ ermöglicht (476). Aus diesem Grund breiteten sich die Konflikte zwischen Staat und Kirche im 19. Jahrhundert nicht auf dem Feld der Wohlfahrt aus (482).
Die in der Untersuchung verfolgte Frage, ob es nachvollziehbare Wechselwirkungen zwischen der Semantik sinnstiftender Leitbegriffe und dem Religiösen bei der Konstitution des deutschen Wohlfahrtsstaates gibt, kann angesichts der Ergebnisse mit einem eindeutigen Ja beantwortet werden. Auf Basis einer in beeindruckender Breite und Tiefe ausgeführten Analyse konstatieren die Autoren, dass religiöse Akteure an der „Erfindung, Ausgestaltung und Transformation der wohlfahrtsstaatlichen Leitbegriffe beteiligt“ waren (487). Auch der Möglichkeitsraum der deutschen Sozialpolitik wurde unter Mitwirkung der konfessionell geprägten Semantiken überhaupt erst eröffnet und auch erweitert (ebd.).
Kritische Anfragen an die Methodik relativieren dieses Ergebnis nicht. Im Sinne methodischer Transparenz wäre es allerdings hilfreich gewesen, Kriterien für die Quellenauswahl zu dokumentieren und die Anwendung der Konzepte von Begriffsgeschichte über systemtheoretische Semantikinterpretation bis hin zu historischer und wissenssoziologischer Diskursanalyse zu konkretisieren.
Das Forscherteam um Karl Gabriel und Hans-Richard Reuter hat mit dem Buch „Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Deutschland“ einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der institutionellen Entwicklung und der Wertideen des deutschen Wohlfahrtsstaates entwickelt und den Einfluss religiöser Akteure sowie die Dynamiken und Umbrüche dieser Einflussnahme wissenschaftlich fundiert und nachvollziehbar herausgestellt. Damit haben sie nicht nur zum Verstehen beigetragen, sondern auch an Ideen und Begriffe erinnert – wie etwa an die Unterscheidung zwischen Versorgungsstaat und Wohlfahrtsstaat –, die auch zukünftig zum differenzierten und lösungsorientierten Nachdenken über sozialpolitische Herausforderungen anregen.
Hanna Fülling