Ulrich H. J. Körtner

Religionen bewerten

„Religionen bewerten?“ lautete das Thema des Jahresempfangs der EZW im Februar 2015. Auf dem Podium saßen Susanne Matsudo-Kiliani (Deutsche Buddhistische Union), Ralf Grünke (Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage / Mormonen) und Ulrich H. J. Körtner (Vorsitzender des Kuratoriums der EZW). Wir dokumentieren die drei Impulsreferate.

Die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) ist die zentrale wissenschaftliche Studien-, Dokumentations-, Auskunfts- und Beratungsstelle der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) für die religiösen und weltanschaulichen Strömungen und Gemeinschaften der Gegenwart. Sie hat, wie man auf ihrer neu gestalteten Homepage lesen kann, „den Auftrag, diese wahrzunehmen, zu verstehen und aus evangelischer Sicht einzuordnen“. Wie es weiter heißt, will die EZW nicht nur „einen sachgemäßen Dialog mit Anders- und Nichtglaubenden pflegen und fördern“ sowie „über Entwicklungen und Tendenzen der religiösen Landschaft in Deutschland informieren“, sondern sie will auch „zur christlichen Orientierung im religiösen und weltanschaulichen Pluralismus beitragen“. In der Ordnung der EKD für die EZW in ihrer gültigen Fassung von 1996 liest man dazu, die EZW trage „dazu bei, die Darstellung des christlichen Gottes- und Weltverständnisses im Gegenüber zu anderen Gottes- und Weltverständnissen zur Geltung zu bringen (evangelische Apologetik)“. Außerdem bemühe sie sich „um Koordination der Arbeit zu religiös-weltanschaulichen Fragen im Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschland“.

Den Dialog mit Anders- und Nichtglaubenden zu führen, ihnen zu begegnen, religiöse Strömungen und Gemeinschaften wahrzunehmen und zu verstehen zu suchen, ist das eine. Christliche Orientierung zu bieten und andere religiöse Strömungen und Gemeinschaften aus evangelischer Sicht einzuordnen, ist das andere. Hier geht es eben nicht nur um Beschreibung, sondern auch um Bewertung von Religion.

Begegnen, beschreiben und bewerten – ist das ein Widerspruch? Wohl kaum – oder jedenfalls nicht notwendigerweise. Religion und Religionen sind selbstverständlich Gegenstand von Bewertungen und Kontroversen. Ihre Bewertung kann in ganz unterschiedlichen Koordinatensystemen erfolgen. Ein Bewertungsrahmen ist beispielsweise das Recht. Der moderne demokratische Rechtsstaat ist zu weltanschaulicher Neutralität verpflichtet, was aber keineswegs bedeutet, dass er sich in Fragen der Religion jedes Urteils enthalten müsste oder auch nur dürfte. Ein wesentliches Kriterium des modernen Religionsrechts besteht darin, die einzelnen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften daraufhin zu überprüfen, wieweit sie den demokratischen Rechtsstaat, der die Religionsfreiheit aller Bürgerinnen und Bürger schützt, und seine Gesetze achten. Religionen oder bestimmte Auslegungen von Religionen, welche die Grundlagen des demokratischen Staates, die Menschenrechte und die Menschenwürde, missachten, haben keinen Anspruch auf staatliche Anerkennung. Letztlich untergraben sie auch die Religionsfreiheit, die ihnen die freie Entfaltung ermöglicht.

Zu den heiklen Bewertungsfragen in einer pluralistischen Gesellschaft zählt nicht nur die Frage, wie viel Religion ein säkulares Gemeinwesen benötigt, weil der demokratische, säkulare Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht schaffen und garantieren kann, sondern auch die Frage, wie viel Religion und wie viel religiöse Pluralität eine säkulare Gesellschaft verträgt. Außerdem ist zu fragen, wie pluralismusfähig die Religionen selbst sind, das heißt wie weit sie nicht nur für sich selbst das Recht auf Religionsfreiheit reklamieren, sondern auch bereit sind, dieses Recht – das auch das Recht auf Religionslosigkeit und Religionswechsel einschließt – uneingeschränkt zu akzeptieren. Dies ist nur möglich, wenn Religionen ihren eigenen Geltungsanspruch in einer Weise vertreten, der auf seine gewaltsame Durchsetzung verzichtet.

Die Dimension der Religionskritik

Wertungsfragen stellen sich aber auch in jeder interreligiösen Begegnung, und zwar auch dann, wenn diese von Wertschätzung und einer Haltung des wechselseitigen Respekts geprägt ist. Wer einer Religion oder Weltanschauung angehört, ist von ihrer Wahrheit überzeugt und wird ihren Wahrheitsanspruch mit Argumenten begründen wollen. Sofern die Wahrheitsfrage aus dem interreligiösen Dialog nicht ausgeklammert wird, sind Wertungen unvermeidlich. Zu jedem ernsthaften Dialog über Fragen der Religion gehört mit anderen Worten auch die Dimension der Religionskritik.

Wir müssen freilich drei verschiedene Bedeutungen des Begriffs der Religionskritik unterscheiden. Unter Kritik der Religion ist erstens ihre Untersuchung von einem Standpunkt außerhalb derselben zu verstehen, sei es aus einem philosophischen, religionswissenschaftlichen, human- oder kulturwissenschaftlichen Blickwinkel. Beschreibung und kritische Analyse können im Einzelnen zu einer Kritik an bestimmten Entwicklungen und Erscheinungsweisen von Religion führen, ohne die Sinnhaftigkeit von Religion überhaupt, sei es für menschliche Individuen oder für die Gesellschaft im Ganzen, in Abrede zu stellen. Kritik bedeutet in diesem Fall zunächst nicht mehr, aber auch nicht weniger, als dass die Selbstbeschreibung und die Fremdbeschreibung von Religion zu unterscheiden und nicht deckungsgleich sind. So hat die Aufklärungsphilosophie einen Begriff von Religion und ihrem Wesen entwickelt, um im Namen einer vermeintlich natürlichen oder transzendentalen Religion, die zur condition humaine gehöre, das bestehende kirchliche Christentum zu kritisieren und die mit der Reformation ausgebrochenen Konfessionskonflikte zu befrieden.

Religionskritik kann zweitens die Kritik von Religion aus der Binnenperspektive einer konkreten Religion bedeuten, zum Beispiel aus der Sicht des Christentums, des Islam oder des Buddhismus. Die biblische Überlieferung betont immer wieder die Ambivalenz aller Religion – und sie ist ihrerseits ein Zeugnis für ihre Ambivalenzen, die beispielsweise das prekäre Verhältnis von Religion und Gewalt betreffen. Religionskritik ist ein immanenter Bestandteil der biblischen Religion, im Alten Testament nicht minder wie im Neuen Testament. Man denke nur an die zum Teil harsche Religionskritik der alttestamentlichen Propheten, ihre scharfe Kritik am Kult, die sich mit einer radikalen Sozialkritik verbindet. Auch erinnere man sich an den beißenden Spott, mit dem Deuterojesaja die Verehrung selbstgemachter Götterstatuen und fremder Götter überzieht. Wir haben es hier gewissermaßen mit einer religiösen Form von Religionskritik zu tun. Das Anliegen einer religiösen Religionskritik kann zum einen die Selbstkritik innerhalb einer bestimmten Religion sein, d. h. die innerreligiöse Auseinandersetzung darüber, welche Interpretationen und Praxen den Grundintentionen der eigenen Religion entsprechen und welche nicht. Zum anderen setzt sich religiöse Religionskritik aber auch mit anderen Religionen vom Standpunkt der eigenen Religion auseinander und prüft, inwieweit der Wahrheitsanspruch einer anderen Religion und ihre Praxis der Gottesverehrung oder ihre Transzendenzerfahrungen mit den eigenen Erfahrungen, dem eigenen Wahrheitsanspruch und der eigenen religiösen Praxis übereinstimmen oder zumindest in eine positive Beziehung gesetzt werden können – oder aber für unvereinbar gehalten und zurückgewiesen werden.

Drittens schließlich kann Religionskritik von einem dezidiert antireligiösen Standpunkt aus mit dem Ziel betrieben werden, die Haltlosigkeit oder gar Schädlichkeit von Religion für Individuen wie für Gemeinschaften oder die Gesellschaft im Ganzen nachzuweisen. In diesem Fall verschreibt sich die Religionskritik der Bekämpfung von Religion, sei es, dass eine andere Form der Weltanschauung an ihre Stelle treten soll, sei es, dass man glaubt, ersatzlos auf sie verzichten zu können.

Eine zentrale Rolle bei der Religionskritik spielt die Theologie. Theologie im christlichen Kontext ist die Selbstprüfung des christlichen Glaubens in einer wissenschaftlichen Form. Auch wenn moderne Theologie religionswissenschaftliche Elemente enthält, ist die Theologie als Ganze doch von Religionswissenschaft zu unterscheiden, weil sie die eigene Religion wie fremde Religionen nicht von einem neutralen oder areligiösen Standpunkt aus betrachtet, sondern explizit einen religiösen Standpunkt einnimmt. Sie beschreibt eben nicht nur die eigene Religion oder fremde Religionen, sondern bezieht inhaltlich Stellung. Sie verfährt nicht nur deskriptiv, sondern sie argumentiert normativ und somit kritisch, mag dies auch noch so zurückhaltend geschehen. Theologie als Selbstprüfung des christlichen Glaubens unter historischen, systematischen und praktischen Gesichtspunkten ist ein unaufgebbares Moment des Glaubens. In ihr verhält sich der Glaube kritisch zu sich selbst. Nicht nur gibt es eine explizite theologische Religionskritik, sondern Theologie als Wissenschaft ist insgesamt als Religionskritik zu verstehen. Es handelt sich bei ihr um die institutionalisierte religiöse Religionskritik des Christentums, die sich in der Moderne ihrerseits zu areligiösen oder antireligiösen Formen der Religionskritik verhalten muss. Sofern andere Religionen vergleichbare Formen wissenschaftlicher Theologie entwickeln, gilt von ihnen entsprechend das Gleiche.

„Interreligiöse Religionskritik“

Der katholische Theologe Mariano Delgado hat kürzlich den interessanten Vorschlag einer interreligiösen Religionskritik ins Spiel gebracht.1 Delgado stellt fünf Thesen zur Diskussion, die ich auch für unser weiteres Gespräch zum Thema „Religionen bewerten“ für anregend halte:2

1. „Die interreligiöse Religionskritik ist keine Einbahnstraße, etwa als Kritik des missionierenden Christentums an anderen Religionen, sondern zunächst ein Aufmerksam-Werden für die Fremdwahrnehmung, d. h. für die Art und Weise, wie wir von anderen gesehen werden.“

2. „Interreligiöse Religionskritik erfordert ein Bemühen um Verständnis der ‚Religionslogik‘ der anderen Religionen.“

3. „Interreligiöse Religionskritik setzt das Ernstnehmen der in der eigenen Kultur und Tradition entstandenen Religionskritik voraus, d. h. nur eine Religion, die sich der von ihr hervorgerufenen theologischen wie säkularen Religionskritik gestellt hat, kann sich sinnvollerweise an der interreligiösen Religionskritik beteiligen und die eigene Erfahrung darin einbringen.“

4. „Interreligiöse Religionskritik, die sich mit konkreten, für das menschliche Zusammenleben wichtigen Themen (etwa mit Gewalt, Toleranz und Religionsfreiheit) beschäftigt, setzt die Fähigkeit der einzelnen Religionen zur Entlarvung und Überwindung der eigenen diesbezüglichen ‚Pathologien‘ und zum Lernen aus den Erfahrungen der anderen voraus.“

5. „Interreligiöse Religionskritik erfordert eine theologische Gratwanderung: Es geht um eine ‚Selbstbescheidung‘, die nicht zu einem religionswissenschaftlichen ‚Komparativismus‘ oder einem ‚Relativismus‘ nach Art der bekannten ‚buddhistischen‘ Parabel von den blinden Männern und dem Elefanten führt. Es geht vielmehr darum, dass wir auf die Richtigkeit der von unserem Glauben gebotenen ‚Perspektive‘ setzen, aber im Bewusstsein dessen, dass es hier in dieser Welt trotz des Glaubenslichtes immer ‚Nacht‘ ist und Gott selbst, der sich durch Schöpfung und Menschwerdung … mit jedem Menschen vereinigt hat, dafür sorgt, dass alle Kreaturen“ auch im Dunkeln „von dem Wasser des Lebens, aus dem nie versiegenden Strom seiner Gnade trinken“.


Ulrich H. J. Körtner, Wien


Anmerkungen

  1. Vgl. Mariano Delgado, Interreligiöse Religionskritik, in: ZMR 98 (2014), 179f.
  2. Ebd., 180.