Religionen und Gewalt. Konflikt- und Friedenspotentiale in den Weltreligionen
Reinhard Hempelmann, Johannes Kandel (Hg.), Religionen und Gewalt. Konflikt- und Friedenspotentiale in den Weltreligionen, Vandenhoeck & Ruprecht (V&R unipress), Göttingen 2006, 329 Seiten, 29,90 Euro.
Die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen hat in den Jahren 2002 bis 2004 zusammen mit der Friedrich-Ebert-Stiftung drei Veranstaltungen durchgeführt, die den Konflikt- und Friedenspotentialen in den Weltreligionen nachgingen. Das Resultat ist ein von Reinhard Hempelmann und Johannes Kandel herausgegebener Sammelband, der in der Reihe Kirche-Konfession-Religion erschienen ist. Die 18 Beiträge verteilen sich auf sechs Kapitel: Grundsatzfragen, Politik- und sozialwissenschaftliche Diskussion, Christentum, Judentum, Islam und Buddhismus.
Man beginne beispielsweise mit dem Abschnitt E. (Zum Islam): Der erste Beitrag „Islam als Religion des Friedens“ stammt aus der Feder von Bekir Alboga, Imam und Beauftragter der Türkisch-Islamischen Union der Anstalten für Religion e. V. (DITIB) für den interreligiösen Dialog – außerdem Teilnehmer der von Wolfgang Schäuble initiierten Islamkonferenz. In der Zeit, so Alboga, als sich Mohammed in Medina aufhielt, hätten Juden und Muslime in Frieden und Eintracht eine Umma gebildet, was sich aus dem sog. Gemeinschaftsvertrag, der „Verfassung“ des medinensischen Gemeinwesens, entnehmen ließe. Mohammed selbst sei kein politischer Machthaber gewesen, dessen Regierung den Juden aufoktroyiert wurde; vielmehr habe Mohammed lediglich die Rolle eines Schlichters und Schiedsrichters gespielt, der darüber hinaus den Juden Religionsfreiheit garantiert sowie die „Tisch- und Ehegemeinschaft“ zwischen den Religionen ausdrücklich befürwortet habe. „Diese Tatsachen, die von einem freundschaftlichen Verhältnis und gegenseitiger Achtung zeugen, sind ein Beweis dafür, dass nicht Glaubensfragen, sondern stets andere – gesellschaftliche, wirtschaftliche und machtpolitische – Gründe Anlass für Zwist untereinander gewesen sind.“ (230) Damit meint Alboga gezeigt zu haben, dass Gewalt gegenüber Andersgläubigen oder gar eine Islamisierung der Gesellschaft mitnichten für „den Islam“ konstitutiv seien. Islam und Pluralismus, nach Alboga geht das problemlos zusammen, das Beispiel Medina habe dies ja gezeigt. Schade nur, dass es sich gerade dabei um eine unhistorische Fiktion handelt. In Ende / Steinbachs Standardwerk „Der Islam in der Gegenwart“ (5., aktualisierte und erweiterte Auflage, München 2005) liest man: „Bald nach Muhammads Ankunft in Medina kam es zu Konflikten, die theologische, aber wohl auch andere Ursachen hatten und damit endeten, dass ein Teil der Judenschaft aus der Stadt vertrieben wurde, während ein anderer Teil einem Massaker zum Opfer fiel, das der Prophet wohl nicht anordnete, aber doch billigte. (…) Es wäre verfehlt, die Haltung gegenüber den Schriftbesitzern als Toleranz zu bezeichnen. In Wahrheit ist es Duldung, im Bewusstsein der absoluten Überlegenheit des Islam gewährt und mit der Hoffnung verbunden, dass die Schriftbesitzer schließlich den Islam annehmen.“ (25 und 28) Wer die Geschichte nicht kennt, steht bekanntlich in der Gefahr, sie zu wiederholen.
Gudrun Krämer hingegen, Leiterin des Instituts für Islamwissenschaft der FU Berlin, sieht ausdrücklich davon ab, „den“ Islam bzw. die „Essenz“ der „koranischen Botschaft“ zu destillieren. Wer von Islam reden wolle, müsse den von Muslimen tatsächlich gelebten Islam in den Blick nehmen – und nicht ein angeblich transhistorisches Konstrukt. Demgemäß orientiert sich ihr Beitrag „Gewaltpotentiale im Islam“ an dreierlei: Erstens an dem, „was im Islam als normative Grundlage und Fundament des eigenen Glaubens und eigenen Handelns verstanden wird“ (239), nämlich Koran und Sunna (in dieser Reihenfolge). Zweitens an der Praxis von Muslimen zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten und drittens an ihren Vorstellungen bezüglich „rechten“ islamischen Denkens und Handelns. Was das Erste betrifft, so muss nach Krämer zunächst die Vielstimmigkeit und auch Widersprüchlichkeit der normativen Texte anerkannt werden: „Die koranische Botschaft spricht nicht einfach aus dem koranischen Text heraus. Sie wird von Muslimen auf der Grundlage dieser Texte geformt.“ (241) Eine Möglichkeit, mit dieser Vielstimmigkeit umzugehen, besteht darin, die Aussprüche in eine chronologische Reihenfolge zu bringen, wobei die späteren die früheren aufheben (Abrogation). Letztlich bleibt aber doch ein gewisses Angebot an Deutungsalternativen und damit die Möglichkeit, auszuwählen und Schwerpunkte zu setzen. Betrachtet man nun die Praxis von Muslimen bzw. der frühen muslimischen Gemeinschaft, so wird man, mit Krämer und gegen Alboga, sagen dürfen, dass es sich bei ihr um eine Eroberungsgemeinschaft gehandelt hat, die den Bereich ihrer Herrschaft mit Gewalt erweiterte, wenn auch nicht im Sinne einer gewaltsamen Ausdehnung der Religion (Zwangsbekehrung). „Es bleibt aber die Tatsache, dass die frühe Gemeinde auf das Schwert gegründet war, sei es, dass es unmittelbar gezückt wurde, sei es, dass die Eroberung im Schatten der militärischen Drohung stand und in Verträge mündete, die ungleiche Verträge waren.“ (242) Mit Blick auf die Vorstellungen, die sich Muslime vom „rechten“ islamischen Denken und Handeln machten, wird man, so Krämer, zu konstatieren haben, dass die Mehrzahl der Muslime dem Dschihad der Frühzeit durchaus positiv gegenübersteht und ihn nicht nur nicht zum Anlass selbstkritischen Rückfragens auf das eigene Verhältnis zur Gewalt nimmt, sondern vielmehr als eine Quelle muslimischen Stolzes und Selbstbewusstseins ansieht.
Es führt offenbar ein Weg von „Islam“ zu „Islamismus“, der, wie es scheint, auch nicht selten begangen wird. Wer vom Islamismus redet, der darf über den Islam nicht schweigen. Johannes Kandel, Leiter des Referats „Berliner Akademiegespräche/Interkultureller Dialog“ in der politischen Akademie der Friedrich-Ebert-Stiftung – stimmt in seinem Beitrag „Islamismus als politische Ideologie“ grundsätzlich mit Gudrun Krämers Diktum überein, dass Islam weitgehend das sei, was Muslime an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit als islamisch definieren und praktizieren. Eben deshalb ist es aber, so Kandel, durchaus legitim, auch den Islamismus als eine „Lesart“ des Islam neben anderen möglichen aufzufassen. Unter Islamismus als einer Variante des zeitgenössischen Islam versteht Kandel eine a) herrschaftslegitimierende politische Ideologie mit totalitären Tendenzen, die b) als eine politische Protest- und Oppositionsbewegung sowie c) als soziale Bewegung mit partiell wohlfahrtsstaatlichen Orientierungen auftritt und d) eine transnational-globale „Diskursgemeinschaft“ darstellt, die sich durch Schwarz-Weiß-Denken, Absolutheitsanspruch und eine quasi chauvinistische Idealisierung der eigenen Religion, verbunden mit einer entsprechenden Abwertung aller anderen, auszeichnet. Von einem bloßen islamischen Fundamentalismus unterscheidet sich, so Kandel, die Ideologie des Islamismus dadurch, dass dieser sich die Islamisierung der Gesellschaft von dem Einsatz politischer Mittel erhoffe, wohingegen jener zu demselben Zweck auf Mission setze. Die Ursachen des Islamismus „sind komplex und werden nur im Kontext der wechselvollen Geschichte der Jahrhunderte währenden Begegnungen und feindseligen Konfrontationen von Orient und Okzident verständlich, vor allem im Blick auf a) die Geschichte kolonialer Expansion, des Imperialismus und des Zusammenbruchs des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg, b) die postkolonialen sozioökonomischen und soziokulturellen Krisen in der islamisch geprägten Welt, c) die internationalen Politikkonstellationen vom Kalten Krieg bis zum Hegemonieanspruch der ‚Supermacht‘ USA, d) die Geschichte der Migration und der Integrationspolitik in Europa.“ (283) Die Kompromittierung des arabischen Nationalismus durch die Niederlage gegen Israel im Sechs-Tage-Krieg 1967, die „Iranische Revolution“ 1979, der „Dschihad“ gegen die Sowjetunion in Afghanistan und ihre Vertreibung 1989, der Golfkrieg 1991, der Bosnienkrieg 1992-1995, der Afghanistankrieg 2001 und nicht zuletzt auch der US-Einmarsch in den Irak haben dem globalen Islamismus in die Hände gearbeitet und geholfen, ihn nachhaltig zu konsolidieren. Dass auch hierzulande Islamisten bereits „islamisierte“ Räume geschaffen haben, bedarf keiner eigenen Erwähnung.
Wie steht es also mit der angeblich Gewalt fördernden Rolle der Religionen in der Weltpolitik? Mit dieser Frage befasst sich Volker Rittberger, Professor für Politikwissenschaften und Internationale Beziehungen sowie Leiter der Abteilung Internationale Politik/Friedens- und Konfliktforschung im Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen, in seinem Beitrag „Die Rolle der Religionen in zwischenstaatlichen Konflikten“. Geht es nach S. Huntington, dann ist als Determinante internationaler Politik im 21. Jahrhundert eine neue Blockbildung entlang von Religionsgrenzen zu erwarten, einschließlich unausweichlichem „clash“ der Zivilisationen. Demnach stünden wir am Beginn einer Ära neuer Glaubenskriege. Rittberger weist Huntingtons Thesen jedoch zurück und betont, dass religiöse Unterschiede keineswegs schon per se als Konfliktursachen wirksam werden, obwohl sie sich für die gewaltförderliche Instrumentalisierung durch Eliten anbieten. Andererseits ist das, was nach Huntington eigentlich zu erwarten wäre, ausgeblieben – bislang jedenfalls: „Zum ersten sind die meisten Kriege der Gegenwart Bürgerkriege, die zwischen Angehörigen derselben Weltreligion ausgefochten werden. (...) Im Verlauf ganz gewöhnlicher Macht-, Wohlfahrts- oder Herrschaftskonflikte werden vergleichsweise geringe religiöse Differenzen wie die zwischen Sunniten und Schiiten oder zwischen Katholiken und Protestanten auf einmal höchst bedeutsam. Die übergreifenden Gemeinsamkeiten, die zwischen diesen Glaubensgemeinschaften bestehen, treten hingegen in den Hintergrund.“ (77) Zum zweiten lassen sich gerade keine Blockbildungsprozesse entlang religiöser Konfliktlinien erkennen. Drittens kann man v. a. mit Blick auf die Länder des Südens feststellen, „dass die Politisierung von Religionen und die Radikalisierung der Gläubigen – die es unbestreitbar gibt – regelmäßig der wirtschaftlichen Verelendung und sozialen Diskriminierung ganzer Bevölkerungsschichten folgen.“ (77f)
Allerdings hat sich gezeigt, dass die Wahl der Mittel sowie die Bereitschaft, in einem Konflikt Gewalt anzuwenden, von drei Bedingungen abhängen: erstens der Einstellung der Konfliktparteien zum Konfliktgegenstand, zweitens der Einstellung zum Konfliktgegner und drittens der Einbettung in ein weiteres soziales Umfeld, das ein bestimmtes Konfliktverhalten auf bestimmte Weise legitimiert oder de-legitimiert. Sind diese Bedingungen erfüllt, dann können religiöse Überzeugungen für das Konfliktverhalten handlungsbestimmend werden.
Das Ärgerliche an Sammelbänden besteht oftmals in der mangelnden Bezugnahme der Beiträge aufeinander, die, wenn überhaupt, nur durch ihr mehr oder weniger gemeinsames Thema verbunden sind. Ein derartiger Autismus führt bestenfalls zu einer bloßen Reihung von Wortmeldungen ohne echtes Gespräch. Die – notgedrungen begrenzte – Auswahl der hier besprochenen Aufsätze aus „Religionen und Gewalt“ hat aber hoffentlich vor Augen geführt, dass es Reinhard Hempelmann und Johannes Kandel glänzend gelungen ist, Beiträge ganz unterschiedlicher Provenienz und Qualität zu einem polyphonen Ganzen zu arrangieren, das die Lektüre interessant und angenehm zugleich gestaltet. Wer also nach einer gelungenen Zusammenschau der bisher geführten Diskussion zum Thema „Religionen und Gewalt“ sucht, dem sei dieser Band wärmstens empfohlen.
Daniel Gruschke, Erlangen