Hans-Peter Willi

Religionsfreiheit und Toleranz

Johannes Reuchlins Beitrag im „Augenspiegel“ (1511)

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Vor 500 Jahren erschien in Tübingen das Buch „Augenspiegel“, das zentrale Dokument im Streit um die Bücher der Juden (1510-1520) aus der Feder von Johannes Reuchlin (1455-1522). Reuchlin, der von seinen Zeitgenossen große Anerkennung und Verehrung, freilich auch großen Widerspruch erfuhr, den Herder und Goethe rühmten und der bis heute als „Deutschlands erster Humanist“2 bezeichnet wird, wurde am 29. Januar 1455 in Pforzheim geboren. Dort besuchte er die Lateinschule, bevor er u. a. in Freiburg, Paris und Basel Jura studierte. 1481/82 kam er an die Tübinger Universität. Bald stand er als enger Berater auch im Dienst des Grafen von Württemberg, Eberhard im Bart, der 1477 die Universität gegründet hatte. Zugleich trieb Reuchlin seine philologischen Studien weiter. Er studierte bei byzantinischen Gelehrten Griechisch und im Umgang mit gelehrten Juden Hebräisch. Lilli Zapf urteilt: „Die Bedeutung Reuchlins für das Judentum liegt darin, daß er sich als erster christlicher Gelehrter des Mittelalters dem Studium der hebräischen Sprache widmete und sie neben dem Griechischen an deutschen Universitäten lehrte.“3Philologie und Rechtswissenschaft prägten den weiteren Lebensweg Reuchlins, der 1492 geadelt wurde und seit 1500 in Stuttgart wirkte. Von 1502 bis 1513 war er als Richter des Schwäbischen Bundes tätig und damit einer der führenden Richter im Reich. 1510 wurde er von Kaiser Maximilian I. um ein Gutachten im Streit um die Bücher der Juden gebeten. Dieser Streit hat sein letztes Lebensjahrzehnt entscheidend geprägt und weitgehend verdüstert. Zwar blieb Reuchlin in diesem Streit der moralische Sieger, aber 1520 wurde sein „Augenspiegel“ durch päpstliche Verfügung verurteilt. 1520 wurde Reuchlin an die Universität Ingolstadt berufen, 1521 folgte er einem Ruf nach Tübingen. Am 30. Juni 1522 starb Reuchlin in Stuttgart.

Der Streit um die Bücher der Juden ab 1510

Die Situation der Juden war in politischer, rechtlicher und sozialer Hinsicht prekär. Seit der Zerstörung des Tempels (70 n. Chr.) sind die Juden staaten- und heimatlos; bis zur Neugründung des Staates Israel im Jahr 1948 befindet sich das jüdische Volk in einer Diaspora-Existenz verstreut und ist völlig abhängig von der jeweils ausgeübten Politik an den jeweiligen Orten und unter den Bedingungen der jeweils herrschenden Zeitläufte „in wechselnden Gefährlichkeitsgraden“4. Ein jahrhundertelanger Prozess der Entrechtung geht einher mit religiös motivierten Anfeindungen, die sich aus dem Spannungsfeld von jüdischem und christlichem Glauben nähren: Die Juden gelten als das Volk, das Jesus Christus ans Kreuz gebracht hat und das sich dem christlichen Glauben gegenüber als verstockt erweist.

Direkter Anlass für den Judenbücherstreit bildet das Ansinnen eines zum Christentum konvertierten Juden namens Johannes Pfefferkorn. Dieser trat ab 1507 in Angriffsschriften gegen das Judentum („Judenspiegel“) dafür ein, die Bücher der Juden zu konfiszieren, weil sie dadurch nur in ihrem „Unglauben“ bestärkt würden, und insbesondere die gegen das Christentum gerichteten zu verbrennen. Brisanz erhielt Pfefferkorns Attacke dadurch, dass sich die geistliche Macht in Gestalt des Kölner Dominikanerordens mit ihr verbündete. Tatsächlich erreichte Pfefferkorn 1509 ein kaiserliches Mandat, das ihn ermächtigte, mit seinem Vorhaben zu beginnen. Wenig später wurde vom Kaiser jedoch die Rückgabe der konfiszierten Bücher an die Juden angeordnet, um Zeit zur Beratung zu gewinnen. Max Brod notiert: „für die Juden war die ganze Geschichte jedenfalls im wesentlichen erledigt ... Der prinzipielle Streit aber ... über den Wert und Unwert der talmudischen, kabbalistischen und anderen Schriften“ begann jetzt erst eigentlich.5Im August 1510 gab der Mainzer Erzbischof Gutachten für den Kaiser in Auftrag. Auch Reuchlin wurde um ein Gutachten gebeten, war er doch nicht nur ein am Hof höchst angesehener Jurist, sondern einer der wenigen christlichen Gelehrten, die des Hebräischen mächtig waren. Er war praktisch der einzige Gutachter, der die Bücher, über die er zu urteilen hatte, aufgrund eigener Sprach- und Quellenkenntnisse kannte – alle anderen Gutachter hatten nicht viel mehr als ihre Vorurteile. In theologischer Hinsicht hatte Reuchlin in früheren Äußerungen über die Juden zu erkennen gegeben, dass er in genau den Begriffen dachte, die bis dahin den Standard in der christlichen Welt ausmachten: Demnach war das Elend der Juden in erster Linie durch ihre Verstocktheit gegenüber dem christlichen Glauben bedingt, und ihr Heil wurde einzig in ihrer Bekehrung und Taufe gesehen. Reuchlin überschritt aber nie die Grenze zur Gewalt. Und im entscheidenden Moment, als es galt, Farbe zu bekennen, korrigierte Reuchlin sich selbst und trat für die Sache der Juden ein. So handelt nur einer, der sich allein der von ihm erkannten Wahrheit verpflichtet weiß und der, bewusst auf Gewaltmittel verzichtend, all seine Kompetenz dafür einsetzt, dieser Wahrheit zum Recht zu verhelfen. Das macht ihn auch heute zu einem weithin leuchtenden Vorbild.Am 6. Oktober 1510 beendete Reuchlin sein Gutachten unter dem Titel „Ratschlag, ob man den Juden alle ihre Bücher nehmen, abtun und verbrennen soll“. Abweichend von allen anderen Gutachten ist die Antwort Reuchlins „ein klares, wohlmotiviertes ‚Nein’“6. In die Öffentlichkeit drang die Sache durch Pfefferkorn, der „die unglaubliche Frechheit [besaß], die Argumente, die Reuchlin in seinem versiegelten Gutachten zugunsten der hebräischen Bücher vorgebracht hatte, in extenso zu veröffentlichen, indem er gegen sie polemisierte. Dazu hatte er kein Recht“7. Die entsprechende Schrift Pfefferkorns erschien Anfang 1511. Reuchlin konnte sich nicht anders dagegen zur Wehr setzen als durch die eigene Veröffentlichung und Kommentierung seines Gutachtens.Das Ergebnis ist die Schrift „Augenspiegel“, die zur Herbst-Buchmesse 1511 in Frankfurt am Main großes Aufsehen erregte und zu einem bis dahin singulären „Medienereignis“ wurde. Eine der wesentlichen Bedingungen dafür war der noch recht junge Buchdruck mit seinen neuartigen Möglichkeiten der Verbreitung und Schaffung dessen, was wir „Öffentlichkeit“ nennen.In diesem Streit spielen schon die Faktoren und Mechanismen eine wesentliche Rolle, die wenige Jahre später der Reformation zum Durchbruch verhelfen sollten. Die letztendliche Verurteilung von Reuchlins „Augenspiegel“ ist wohl nur hinreichend zu verstehen, wenn man die Sorge des päpstlichen Stuhles berücksichtigt, die Haltung Reuchlins könne mit der reformatorischen Bewegung im Zusammenhang stehen und ihr Vorschub leisten (obwohl Reuchlin selbst zur Reformation auf Distanz blieb und sich in seinen letzten Lebensjahren sogar noch zum Priester weihen ließ).Seit 1511 kann man von einem öffentlich ausgetragenen Streit sprechen, der ein Jahrzehnt andauerte und das gebildete Europa in zwei Lager teilte. Ging es anfangs noch darum, dass Reuchlin einzelne Thesen zurücknehmen sollte, verschärfte sich die Angelegenheit, als die Kölner Dominikaner von Reuchlin die völlige Rücknahme seines „Augenspiegel“ forderten. Zum einen drohte also Reuchlins persönliche Verurteilung als Ketzer – diese blieb letztlich aus –, zum anderen die Verurteilung des „Augenspiegel“ – diese trat im Jahr 1520 durch Papst Leo X. ein. Gegen das Vorhaben der Vernichtung der jüdischen Literatur übrigens „setzte die Weltgeschichte mit der ihr eigenen Kalligraphie einen höchst ironischen Schnörkel“8: Der babylonische Talmud wurde auf Anregung desselben Papstes Leo X., der den „Augenspiegel“ wegen allzu günstiger Beurteilung des Talmud verdammt hatte, in jenen Jahren zum ersten Mal gedruckt.

Der „Augenspiegel“ 1511

Reuchlins „Augenspiegel“ wurde 1511 in Tübingen gedruckt. Das Titelblatt zeigt direkt unterhalb des Haupttitels das Bild einer Brille mit den beiden kreisrunden Augengläsern und dem gebogenen Nasenbügel, so wie es für Brillen aus dieser Zeit typisch ist – damals „Augenspiegel“ genannt. Im Kern enthält der gedruckte „Augenspiegel“, neben einigen etwas später entstandenen Textteilen, das in deutscher Sprache verfasste Gutachten Reuchlins für den Kaiser (Nr. 3 in der Gliederung):1  Inhaltsverzeichnis (W, 17)92. Erzählung der Vorgeschichte (W, 18-26)a. Vorwort von Reuchlin (W, 18-19)b. Schreiben des Kaisers an den Mainzer Erzbischof (W, 20)c. Mandat des Kaisers zur Einholung der Gutachten (W, 21) d. Schreiben des Mainzer Erzbischofs an Reuchlin (W, 21-22)e. Reaktion Reuchlins auf Pfefferkorns Angriff (W, 22-26)3. Gutachten Reuchlins an den Kaiser (W, 27-64; L, 131-174)104. 52 Argumente nach scholastischer Methode (W, 65-151)5. Verteidigung gegen 34 Vorwürfe Pfefferkorns (W, 152-169)Im Gutachten fixiert Reuchlin die genaue Fragestellung: „Ob den Juden ihre Bücher sollen oder von Rechts wegen können beschlagnahmt, vernichtet oder verbrannt werden?“ (L, 132). Um selbst zu einer begründeten Antwort zu gelangen, bezeichnet es Reuchlin als „notwendig“ zu bedenken, dass die jüdischen Schriften „von verschiedener Art“ sind (L, 133). An dieser Stelle macht Reuchlin vor jeder Einzelerörtung klar, dass das jüdische Schrifttum nicht als Ganzes verneint oder bejaht werden kann, sondern zunächst einmal in seiner Unterschiedlichkeit wahrzunehmen ist. Vor dem Hintergrund seiner eigenen Kenntnis teilt er das jüdische Schrifttum in sieben Arten (Literaturgattungen) ein: 1. die Heiligen Schriften der Juden, „ihre Bibel“ („Altes Testament“); 2. der Talmud; 3. die Kabbala; 4. Glossen und Kommentare zu den biblischen Schriften („Perusch“); 5. Reden, Disputationen, Predigtbücher („Midrasch“); 6. Schriften der jüdischen Philosophen und Gelehrten aller Wissenschaften („Sepharim“); 7. Poetisches, Fabeln, Gedichte, Märchen, Satiren, Sammlung von Lehrbeispielen („Dichtung“).Dieses Vorgehen Reuchlins verleiht seinem Gutachten eine Sonderstellung. Alle Gutachten stimmen darin überein, dass die biblischen Schriften unangetastet bleiben sollen (1). Aber im Blick auf alle anderen jüdischen Schriften gehen die anderen Gutachter davon aus, dass in den jüdischen Schriften so viel Falsches und dem christlichen Glauben Widersprechendes enthalten sei, dass die Forderung ihrer Beschlagnahme und Vernichtung begründet sei. Zu mehr waren die anderen Gutachter nicht in der Lage, weil ihnen die eigene Kenntnis der jüdischen Schriften fehlte. Reuchlin nahm die von den anderen Gutachtern nur geforderte Prüfung der jüdischen Bücher aufgrund seiner Hebräischkenntnisse selbst vor.Allenfalls in der 7. Literaturgattung finden sich nach Reuchlin einige wenige Schriften, die als regelrechte Schmähschriften einzustufen sind und der Vernichtung anheimfallen sollten. Reuchlin betont, dass er „nicht mehr als zwei herausgefunden“ habe. Im Blick auf alle anderen Literaturgattungen (2-6) kommt er zu dem bemerkenswerten Ergebnis, dass sie nach seiner Kenntnis keine Schmähschriften enthalten und deshalb auch nicht beschlagnahmt und verbrannt werden dürfen.Es wird dabei deutlich: Die Tatsache allein, dass jüdische Schriften auch Teile enthalten, die (argumentativ und entsprechend den eigenen Grundüberzeugungen) gegen den christlichen Glauben gerichtet sind, machen sie nicht zu Schmähschriften. Reuchlin stellt fest, dass sich die Sache im Blick auf die jüdischen Schriften völlig anders verhält als im Blick auf die Schriften der christlichen Ketzer und Häretiker: Letztere sind nämlich „durch die Taufe und die anderen Sakramente, die sie empfangen haben, der christlichen Kirche unterworfen, und in Dingen, die den Glauben betreffen, ist niemand ihr Richter, als der Papst und die Geistlichen unseres Glaubens. Die Juden aber sind in Dingen, die ihren Glauben betreffen, einzig ihresgleichen und sonst keinem Richter unterworfen. Es darf und kann auch kein Christ darüber befinden, es sei denn im Zusammenhang mit einem weltlichen Prozess, der auf regelrechte Anzeige bei einem ordentlichen Gericht zustandegekommen ist. Denn sie sind nicht Glied der christlichen Kirche und daher geht uns ihr Glaube nichts an“ (L, 157; unter Verweis auf 1. Kor 5, 12f; vgl. L, 139).Reuchlin geht zwar wie selbstverständlich davon aus, dass die Wahrheit aufseiten der Christen ist, aber angesichts der entscheidenden Frage, auf welche Art und Weise der Wahrheit zum Recht zu verhelfen ist und sie zur Geltung gebracht werden kann, setzt er nicht auf Gewaltmittel und Unterdrückung, sondern auf geistige Auseinandersetzung „in Wort und Schrift“, auf Verstehenwollen und Argumentation „mit Vernunftgründen“. Das aber kann nicht geschehen, wenn man die Lehren der Gegenseite nicht wirklich kennt – was wiederum zur Folge hat, dass man die jüdischen Schriften nicht verbrennen, sondern zuallererst kennenlernen muss, was nur durch eine Intensivierung der Hebräisch-Studien zu erreichen ist. „Verbrennt nicht, was ihr nicht kennt!“ – so überschreibt Peter Wortsman treffend seinen ZEIT-Artikel vom 5.1.2011 (wobei im Sinne Reuchlins zu ergänzen wäre: Verbrennt nicht, sondern studiert, was ihr nicht kennt – damit ihr es kennenlernt!).In seinem juristischen Gutachten argumentiert Reuchlin, wie in seiner Zeit durchaus üblich, auch mit biblischen Zitaten. Aus Joh 5,39 folgert Reuchlin, dass im Talmud Texte zu finden sind, die letztlich auf Christus hinweisen, und aus Gen 2,9 und Matth 13,29f, „daß wir Gutes und Schlechtes nebeneinander lesen und studieren können: das Schlechte, um es mit vernünftigen Worten zurechtzuweisen, und das Gute, das darunter wie die Rosen unter den Dornen sich findet, um es zum Gebrauch in der heiligen Lehre zu verwenden“. Bemerkenswert ist der Abschnitt über die jüdischen Kommentare zu den biblischen Büchern. Reuchlin hebt hervor, dass die christlichen Gelehrten auf diese Schriften auf keinen Fall verzichten dürfen. Er macht damit den humanistischen Grundsatz „ad fontes“ stark, der wenig später in der Reformation seine ganze Kraft entfalten sollte. Insgesamt sehen wir, wie Reuchlin das ursprüngliche Anliegen, die jüdischen Bücher zu beschlagnahmen und zu vernichten, geradezu umkehrt und völlig entgegengesetzte Anliegen zur Geltung bringt: Studium und Pflege – was auch eine völlig veränderte Haltung zur Folge hat: Wertschätzung und Anerkennung.Im Schlussplädoyer geht Reuchlin auf die im Hintergrund stehende grundsätzliche Frage ein, ob Zwang ausgeübt werden darf, wenn es darum geht, jemanden zum christlichen Glauben zu führen: „Denn wenn die Juden Frieden halten, dann soll man auch sie in Frieden lassen. Dies alles geschieht darum, daß sie nicht sagen können, wir wollten sie zu unserem Glauben drängen oder nötigen ... Das heißt, wir sollen die, welche nicht Christen sind, ungekränkt lassen und nichts von dem ihrigen begehren. Darum sollen wir ihre Kinder nicht ohne ihre [der Eltern] Einwilligung taufen. Das halten auch die Lehrer der Heiligen Schrift aufrecht ... Daraus darf entnommen werden, daß man ihnen auch ihre Bücher nicht gegen ihren Willen wegnehmen darf, denn Bücher sind manchen so lieb wie Kinder. Man gebraucht ja von den Dichtern die Redensart, daß sie die Bücher, die sie verfaßt haben, als ihre Kinder betrachten“ (L, 172f).Mit Verweis auf das Kirchenrecht lehnt Reuchlin Zwangsmaßnahmen im Blick auf die Bekehrung zum christlichen Glauben strikt ab. In diesem Zusammenhang plädiert er dafür, die hebräischen Studien an den christlich-theologischen Fakultäten der Universitäten im Reich fest zu etablieren, um auf dem Wege der Erforschung und der geistigen Auseinandersetzung einen Dialog mit den Juden „mit vernünftigen und freundlichen Worten in Sanftmut“ führen zu können und sie auf diese Weise für den christlichen Glauben zu gewinnen. Statt also die jüdischen Schriften zu vernichten, sollen sie auch von Christen ediert, gedruckt, gelesen, studiert, erforscht und diskutiert werden. Vergleicht man diesen Vorschlag Reuchlins mit der Ausgangsfrage, so ist wohl kaum eine eindeutigere Stellungnahme für den Erhalt der jüdischen Bücher denkbar. Das von Reuchlin formulierte „beschlußreife Urteil für diese ganze Streitsache“ lautet dementsprechend: „Man soll die Bücher der Juden nicht verbrennen, und man soll sie [die Juden] im Gespräch durch vernünftig vorgebrachte Gründe in Sanftmut und Güte mit Gottes Hilfe zu unserem Glauben führen“ (L, 174). Reuchlin gibt also in seinem Gutachten nicht nur eine klare juristische Antwort (L, 161) auf die Ausgangsfrage, sondern auch eine theologische Antwort auf das Anliegen Pfefferkorns und die Frage, welche Mittel geeignet sind, um die Juden für den christlichen Glauben zu gewinnen: nicht durch Zwangsmaßnahmen wie durch die Zwangstaufe oder durch das Wegnehmen ihrer Bücher, sondern im kenntnisreichen Eingehen auf ihre Schriften, in geistiger Auseinandersetzung, geleitet von den Prinzipien der Vernunft, der Sanftmut und der Güte.

Zur Bedeutung von Reuchlins „Augenspiegel“

Fassen wir zusammen: Das Erscheinen des „Augenspiegel“ wurde auf der Frankfurter Buchmesse im Herbst 1511 zu einem „Medienereignis“, das Phänomene antizipierte, die ein Jahrzehnt später in der Reformation mit den Schriften Luthers voll zum Tragen kamen. Innerhalb der rechtlich definierten und für alle geltenden Grenzen ist Reuchlin ein Verteidiger der Presse- und Druckfreiheit, der Freiheit, Bücher herzustellen, zu verbreiten, zu lesen, zu studieren und sich damit geistig auseinanderzusetzen. Reuchlin steht für die Freiheit des gedruckten Wortes, für die Freiheit der Bücher; dafür war dieser Mann bereit, sein Können, sein Vermögen, seinen Namen, seine Ehre und – das darf man wohl angesichts der aus dem Mittelalter bekannten Methoden der Inquisition ohne Übertreibung sagen – sein Leben einzusetzen.Reuchlin blieb Kind seiner Zeit in seinen Ansichten zum grundsätzlichen Verhältnis von jüdischem und christlichem Glauben und zur „Judenmission“. Von der Wahrheit des christlichen Glaubens war Reuchlin ebenso überzeugt wie von der Notwendigkeit, dass die Juden sich zu Jesus Christus bekehren müssen, um des ewigen Heiles im christlichen Sinne teilhaftig zu werden. Aber schon in der Art und Weise der Mission unterscheidet er sich wohltuend nicht nur von Pfefferkorn und den Kölner Dominikanern, sondern auch von vielen anderen vor und nach ihm. Nach Reuchlin darf Mission auf gar keinen Fall mit Gewalt verbunden sein, weder gegen Personen noch gegen die Besitztümer der Betroffenen – auch nicht gegen deren Bücher, in denen das geistige Erbe tradiert und die geistige Identität zum Ausdruck kommt und bewahrt wird. Reuchlin wird nicht müde zu betonen, welche Art und Weise allein zu den Rahmenbedingungen und Voraussetzungen von Mission und jeglicher Auseinandersetzung gehört: Die Auseinandersetzung muss ohne Gewalt(androhung) allein durch Worte und Argumente im Geist der Sanftmut erfolgen.Als Jurist hat Reuchlin auf der Basis der zu seiner Zeit geltenden Rechtstexte und Rechtsgrundlagen die Juden als gleichberechtigte Mitbürger im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation bezeichnet und infolgedessen alles verteidigt, was sie sind und haben. Die Rechtspraxis sah im Reich zuvor und noch lange danach völlig anders aus: Juden waren an Leib und Leben bedroht, sie wurden aus fadenscheinigen Gründen und aus nichtigen Anlässen allenthalben diskriminiert, aus ihren Häusern gejagt, vertrieben, verfolgt, zwangsgetauft und ermordet.Reuchlins Position zeichnet sich dadurch aus, dass er die juristische Theorie auch in der Praxis durchhielt und sie im konkreten Fall des Bücherstreites bewährte und zur Geltung brachte. Dass Reuchlins „Augenspiegel“ über das Juristische hinaus auch einen theologischen Mehrwert hat, wird deutlich, wenn er aus dem biblischen Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ ableitet, dass die jüdischen Mitbürger nicht nur rechtlich zu achten, sondern – als Nächste – zu lieben sind.Wie die neuere Reuchlin-Forschung gezeigt hat, bildet die theologisch brisante Auseinandersetzung um die methodischen Grundlagen der Hermeneutik und Exegese geradezu den Kern des Streites. Genau an der von Reuchlin bezeichneten Stelle sollte wenige Jahre später Martin Luther den Hebel ansetzen. In diesem Sinne war Reuchlin einer der Wegbereiter der Reformation, auch wenn er selbst Distanz zu ihr hielt und ihr nicht beitrat.Reuchlin war nicht nur als einer der ersten christlichen Gelehrten selbst des Hebräischen mächtig, sondern hat sich auch bahnbrechend für dessen weitere Erforschung eingesetzt. Damit hat Reuchlin das Anliegen Pfefferkorns und seiner Unterstützer geradezu umgekehrt und vom Kopf auf die Füße gestellt: Auf der Basis seiner Kenntnis der hebräischen Sprache und der jüdischen Literatur (die er kundig in Gattungen einzuteilen verstand) hat er nicht nur eindeutig gegen deren Beschlagnahme und Vernichtung votiert, sondern im Gegenteil die Ausweitung der akademischen Studien der hebräischen Literatur gefordert und entsprechend konkrete Vorschläge zur Institutionalisierung dieser Studien an allen Universitäten gemacht. In der anerkennenden und wohlwollenden Art und Weise, wie Reuchlin Juden aktiv aufsuchte, ihnen begegnete, mit ihnen und von ihnen sprach, von ihnen bereit war zu lernen, mit ihren Bücherschätzen umging – mit all dem verkörpert Reuchlin geradezu das Idealbild dessen, was heute im Blick auf den Dialog zwischen Christen und Juden und den Dialog zwischen den Religionen und Kulturen überhaupt zu Recht gefordert wird. Reuchlins Grundhaltung ist – nicht nur im Falle der Zustimmung, sondern auch des Widerspruchs – von Anerkennung auf der Grundlage wirklicher Kenntnis geprägt; das unterscheidet ihn von vielen seiner und heutiger Zeitgenossen. Zur Zeit Reuchlins verband sich die Ignoranz und Unkenntnis mit der Verweigerung von Anerkennung – heute verbindet sich nicht selten die Anerkennung mit Unkenntnis, was die Anerkennung eigentlich von innen her aushöhlt und auf Dauer brüchig macht. Anerkennung und Kenntnis bedingen einander, gehören unauflöslich zusammen – dafür steht der Name Reuchlins. So wie Reuchlin in eine vollständige Geschichte des jüdisch-christlichen Dialogs gehört, so gehört er auch in eine vollständige Geschichte der Wissenschaft und der Toleranz.Nicht weiter ausführen möchte ich an dieser Stelle Folgerungen, wie sie schnell zur Hand sind, wenn die Gegenwartsrelevanz einer Person oder Sache auf den Punkt gebracht werden soll. Wie Wortsman in seinem Artikel in der ZEIT vom 5.1.2011 könnte man im Blick auf Reuchlins „Augenspiegel“ von multikultureller Vielfalt und religiöser Toleranz sprechen, auf die sogenannte Sarrazin-Debatte in Deutschland und die Ankündigung einer Koran-Verbrennung durch einen christlichen Prediger in den USA (beides geschah 2010; 2011 kam es dann tatsächlich zu einer demonstrativen Koran-Verbrennung) hinweisen. Es bleibe den Lesern überlassen, Parallelen zur Gegenwart zu entdecken und den Prozess der Aneignung im heutigen Kontext selbst zu übernehmen. In diesem Sinne will dieser Beitrag nicht zuletzt zum eigenen Lesen von Reuchlins „Augenspiegel“ anregen.
 

Hans-Peter Willi, Tübingen


Anmerkungen

1 Gekürzte Fassung von: Hans-Peter Willi, Reuchlin im Streit um die Bücher der Juden. Zum 500-jährigen Jubiläum des „Augenspiegel“, Tübingen 2011.

2 „Reuchlin! Wer will sich ihm vergleichen, zu seiner Zeit ein Wunderzeichen!“ (J. W. v. Goethe, Zahme Xenien, zit. nach: Johannes Reuchlin, Deutschlands erster Humanist. Ein biographisches Lesebuch von Hans-Rüdiger Schwab, München 1989, 8; zu Herder vgl. 7f).

3 Lilli Zapf, Die Tübinger Juden. Eine Dokumentation, Tübingen 1974, 42008, 17. 

4 Max Brod, Johannes Reuchlin und sein Kampf. Eine historische Monographie, Stuttgart u. a. 1965 (Nachdruck Wiesbaden 1988), 149.

5 Ebd., 197f.

6 Ebd., 199.

7 Ebd., 203.

8 Ebd., 268f.

9 Als W wird zitiert: Johannes Reuchlin, Sämtliche Werke, Bd. IV,1.

10 Als L wird zitiert: Johannes Reuchlin, Deutschlands erster Humanist. Ein biographisches Lesebuch von Hans-Rüdiger Schwab.


Literatur

Max Brod, Johannes Reuchlin und sein Kampf. Eine historische Monographie, Stuttgart u. a. 1965 (Nachdruck Wiesbaden 1988), darin Abbildung des Titelblatts von Reuchlins „Augenspiegel“, 121

Doctor Johannsen Reuchlins der K.M. als Ertzhertzogen zu Osterreich auch Churfürsten vnd fürsten gemainen bundtrichters inn Schwaben warhafftige entschuldigung gegen vnd wider ains getaufften iuden genant Pfefferkorn vormals getruckt vßgangen vnwarhaftigs schmachbüchlin Augenspiegel (Tübingen 1511)

Johannes Reuchlin, Sämtliche Werke, hg. von Widu-Wolfgang Ehlers, Hans-Gert Roloff und Peter Schäfer, Stuttgart 1996ff, Band I,1: Der verbo mirifico – Das wundertätige Wort (1494) 1996; Band II,1: De arte cabalistica libri tres – Die Kabbalistik 2010; Band IV: Schriften zum Bücherstreit 1. Teil: Reuchlins Schriften (darin der „Augenspiegel“ 13-168) 1999 (der Band IV,1 zitiert als „W“)

Johannes Reuchlin, Deutschlands erster Humanist. Ein biographisches Lesebuch von Hans-Rüdiger Schwab, München 1989 (zitiert als „L“) Pforzheimer Reuchlinschriften (hg. von der Stadt Pforzheim), Bd. 12: Reuchlins Freunde und Gegner. Kommunikative Konstellationen eines frühneuzeitlichen Medienereignisses, hg. von Wilhelm Kühlmann, Ostfildern 2010
Hans-Peter Willi, Reuchlin im Streit um die Bücher der Juden. Zum 500-jährigen Jubiläum des „Augenspiegel“, Tübingen 2011 (darin weiterführende Literaturhinweise)

Peter Wortsman, „Verbrennt nicht, was ihr nicht kennt!“, Artikel in: Die Zeit 2/2011 (5.1.2011),16

Lilli Zapf, Die Tübinger Juden. Eine Dokumentation, Tübingen 1974, 42008

Aktuell: „Reuchlin und der ‚Judenbücherstreit’“. Ringvorlesung im Studium generale der Eberhard-Karls-Universität Tübingen im Wintersemester 2011-2012 (s. www.hpwilli.de/hinweise.php3)