Repräsentative Studie zu Muslimen in Deutschland
Die erste bundesweit repräsentative Studie über „Muslimisches Leben in Deutschland“ ist im Juni bei der vierten und für diese Legislaturperiode letzten Plenarsitzung der Deutschen Islamkonferenz vorgestellt worden. Ziel der von der Islamkonferenz in Auftrag gegebenen und vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) durchgeführten Untersuchung war es, belastbares Material über die Vielfalt des Lebens von Muslimen mit Migrationshintergrund in Deutschland zu präsentieren, dabei die konfessionelle Zusammensetzung so genau wie möglich zu bestimmen und über das religiöse Alltagsleben sowie den Integrationsprozess zu berichten. Sie geht darin über die Studie „Muslime in Deutschland“ (Katrin Brettfeld / Peter Wetzels 2007) hinaus und setzt auch methodisch einige andere Akzente.
Zu den eher überraschenden Ergebnissen gehört, dass es in Deutschland deutlich mehr Muslime gibt als bisher angenommen, nämlich zwischen 3,8 und 4,3 Millionen, was rund 5 Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht (bisherige Schätzungen gingen von 3,1-3,4 Millionen aus), ebenso dass 70 Prozent der Frauen nie ein Kopftuch tragen, was immerhin auch für jede zweite Muslimin gilt, die sich als „stark gläubig“ bezeichnet.
Weniger überraschend ist der Befund, dass 86 Prozent sich entweder für „eher gläubig“ oder „stark gläubig“ halten. Ebenfalls ist bekannt, dass auf dem Gebiet der Bildung nach wie vor Defizite bestehen, wenn auch im Generationenverlauf eine Steigerung zu verzeichnen ist. Gesellschaftlich sind Muslime besser integriert als oft vermutet. Immerhin haben rund 45 Prozent einen deutschen Pass, über die Hälfte ist Mitglied in einem deutschen (nicht rein herkunftslandbezogenen) Verein. In religiösen Vereinen oder Gemeinden organisiert sind indessen nur 20 Prozent; von den Islamverbänden fühlt sich kaum ein Viertel der Muslime vertreten. Dass es einen Koordinationsrat der Muslime (KRM, seit April 2007) gibt, weiß überhaupt nur jeder Zehnte, und nur 2 Prozent fühlen sich in religiösen Fragen von ihm vertreten. Aber mehr als drei Viertel aller Muslime würden sich einer Hauptforderung der Verbände anschließen: Sie wünschen sich einen islamischen Religionsunterricht an den Schulen.
Von Bedeutung ist auch die Erkenntnis, dass Probleme wie das Fernbleiben muslimischer Schülerinnen vom Sport- und Schwimmunterricht, vom Sexualkundeunterricht und von Klassenfahrten kein Massenphänomen darstellen, sondern eine Minderheit betreffen, wenngleich hier „Prozesse der Selbstausgrenzung“ festzustellen sind.
Von den (sunnitischen) islamischen Verbänden kommt Kritik an den so präsentierten Ergebnissen. Es ist zu hören, dass die Zurückhaltung von Frauen beim Tragen eines Kopftuchs vor allem den Diskriminierungserfahrungen in der deutschen Öffentlichkeit geschuldet sei. Auch das Herunterspielen der Bedeutung der religiösen Organisation entspreche nicht dem wirklichen Bild, da sich das muslimische Leben individuell und gemeinschaftlich im Wesentlichen in den Moscheen abspiele.
Demgegenüber ist zu sehen, dass die Studie bewusst nichtreligiöse (ehemalige) Muslime mit einschließt und sich nicht zuletzt dadurch auch von der Sonderstudie der Bertelsmann Stiftung „Muslimische Religiosität in Deutschland“ (2008) unterscheidet. Die Differenzierung nach Sunniten (74 Prozent der Muslime), Aleviten (mit 13 Prozent die zweitgrößte Gruppe), Schiiten (7 Prozent) und anderen Glaubensrichtungen zeigt sehr unterschiedliche Einstellungen zu Religiosität und religiöser Praxis. Bei Schiiten und Aleviten nehmen sie einen weniger hohen Stellenwert ein.
Die Ergebnisse dürften dem Innenminister gelegen kommen, da sie die Linie der Islamkonferenz stützen: Wahrnehmung der Vielfalt des muslimischen Lebens über die Islamverbände hinaus, größere Aufmerksamkeit für die „nichtorganisierten“ Muslime. Die Dach- und Spitzenverbände tun sich allerdings selbst keinen Gefallen, wenn sie sich nicht geschlossener zeigen und insoweit das divide et impera selbst unterstützen. Bis heute hat der KRM jedenfalls nicht nur keine eigene Internetpräsenz, sondern ist auch über die Websites der Gründerverbände überhaupt nicht oder nur am Rande greifbar.
Das Bundesamt hatte für die Untersuchung 6004 Bürger am Telefon befragt und so Daten über fast 17000 Menschen aus 49 muslimisch geprägten Ländern gewonnen. Rund 63 Prozent der Muslime mit Migrationshintergrund haben türkische Wurzeln, rund 14 Prozent kommen aus Südosteuropa, 8 Prozent aus dem Nahen Osten und 7 Prozent aus Nordafrika.
Friedmann Eißler