Risiken und Nebenwirkungen spiritueller Lebenskonzepte
Risiken und Nebenwirkungen spiritueller Lebenskonzepte. Zahlreiche Bildungs-, Seminar- und Gruppenangebote stellen Sinn, Lebensglück und Heilung in Aussicht. Auf diesem vielfältigen und unübersichtlichen Markt ist es nicht einfach, zwischen den hilfreichen Methoden konfliktträchtige oder gar gefährliche Angebote zu identifizieren. Ein Informationsangebot der Weltanschauungsbeauftragten der evangelischen Kirchen und der katholischen Bistümer hat deshalb unter der sinnfälligen Adresse „Spirituelle Apotheke“ (www.spirituelle-apotheke.de) vor einigen Wochen eine Internetseite veröffentlicht, die auf Risiken und Nebenwirkungen bestimmter spiritueller Lebenskonzepte hinweist. Dazu werden Antworten bekannter Gemeinschaften oder Denkrichtungen auf wichtige Lebensfragen kritisch untersucht. Die Seite ist in sechs Kategorien unterteilt: Gesundheit, Spiritualität, Gemeinschaft, Sicherheit, Ewigkeit und Erfüllung. Zu jedem dieser menschlichen Grundbedürfnisse werden beispielhaft einige Gruppen und Trends vorgestellt, bei „Sicherheit“ etwa „Verschwörungstheorien“ oder bei „Ewigkeit“ „Zeugen Jehovas“.
Wenn man eine Gruppe anklickt, werden knapp und präzise die jeweiligen Versprechen, spezifischen Angebote, aber auch Nebenwirkungen dargestellt. Die Einschätzung des Angebots folgt zwei Perspektiven:
1. Sozialverträglichkeit: Welche Folgen hat eine Mitgliedschaft? Werden Menschen vereinnahmt? Wird körperliche oder seelische Gewalt ausgeübt? Wie wird mit „Abtrünnigen“ umgangen?
2. Kirchlich-theologische Einordnung: Was wird über Gott, Jesus und den Heiligen Geist gesagt? Welches Menschenbild wird vermittelt?
In religionswissenschaftlichen Kreisen hat diese Handreichung Kritik hervorgerufen. Bemängelt wurde der Vergleich mit einer „Apotheke“, die doch wissenschaftlich begründete Heilmittel verkaufe, während hier neureligiöse Gruppen und Strömungen mit kirchlichem Deutungsanspruch einseitig beurteilt würden. In der Tat ist dieser Titel unglücklich, weil zwar die Wirkungen der Gruppen jeweils kurz genannt werden, im Zentrum aber die Risiken und Nebenwirkungen ausgeführt werden. Das geht leider nur aus dem Untertitel hervor. Auch die Auswahl der Themen ist unausgewogen. Neben breiten Strömungen wie „Yoga“, „Esoterik“, „Coaching“ oder „Pfingstgemeinden“ werden regionale Kleingruppen wie „Bhakti Marga“ oder „Go & Change“ dargestellt. Nach welchen Kriterien die behandelten 36 Gruppen und Strömungen ausgewählt wurden, wird nicht erläutert. Und wie soll eine angemessene Darstellung unter den anspruchsvollen Aspekten Wirkung, Sozialverträglichkeit und theologische Einordnung in der Kürze von maximal 1700 Zeichen gelingen können? Häufig fallen die Beschreibungen holzschnittartig aus, einige Klischees werden bemüht, und manche Sätze sind leider schlicht falsch.
Allerdings ist der Bedarf nach knappen Erstinformationen für Ratsuchende, die sich von der weltanschaulichen Vielfalt überfordert fühlen und vielleicht sogar in eine religiöse oder spirituelle Krise geraten sind, unbestritten hoch. Genau für diese Zielgruppe ist die Handreichung gedacht. Es geht nicht um religionswissenschaftliche Differenziertheit, sondern um Solidarität mit Betroffenen, die sich von bestimmten Glaubenspraktiken und -überzeugungen geschädigt fühlen. Dabei kommt es häufig vor, dass ein und dieselbe Praktik von Menschen unterschiedlich bewertet wird. Was für den einen wohltuend ist, kann für den anderen als Einengung empfunden werden. Deshalb enthält diese kurze Erstinformation auch die Adressen der regionalen Beratungsstellen zu Weltanschauungsfragen. Im persönlichen Gespräch kann die ratsuchende Person ihr subjektives Erleben und die individuelle Interpretation durch die religionskundliche und theologische Einordnung reflektieren und gegebenenfalls neu bewerten.
Hervorzuheben ist die gute ökumenische Zusammenarbeit, die das Projekt auszeichnet. „Kirche“ tritt in manchen Regionen öffentlich eher in katholischer Gestalt in Erscheinung, in anderen Gegenden ist sie evangelisch geprägt. Bei weltanschaulichen Konflikten ist das nebensächlich. Hier ist eine aufmerksame Beratung hilfreich, die bei Bedarf auch seelsorgliche Begleitung einschließt. Oft sind in einem „Sektenkonflikt“ familiäre, individuelle und gesellschaftliche Ebenen miteinander verknäult. In einem vertraulichen und persönlichen Gespräch können Fragen und bei Bedarf auch religionskundliche Details geklärt werden. Bei Konflikten kann vermittelt und manchmal auch seelsorgliche Hilfe gegeben werden. Regionale Ansprechpersonen mit ihren Kontaktdaten sind leicht auf dieser Seite zu finden.
Michael Utsch, 03.01.2022