Rituelle Gewalt aus psychologischer Sicht
Bei „ritueller Gewalt“ wird planmäßig und zielgerichtet Gewalt gegen Menschen ausgeübt. Sie findet in geschlossenen Gruppen statt, ist in Zeremonien eingebunden und wird ideologisch gerechtfertigt.
Nach einem psychotherapeutischen Erklärungsmodell werden die Erinnerungen an die extremen körperlichen und seelischen Schmerzen, die die Opfer ritueller Gewalt erleiden, in manchen Fällen vergessen bzw. abgespalten (Dissoziation). In den letzten Jahren häuften sich jedoch Berichte von traumatherapeutisch Behandelten, dass ihnen in der Therapie die „Erinnerung“ an einen vermeintlichen sexuellen Missbrauch suggeriert worden sei, um damit eine seelische Störung begründen zu können („false memory“, „Getäuschte-Erinnerungs-These“, vgl. Delfs 2017). Im Gegensatz dazu behaupten Vertreter der sog. „Rituellen-Gewalt-These“, dass in hohem Ausmaß körperlicher und sexueller Missbrauch in satanistischen Gruppen stattfinde (vgl. kritisch dazu Hahn 2019). Was ist aus psychologischer Sicht davon zu halten?
Dissoziation und multiple Persönlichkeit
Allgemein bedeutet „Dissoziation“ Trennung, Teilung und Spaltung und stellt das Gegenteil zur „Assoziation“ dar, was Verbindung und Verknüpfung bedeutet. Dissoziative Störungen können in einzelnen Fällen nach traumatischen Erlebnissen auftreten. Eine traumatische Bedrohung kann die Persönlichkeit durch die Abspaltung bedrohlicher Inhalte in eine Teilpersönlichkeit abwehren. Die Persönlichkeit des Menschen setzt sich aus verschiedenen emotionalen Systemen zusammen, die sich zeitweilig in inneren Konflikten befinden können. Einerseits ist es verlockend, im Garten mit Freunden trockene Äste zu verbrennen, andererseits haben die Eltern das verboten. Im Laufe der kindlichen Entwicklung gelingt aber in der Regel eine ausreichende Verknüpfung und Integration der Systeme. Wenn mehr oder weniger grundlegende Verbindungen und Verknüpfungen unterbrochen und gestört sind, wird eine dissoziative Störung diagnostiziert (vgl. Gast / Wabnitz 2017). Im gesunden Fall kann eine stabile Persönlichkeit verschiedene Teilpersönlichkeiten integrieren, sonst spricht man auch von einer multiplen („vielfältigen“) Persönlichkeit oder einer „dissoziativen Identitätsstörung“ (DIS).
Im Jahr 1980 wurde die Diagnose „multiple Persönlichkeit“ erstmalig in den Krankheitskatalog DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) der amerikanischen psychiatrischen Fachgesellschaft einbezogen, um damit das Zerfallen in verschiedene dissoziierte Persönlichkeitsanteile zu beschreiben. Schon hundert Jahre zuvor war die Vorstellung von Teilpersönlichkeiten im Zusammenhang mit Erklärungsmodellen der Schizophrenie und Hysterie-Konzepten der Psychoanalyse entwickelt worden, konnte sich aber nicht durchsetzen.
Die formale Anerkennung im DSM führte zu einer Fülle von Studien und der Gründung von Fachgesellschaften. Wie auch bei anderen Störungsbildern begannen die meisten psychotherapeutischen Forschungsaktivitäten und Behandlungsstrategien in Nordamerika, um dann mit einer zeitlichen Verzögerung von ein bis zwei Jahrzehnten auch in Europa angewendet zu werden. Allerdings orientiert sich die in Deutschland gebräuchliche Diagnostik stärker am von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebenen Diagnoseschlüssel ICD (International Classification of Diseases), der vor allem die klinische Praxis im Blick hat und interkulturelle Unterschiede mit einbezieht.
Gerade im Bereich der dissoziativen Störungen weichen beide Manuale deutlich voneinander ab (vgl. Freyberger / Spitzer 2017). Bis heute existiert keine einheitliche Klassifikation und gültige Definition davon, Diagnose und Behandlung sind umstritten. Schon vor zwei Jahrzehnten hat der Züricher Psychiater Christian Scharfetter auf kulturelle Unterschiede zwischen amerikanischen und europäischen Krankheitssystemen aufmerksam gemacht. Psychologische Begründungsmodelle seien immer „zeitgeistabhängig“ und kulturell geprägt. Der Experte sieht in der häufigen Diagnosestellung „dissoziative Störung“ in den USA eine „kulturelle Hervorbringung von psychopathologischen Störformen“. Er warnte davor, dass dieser Trend auch bald Europa erreichen könne und man dann auch hierzulande überzeugt sein werde, dass „satanistischer ritueller Missbrauch – manchmal sogar durch Außerirdische“ (Scharfetter 2000, 128) – in großem Ausmaß stattfinde.
Verdrängte oder falsche (Pseudo-) Erinnerungen?
Die neue Krankheitsdiagnose „Dissoziative Identitätsstörung“ war von Beginn an umstritten und führte zu erbitterten fachlichen Auseinandersetzungen. Ist eine Dissoziation auf eine verdrängte Traumatisierung zurückzuführen, oder können falsche (Pseudo-)Erinnerungen auch von Therapeuten induziert werden (vgl. Delfs 2017)? 1992 wurde in den USA die „False Memory Syndrome Foundation“ gegründet. Die Interessensgemeinschaft besteht hauptsächlich aus Personen, die angeben, fälschlicherweise als Täter sexuellen Missbrauchs beschuldigt worden zu sein. Auch in Deutschland gibt es seit 2012 eine ähnliche Arbeitsgemeinschaft (www.false-memory.de). In den USA kam es zu ca. 200 Gerichtsverfahren, weil insbesondere Therapeuten von Patientinnen angezeigt wurden, die ihre früheren Angaben über sexuellen Missbrauch oder über dissoziative Symptome widerriefen und von den Therapeuten wegen Fehlbehandlungen nun hohen Schadensersatz forderten (vgl. Gast / Wabnitz 2017, 41). Nachdenklich macht darüber hinaus die Tatsache, dass sich KZ-Überlebende, Verbrechensopfer oder Kriegsteilnehmer meistens genau an das, was geschehen ist, erinnern können, bei ritueller Gewalt aber das traumatische Ereignis durch wiedererlangte „Erinnerungen“ neu rekonstruiert werden muss. Die Gedächtnisforschung belegt, dass traumatische Erinnerungen robuster und nicht fragiler sind als andere Erinnerungen, wie es die Diagnose „Dissoziative Störung“ voraussetzt (vgl. Shaw 2016).
Volbert (2014) empfiehlt, zur Unterscheidung von wahren und falschen Erinnerungen ihren Entstehungsprozess zu rekonstruieren. Keinesfalls sei es fester Bestandteil von seriösen Therapien, aufkommende Erinnerungsbilder unhinterfragt als historisch wahr aufzufassen. Ebenfalls weist sie auf die Gefahren suggestiver Befragungstechniken hin. Der angemessene Umgang mit falschen und wiedererlangten Erinnerungen ist therapeutisch höchst anspruchsvoll und komplex. Fachliche Positionspapiere empfehlen im therapeutischen Umgang mit Berichten über Traumatisierungen, „skeptisch zu glauben und empathisch zu zweifeln“ (Gast / Wabnitz 2017, 41).
Staatliche Maßnahmen gegen sexuellen Missbrauch
Eine Fremdbestimmung widerspricht dem Menschenrecht der freien Selbstentfaltung. Sexuelle Gewalt und sexueller Missbrauch entstehen in sozialen Kontexten, in denen Machtgefälle, z. B. zwischen Leiter und Gruppe oder Lehrer/Meister und Schüler, ausgenutzt werden. Auch in religiöse Gemeinschaften stellt das ein Problem dar. Gewalt und Missbrauch finden hier wie da zumeist im Verborgenen statt, und die gesellschaftliche Stigmatisierung führt nach wie vor zu einem hohen Schamgefühl bei den Opfern. Deshalb setzte die Bundesregierung eine Missbrauchsbeauftragte und später eine unabhängige Kommission ein, um das Ausmaß der vertuschten Straftatsachen zu erfassen und geeignete Präventionsmaßnahmen zu ergreifen. Im Zentrum steht dabei die Information, Sensibilisierung und Aufklärung zu Themen der sexualisierten Gewalt gegen Kinder, Jugendliche und Erwachsene (vgl. https://beauftragter-missbrauch.de).
Religiöse Gruppen standen wegen ihrer hohen ethischen Ideale und Reputation zunächst nicht im Fokus. Nachdem zunächst in der katholischen Kirche, später auch in vielen anderen Religionen und Weltanschauungsgemeinschaften erhebliche Missbrauchsfälle ans Tageslicht kamen, werden seit 2010 sexuelle Übergriffe auch von Leitern religiöser, spiritueller und pädagogischer Gruppen und Organisationen öffentlich intensiv diskutiert. Zur Unterstützung von Betroffenen wurde in Deutschland ein „Fonds SexueIler Missbrauch“ eingerichtet. Bei der Antragstellung zur Unterstützung haben dort zwischen 2013 und 2018 476 (!) Antragsteller „ritueller/sektenmäßiger Missbrauch“ angegeben (Fachkreis 2018, 4). Allerdings wurde dort „sektenmäßig“ nicht genauer definiert, und es wurden keine präziseren Angaben darüber gemacht. Im Bilanzbericht 2019 der unabhängigen Kommission ist ein eigenes Kapitel dem sexuellen Missbrauch „in organisierten rituellen Strukturen“ gewidmet (117-130). Diese Kategorie verwendet die Kommission, wenn „die organisierten Täter und Täterinnen für ihr kriminelles Handeln eine (schein-) ideologische oder religiös geprägte Rechtfertigung oder Sinngebung, zum Beispiel sogenannte satanistische oder faschistische Ideologien ... benutzen“ (118). Von 914 ausgewerteten Anhörungen und Berichten der Kommission wurden 42 Fälle (39 Frauen, drei Männer) auf Kontexte ritueller Gewalt zurückgeführt. Diese Zahlen haben jedoch wenig Aussagekraft, weil die Selbstaussage „ritueller/sektenmäßiger Missbrauch“ nicht überprüfbar ist.
Sexueller Missbrauch wird im Kontext von Gruppenritualen zu ritueller Gewalt. So schlimm jeder einzelne Fall von rituellem Missbrauch ist – das reale Ausmaß in satanistischen Gruppen dürfte schon deshalb gering sein, weil es überhaupt nur sehr wenige aktive Kleingruppen gibt. Außerdem gibt es keine polizeilich und juristisch belastbaren Fakten über diesbezügliche Straftaten (vgl. Hahn 2019).
Fazit
Eine besondere Herausforderung besteht darin, die Vertreter der „Rituellen-Gewalt-These“ und die der „Getäuschten-Erinnerungs-These“ respektvoll und möglichst vorurteilsfrei miteinander ins Gespräch zu bringen, um den Patienten helfen zu können. Angesichts von sich subtil ausbreitenden Verschwörungstheorien und den Einsichten der modernen Gedächtnisforschung, dass Erinnerungen leicht zu täuschen sind, darf der „Rituelle-Gewalt-These“ nicht vorschnell gefolgt werden, auch wenn sie in einem Einzelfall zutreffen mag. Psychotherapeuten dürfen nicht auf Scheinerinnerungen hereinfallen oder diese gar selber konstruieren.
Literatur
Delfs, Hans: False Memory. „Erinnerungen“ an sexuellen Missbrauch, der nie stattgefunden hat, Lengerich 2017.
Fachkreis „Sexualisierte Gewalt in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen“ beim FMFSFJ (Hg.): Sexualisierte Gewalt in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen, Berlin 2018.
Freyberger, Harald / Spitzer, Carsten: Dissoziation: Begriffsentwicklung und aktuelle Konzepte und Fragen, in: Psychotherapie im Dialog 3/2017, 18-23.
Gast, Ursula / Wabnitz, Pascal: Dissoziative Störungen erkennen und behandeln, Stuttgart 2017.
Hahn, Andreas: Rituelle Gewalt in satanistischen Gruppen – ein populärer Mythos?, in: MD 7/2019, 243-250.
Scharfetter, Christian: Opfer des Satanskultes – Kausalattribution in autobiographischer Narration, in: Krankenhauspsychiatrie 11/2000, 128-133.
Shaw, Julia: Das trügerische Gedächtnis. Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht, München 2016.
Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs (Hg.): Bilanzbericht 2019, Berlin 2019.
Volbert, Renate: Wie Pseudoerinnerungen entstehen können, in: Psychotherapie im Dialog 14/2014, 82-85.
Michael Utsch