Rituelle Gewalt in satanistischen Gruppen – ein populärer Mythos?
Der Beitrag ist als pdf-Datei abrufbar: Materialdienst der EZW 7/2019, 243 - 250
Die These von der Existenz satanistischer Netzwerke, die im großen Stil Menschen rituell foltern und Kinder töten und die unsere Gesellschaft einschließlich polizeilicher und juristischer Behörden unterwandert haben – im Folgenden „Rituelle-Gewalt-These“ genannt –, klingt abwegig. Sie wird zwar gerne von Medien aufgegriffen, in Fachkreisen aber äußerst kontrovers diskutiert. Vertreten wird sie von einigen Traumatherapeutinnen und -therapeuten, psychosozialen Beratungsstellen und in Selbsthilfegruppen. Eine besondere Rolle fällt dabei der Beratungsstelle beim Bistum Münster zu, wo entsprechende Tagungen organisiert werden und ein Netzwerk von Vertretern der These aus unterschiedlichen Professionen entstanden ist.1
Kritik der Rituellen-Gewalt-These findet sich vor allem bei kirchlichen Weltanschauungsbeauftragten, bei der AGPF (Bundesverband Sekten- und Psychomarktberatung), der GWUP (Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften, mit der Kriminalpsychologin Lydia Benecke) oder der Sekten-Info NRW in Essen. Sie berufen sich auf die Möglichkeit von therapieinduzierten Erinnerungen („false memory“) und besonders auf das Fehlen sämtlicher Indizien in allen untersuchten Fällen. Sektenmäßig organisierte rituelle Gewalt oder getäuschte Erinnerungen – was stimmt also? Hier ist nicht der Ort, um die der Rituellen-Gewalt-These zugrunde liegenden traumatherapeutischen Diagnosen und Therapien psychologisch einzuschätzen oder gar zu bewerten. Stattdessen werden im Folgenden die grundlegenden Argumentationsstrukturen der These und ihre weltanschaulichen Implikationen kritisch geprüft.
Vertreterinnen und Vertreter der Rituellen-Gewalt-These
Wer in Deutschland zum Thema rituelle Gewalt forscht, wird beim Bistum Münster fündig. Dort wird seit 2010 auf verschiedenen Tagungen die These von satanistisch organisiertem sexuellem Missbrauch in rituellem Gewand vorgestellt. Die in den Programmen genannten Vortragenden tauchen dort wie auch in den entsprechenden Veröffentlichungen2 immer wieder auf. Es handelt sich bei den Vertreterinnen und Vertretern der Rituellen-Gewalt-These offenbar um einen festen Kreis. Sie kennen sich und zitieren sich in den einschlägigen Publikationen immer wieder gegenseitig. Wurde anfangs noch die Frage nach der Existenz großer, die Gesellschaft unterwandernder Netzwerke ritueller Gewalttäter diskutiert,3 fehlten solche kritischen Stimmen bei den Nachfolgetagungen ganz.4 Die Existenz solcher Netzwerke wird aufgrund von Selbstaussagen von Therapeutinnen und Therapeuten und selbstdefinierten Betroffenen als gegeben vorausgesetzt. Einige empirische Studien dienen zum Nachweis für die Existenz und mögliche Größe dieser satanistischen Netzwerke. 2005 erhoben Brigitte Bosse und Annelie Wagner Daten „zur Situation ritueller Gewalt in Rheinland-Pfalz“. Dabei wurden 63 als glaubwürdig eingestufte Fälle von rituellen Gewalterlebnissen gemeldet. In 23 Fällen wurden „Menschenopfer“ gemeldet, die Initiatoren vermuten sogar, dass „die Anzahl der geopferten Menschen ein Vielfaches betragen kann“.5 Die Studie von Susanne Nick et al. über „Organisierte und rituelle Gewalt in Deutschland“ wertete 2018 165 Fälle von rituellen Gewalterfahrungen aus, die in Selbstauskünften erfragt wurden.6
Traumatherapeutische Begründungen
Den psychotherapeutischen Hintergrund dieser Ansätze bildeten Traumatherapien, die Dissoziative Identitätsstörungen (DIS) auf spezifische Formen der Bewusstseinsspaltung und -manipulation zurückführen. Frühkindliche Erfahrungen mit extremer Gewalt, die weit über „normalen“ sexuellen Missbrauch hinausgehen, würden die sich entwickelnde Persönlichkeit dissoziativ in verschiedene innere Anteile aufspalten. Nur extreme Gewalterfahrungen – Gruppenmissbrauch in organisierter und lang anhaltender Form, der ein Gefühl absoluter Hilflosigkeit verursache – könnten eine solche Traumatisierung auslösen.
In Therapiesitzungen würden diese dissoziierten Erinnerungen zutage gefördert. In den Beschreibungen der Patientinnen und Patienten seien Praktiken von rituellem Missbrauch zu erkennen. Die Schilderungen seien nach Aussagen der Therapeuten und Therapeutinnen sehr glaubwürdig, sodass von einem tatsächlichen Hintergrund ausgegangen werde müsse. Die so entstandenen Persönlichkeitsanteile könnten von den Täterinnen und Tätern gezielt für ihre Zwecke trainiert und genutzt werden.7
Daher wird – bezugnehmend vor allem auf die Arbeiten der psychologischen Psychotherapeutin Michaela Huber – eine unmittelbare Verbindung zwischen DIS und ritueller Gewalt gesehen. „Multiple Persönlichkeiten“ seien „Überlebende extremer Gewalt“.8 Den Tätern gelinge es, bei ihren Opfern eine Amnesie hervorzurufen, eigentlich sogar eine Amnesie der Amnesie, die auch verhindere, dass die Opfer sich an das Fehlen von Erinnerungen erinnern. Aufkommende Zweifel der Traumatisierten an diesen Erlebnissen werden von den Therapeuten als Beweis für die Richtigkeit der Diagnose gedeutet, denn die Zweifel zeigten, dass die Täter eine Bewusstseinskontrolle ausüben und über Mind-Control-Programme sogar relativ komplexes Verhalten steuern könnten.
Die Möglichkeit, dass in der Traumatherapie diese Erlebnisse fälschlich induziert sein könnten (false memory syndrome), wird als „Täterpropaganda“ der „False-Memory-Bewegung“ zurückgewiesen. Aufgrund eines bestimmten, mit Gewaltfantasien bestückten Bildes vom Satanismus werden die Täternetzwerke in satanistischen Kreisen vermutet. In jüngerer Zeit werden sie aber allgemeiner destruktiven Kulten zugerechnet.
Diskrepanz zwischen Selbstaussagen und gesicherter Datenlage
„Wir beziehen uns in unserer Arbeit mit den Opfern ritueller Gewalt auf reale Fälle. Alle unsere Veröffentlichungen und Beiträge basieren auf Augenzeugenberichten“, sagte Brigitte Hahn in einem Interview.9 Damit wird das Grundproblem auf den Punkt gebracht: Alle Hinweise beruhen auf nicht geprüften Selbstaussagen. Wo doch kriminalpolizeilich und staatsanwaltlich ermittelt wurde – teilweise mit enormem Personalaufwand und außerordentlich akribisch –, blieben die Untersuchungen ohne Ergebnis oder widersprachen sogar explizit den Berichten.10
Diese Ergebnisse durchziehen seit Jahren die gesamte Diskussion. Bereits auf einer Münsteraner Vorgängertagung 2010 merkte Axel Petermann vom Landeskriminalamt Bremen kritisch an, „[d]er hohen Zuschreibung von Glaubwürdigkeit durch Therapeutinnen und Therapeuten an die Aussagen der Betroffenen stehe aus Sicht der Strafverfolgungsbehörden die Tatsache gegenüber, dass trotz intensiver Ermittlungen bisher keine verifizierbaren Angaben über derartige satanistische Netzwerke ermittelt werden konnten“11. Warum Betroffene trotzdem an ihrer Sicht der Dinge festhalten, ist möglicherweise keine kriminalpolizeiliche, sondern eher eine psychologisch zu klärende Frage. Aus dem Fehlen jeglicher Fakten allerdings den Schluss zu ziehen, dass auch die beteiligten Behörden mit involviert seien, führt zu einer Art von argumentativer Selbstimmunisierung, wie sie sonst nur in Verschwörungstheorien zu finden ist.
Ebenso wenig ist es hilfreich, wenn bei bekannt gewordenen Fällen von organisiertem Kindesmissbrauch satanistische oder rituelle Kontexte in Erwägung gezogen werden. Ein absichtsvolles Verdecken von Straftatbeständen vermutete die Organisatorin der Münsteraner Tagungen, Brigitte Hahn, angesichts des Verschwindens von Beweismaterialien und ungenauer Ermittlungspraxis beispielsweise im Fall Lügde.12 Das „Infoportal Rituelle Gewalt“, das aus den Münsteraner Tagungen hervorgegangen ist, behauptet, eine Vielzahl von „Beweisen“ aufführen zu können. Tatsächlich aber finden sich dort beispielsweise Beate Tschäpe und der NSU, ein esoterischer Sektenführer („Lichtoase“, „Ramtha“), dem Vergewaltigungsvorwürfe gemacht wurden, bis hin zur Colonia Dignidad und sogar zu Anneliese Michel. Der Kontext suggeriert, dass auch in diesen Fällen rituelle Gewalt vorgelegen habe. Tatsächlich finden sich aber keinerlei Fakten dafür, dass der Täterkreis über Einzeltäter bzw. kleine Gruppen hinausgeht.13
Eine wirklich kritische Auseinandersetzung ist zumindest bei den Tagungen in Münster dadurch kaum möglich, dass am Programm immer wieder „Augenzeugen“ mitwirken. Schon aus therapeutischen Gründen ist eine Diskussion über induzierte Erinnerungen in diesem Rahmen ausgeschlossen.
Das Thema Satanismus in der Weltanschauungsarbeit
Auch aus Sicht der Weltanschauungsarbeit muss die Existenz großer Täternetzwerke bezweifelt werden. Es ist – besonders durch die mediale Präsenz – in der öffentlichen Wahrnehmung ein Bild entstanden, das von einer viel weiteren Verbreitung satanistischer Phänomene ausgeht, als dies tatsächlich der Fall ist. Okkulte Gemeinschaften sind in der Regel eher klein; selbst eine bekannte Gruppe wie die „Fraternitas Saturni“ dürfte nur etwa 50 Mitglieder haben, sogar zur „Thelema Society“ rechnen sich maximal 150.14 Eine mir bekannte geschlossene Facebook-Gruppe bewegt sich bei 40 Mitgliedern. Bei diesen beschränkten Ressourcen dürfte die immer wieder erzählte Verfolgung möglicher Aussteiger kaum möglich sein.15 Satanistische Gruppen bleiben mit ihren ritualmagischen Praktiken im Verborgenen. Ihre Themen sind grenzenlose Freiheit und Sinnenfreude, oft verbunden mit der Vorstellung, anderen Menschen überlegen zu sein. Erscheinungsformen wie Schmierereien an Kirchen, Friedhofsstörungen, Vandalismus oder auch nur das Tragen provokanter Symbole (Pentagramm, umgedrehte Kreuze) sind nicht automatisch mit satanistischen Einstellungen oder Gruppierungen zu identifizieren. Teilweise ist es Modeerscheinung oder Marketinginstrument (wie beispielsweise bei vielen Vertretern des Black Metal) oder eine (pubertäre) Lust an Provokationen. Schwarze Kleidung und bleiche Schminke gehören meistens dazu, sind aber vor allem Kennzeichen der Gothic-Szene, die sich vom Satanismus abgrenzt, aber natürlich fließende Übergänge dorthin hat.
Auch im religiös begründeten Satanismus entspringt die Lust am Bösen vor allem einem Gefühl der totalen Entgrenzung und der Entwertung aller Werte. Sie führt aber nur selten zu kriminellen oder menschenverachtenden Formen. Allerdings können sich im Kontext von psychotischen Krankheitsbildern diese Vorstellungen durchaus mit kriminellen Handlungen verbinden. Hier dient der Satanismus als Rahmen und Verstärker, nicht aber als Kriminalitätsursache. Das gilt beispielsweise für die beiden „Satansmorde von Sondershausen und Witten“.
Ein differenzierter weltanschaulicher Blick auf satanistische Phänomene bietet also keinen Anhaltspunkt für die Rituelle-Gewalt-These.
„Satanic panic“ und rituelle Gewalt
Die Idee von einem die Gesellschaft unterwandernden satanistischen Netzwerk ist nicht neu. Untersuchungen im angelsächsischen Sprachraum haben vor Jahrzehnten bereits eine medial verbreitete Verschwörungstheorie ausgemacht, die sich all der Bilder und Motive von Vergewaltigungen und Kinderopfern bediente, die wir jetzt bei der Rituellen-Gewalt-These wiederfinden.16 Bereits „Rosemary‘s Baby“ (1968) zeigte die Grundidee, dass gesellschaftlich einflussreiche Schlüsselpersonen ein satanistisches Netzwerk bilden würden. In diesem Film wie auch 1983 in „The Exorcist“ sind bereits viele Motive aus späteren Erzählungen über angeblich selbst erlebte satanistische Rituale zu finden. Auch schon vor der digitalen Vernetzung gab es also genug Zugangsmöglichkeiten zu diesen Bildern, die fortan satanistisch organsierte Gewalt zu beschreiben beanspruchten. Diese Filme wie auch nachweislich auf Fiktionen beruhende Bücher wie das 1980 erschienene Buch „Michelle Remembers“ beförderten in den USA eine „satanic panic“, die Vorstellung von hoch gefährlichen satanistischen Gruppen mit großem gesellschaftlichem Einfluss. „Michelle Remembers“ war das erste Buch, das rituellen sexuellen Missbrauch beschrieb. Es behauptet, die Erinnerungen der Patientin Michelle Smith zu dokumentieren, die bei dem Psychiater Lawrence Pazder auftauchten. Zahlreiche Inkonsistenzen wurden im Laufe der Zeit aufgedeckt, und selbst Pazder räumte ein, dass die Frage nach der Wahrheit keine Rolle spiele.17
Die Folgen der „satanic panic“ waren umfangreiche Prozesse zu Vorwürfen von groß angelegtem, organisiertem satanistischem Missbrauch, vor allem von Kindern. An der McMartin-Schule (Kalifornien) sollen in den 1980er Jahren 360 von 400 Schülerinnen und Schülern Opfer gewesen sein. Im Laufe des Prozesses erkannte man aber die hoch suggestiven Fragestellungen, und alle Beschuldigten wurden freigesprochen – nachdem sie aber teilweise mehrere Jahre in Untersuchungshaft gesessen hatten.
Ein Beispiel für viele: Im Video „Höllenleben 2: Ritueller Missbrauch“18 berichtet ein Opfer von einer Grabschändung (ab 19:38) – und man fragt sich: Warum wurden von niemandem Spuren einer Grabschändung gefunden? Hat bei einer „frisch verstorbenen männlichen Leiche“ (19:51) niemand von den Angehörigen das bemerkt? Keiner, der mal wieder zum Grab ging? Kein Friedhofsgärtner, der nach einem jüngst angelegten Grab schaute?
Fazit: Empfehlungen für einen angemessenen Umgang
Grundsätzlich bleibt festzuhalten – vor allem gegen alle Vorwürfe einer „Täterpropaganda“: Ja, leider gibt es zahlreiche Missbrauchsfälle und sadistische Gewalt! Diese findet auch in organisierter, netzwerkartiger Form statt! Gerade erfolgreiche polizeiliche Ermittlungen wie jüngst bei der Darknet-Plattform „Elysium“ bestätigen dies. Sie zeigen aber zugleich, dass solche Netzwerke auf Dauer nicht unentdeckt bleiben. Je größer die Szene, desto wahrscheinlicher ist ihre Aufdeckung. Fehlende Ermittlungsergebnisse aber auf die große Macht ritueller Netzwerke zurückzuführen und den Kritikern dieser Thesen eine „Täterperspektive“ zu unterstellen – oder wie jüngst im Fall Lydia Benecke ihre therapeutische Arbeit mit Straftätern als Zeichen ihrer Identifikation mit diesen zu deuten! –, verhindert eine kritische Aufarbeitung und wirkliche Hilfe für die Betroffenen.
Und ja, es gibt auch religiös motivierte sexuelle Gewalt! Aber die Existenz eines riesigen satanistischen Netzwerks, das unsere Gesellschaft an den entscheidenden Stellen unterwandert, ist nicht zu belegen.
In der weltanschaulichen Beratungsarbeit begegnen uns auch Menschen, die frühkindliche Missbrauchserfahrungen mitbringen, möglicherweise auch in organisierter Form. Sie brauchen seelsorgerliche Begleitung und gute therapeutische Hilfe. Aber wenn sie bei ihren Beschreibungen auf offensichtliche Fälschungen wie etwa das Buch „Lukas – 4 Jahre Hölle und zurück“ oder auf Szenen aus entsprechenden YouTube-Clips zurückgreifen und daraus stereotype Bilder oder Szenen entnehmen, dürfen sie darin nicht bestärkt werden.
Beratungsarbeit umfasst nicht die Straftätersuche. Mir fiel – besonders auf der Tagung 2016 in Münster, aber auch bei verschiedenen Gesprächen – das ausgeprägte Interesse an den Täterkreisen und deren Aufdeckung gerade vonseiten der Traumatherapeutinnen und -therapeuten auf, ohne dass es mit dem therapeutischen Ziel der Integration der verschiedenen Persönlichkeitszustände verbunden war. In mehreren Begegnungen, auch mit Traumtherapeutinnen, schlug mir in den Gesprächen darüber hinaus ein massives Verschwörungsdenken entgegen.19
Der psychologische Laie ist nicht kompetent zu beurteilen, ob die Kontroversen um das Erscheinungsbild DIS abschließend geklärt sind, ob DIS also durch traumabezogene Abspaltungen oder doch zumindest auch als iatrogen in therapeutischen Sitzungen entstanden erklärbar ist. Zweifellos müssen ja die – oft zunächst eher diskreten Phänomene – aktiv erfragt werden. Dabei muss man sich meines Erachtens notwendigerweise die Frage nach möglichen induzierten Erfahrungen durch die Therapie stellen – zumal wenn im Therapieverlauf die dissoziativen Merkmale verstärkt auftreten. Zumindest aber darf eine grundsätzliche Ablehnung der Frage nach induzierten Erinnerungen nicht damit begründet werden, dass die „False Memory Syndrome Foundation“ in den USA interessengeleitet von Personen gegründet wurde, denen man sexuellen Missbrauch vorgeworfen hatte.20 Die Möglichkeit der Manipulation von Erinnerungen scheint grundsätzlich doch hinreichend belegt.21 Dazu müssten sich aber die Therapeutinnen und Therapeuten einer Außenperspektive aussetzen, was bislang noch nicht geschehen ist. Die einzige Fremdsicht, die mir in den Begegnungen im Zusammenhang der Rituellen-Gewalt-These begegnet ist, war die der polizeilichen Ermittlungsarbeit. Und hier war auffällig, dass die ermittelnden Behörden trotz fehlender Indizien immer betonten, das heiße nicht, dass nichts passiert sei. Dieser Hinweis ist mit Blick auf eine sensible Polizeiarbeit zweifellos richtig. Allerdings spielt man damit den Verschwörungstheoretikern in die Hände. Die Bezeichnung von Kritikern als „False-Memory-Bewegung“ qualifiziert sie als reine Lobby-Gruppe ab und spricht ihnen jeden psychologischen Erkenntniswert ab.
Trotz mangelnder Belege für die Existenz einschlägiger Netzwerke gehen die Vertreter der Rituellen-Gewalt-These weiterhin ungebrochen von der Realität der geschilderten Erlebnisse aus. Erfolgreich haben sie darauf hingearbeitet, dass im aktuellen Bilanzbericht der vom Bundeskabinett beauftragten „Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“ dem „Sexuellen Kindesmissbrauch in organisierten rituellen Strukturen“ ein eigenes Kapitel gewidmet ist.22 Auch dieser Bericht bezieht sich in falscher Weise auf den Endbericht der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“, wenn er dort eine Bestätigung der Rituellen-Gewalt-These herausliest.23
Auch dieser Bilanzbericht mahnt den fehlenden offenen Diskurs an.24 Eine kritische Position sieht sich allerdings einer besonders brisanten Problematik ausgesetzt: Der – in den meisten Fällen innerfamiliäre – Kindesmissbrauch wurde lange tabuisiert und den Opfern nicht geglaubt. Diese Erfahrungen werden jetzt auf die Kritiker der Rituellen-Gewalt-These übertragen, und man wirft nun ihnen eine Identifikation mit den Tätern bzw. „Täterpropaganda“ vor.25 Dem kann man sich nicht so einfach entziehen. Eine solche Haltung erschwert aber einen kritischen Diskurs. Kritsch und weiterführend wird man nur diskutieren können, wenn die eigenen Binnenperspektiven aufgegeben und interdisziplinär unterschiedliche Gesichtspunkte einbezogen werden. Konkret hieße das, dass bei Fachtagungen wie in Münster der Einbezug auch konträrer Positionen unter Absehung von Betroffenen sinnvoll wäre. Im bisherigen Format dienen sie nur zur Bestätigung der eigenen Position.
Festzuhalten bleibt: Eine Kritik an der Rituellen-Gewalt-These stellt nicht infrage, dass es sexuellen Missbrauch von Kindern auch in organsierter Form gibt. Auch wird damit nicht grundsätzlich ein traumatisch bedingtes Entstehen dissoziierter Identitäten bestritten.
Die Opferperspektive einzunehmen, bedeutet aber nicht, diese Perspektive zur eigenen zu machen. Wer Kritik übt, muss primär die Gesundheit und das Wohlergehen betroffener und traumatisierter Menschen im Blick haben. Strafverfolgung ist Sache der zuständigen Behörden. Deshalb hilft das in der Rituellen-Gewalt-These aufgebaute Szenario großer satanistischer Gebilde, die Menschen foltern, Kinder töten und gesellschaftliche Institutionen unterwandern sollen, diesen Menschen kaum weiter und bestärkt sie möglicherweise noch in ihrer Perspektive absoluter Hilflosigkeit.
Es bedarf folglich eines kritischen Diskurses, der die Diskrepanz zwischen polizeilichen Ermittlungen und Opfererleben reflektiert. Verschwörungsdenken ist hier weniger hilfreich als die Überlegung, inwiefern diese Diskrepanz psychologisch erklärt werden kann. Dazu gehört zunächst eine transparente und vorurteilsfreie Diskussion über mögliche induzierte Erinnerungen wie über das Krankheitsbild DIS. Erfahrungen mit einer suggerierten DIS, wie sie in der Beratungsarbeit auftauchen, sollten eine Warnung sein, dies nicht vorschnell abzulehnen.
Ebenso sollten Erkenntnisse über okkulte Gruppen, über deren Verbreitung und Ideologie und deren mögliches Gewaltpotenzial einbezogen werden und das Thema nicht einem auf aufregende Effekte setzenden medialen Markt überlassen werden. Das alles wird dann weniger spektakulär ausfallen, wäre aber für alle Betroffenen hilfreich.
Andreas Hahn, 01.06.2019
Anmerkungen
1 Eine Liste findet sich hier: www.infoportal-rg.de/home.
2 Beispielhaft seien genannt: Claudia Fliß / Claudia Igney (Hg.): Handbuch Rituelle Gewalt: Erkennen – Hilfe für Betroffene – Interdisziplinäre Kooperation, Lengerich u. a. 2010; Ulla Fröhling: Vater unser in der Hölle. Inzest und Missbrauch eines Mädchens in den Abgründen einer satanistischen Sekte, München 2015; Arbeitskreis Rituelle Gewalt der Bistümer Osnabrück, Münster und Essen (Hg.): Rituelle Gewalt. Das (Un)heimliche unter uns, Münster 2014.
3 So bei der ersten Münsteraner Tagung 2010, vgl. Matthias Neff: „Rituelle Gewalt: Vom Erkennen zum Handeln“. Ein Tagungsbericht, in: MD 7/2010, 255-262.
4 Vgl. Andreas Hahn: Streitpunkt „rituelle Gewalt“. Ein Tagungsbericht, in: MD 12/2016, 458-460.
5 Datenerhebung zur Situation ritueller Gewalt in Rheinland-Pfalz. Erweiterte Replikation der Studie des Arbeitskreises „Rituelle Gewalt in NRW“ 2005.
6 Susanne Nick / Johanna Schröder / Peer Briken /Hertha Richter-Appelt: Organisierte und rituelle Gewalt in Deutschland. Kontexte der Gewalterfahrungen, psychische Folgen und Versorgungssituation, in: Trauma & Gewalt 3/2018, 244-261.
7 „Betroffene schildern, dass Täter im Kontext organisierter und ritueller Gewalt das Wissen um Dissoziation verwenden, um die Persönlichkeit ab dem frühen Kindesalter über Einsatz von Gewalt absichtsvoll aufzuspalten und die gezielt entstandenen Persönlichkeitsanteile für spezifische Aufgaben zu nutzen“ (ebd., 248).
8 So ein Buchtitel Hubers, die eine zentrale Rolle für diejenigen spielt, die von der Existenz solcher Gewalttäter-Netzwerke überzeugt sind. Bereits bei der ersten Tagung in Münster 2010 stellte Neff mehrmals fest, dass bereits die bloße Infragestellung solche Netzwerke auf der Tagung für große Unruhe sorgte. Die anwesenden Therapeutinnen und Therapeuten gingen offenbar davon aus, „dass das Vorliegen einer dissoziativen Störung als Beweis für die Richtigkeit der Aussagen der Betroffenen angesehen werden kann“ (Neff: „Rituelle Gewalt: Vom Erkennen zum Handeln“ [s. Fußnote 3], 256).
9 www.kirche-und-leben.de/artikel/soll-man-ueber-satanismus-und-rituelle-gewalt-berichten (Abruf der angegebenen Internetseiten: 21.5.2019). Hier bezieht sie sich zu Unrecht auf den Endbericht der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“. Dort heißt es nämlich: „Andererseits besteht aufgrund der ungesicherten Datenlage auch kein Grund zur Dramatisierung einer ‚satanistischen Gefahr‘. Es gilt zu betonen, daß es keine gesicherten Ergebnisse darüber gibt, daß es weit verbreitet und vor allem in ‚satanistischen‘ Zusammenhängen zu rituellem Mißbrauch kommt.“
10 Wenn etwa eine Betroffene die Polizei telefonisch verständigte, sie würde gerade aus ihrer Wohnung entführt, während gleichzeitig eine Observation lief, vgl. Wolfgang Bausch, www.religio.de/dialog/299/17_09-12.htm.
11 Wiedergegeben von Matthias Neff: „Rituelle Gewalt: Vom Erkennen zum Handeln“ (s. Fußnote 3), 259.
13 Vgl. www.infoportal-rg.de/juristische-fragen-und-antworten/ist-rituelle-gewalt-in-deutschland-strafbar. Wenn man die angegebenen Links verfolgt, zeigt sich dasselbe Bild. Beispielsweise wird in einer Antwort der Bundesregierung vom 13.7.1998 auf eine Kleine Anfrage keinerlei Verbindung zwischen organisierter Kinderpädophilie und ritueller Gewalt gesehen, weder in Deutschland noch in den umliegenden Ländern. Vgl. http://dipbt.bundestag.de/dip21.web/bt?rp=http://dipbt.bundestag.de/dip21.web//searchProcedures/simple_search.do?nummer=13/11275%26method=Suchen%26wahlperiode=%26herausgeber=BT.
14 So der Journalist Rainer Fromm, in Neff: „Rituelle Gewalt: Vom Erkennen zum Handeln“ (s. Fußnote 3), 256.
15 Vgl. Georg Otto Schmid, www.relinfo.ch/satanismus/berichtetxt.html.
16 Die folgenden popkulturellen Hinweise verdanke ich der Kriminalpsychologin Lydia Benecke.
17 Vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Michelle_Remembers. „Does it matter if it was true, or is the fact that Michelle believed it happened to her the most important thing?“ Pazder: „Yes, that‘s right. It is a real experience. If you talk to Michelle today, she will say, ‚That what I remember‘. We still leave the question open. For her it was very real.“
19 Bis dahin, dass mir eine Liste ritueller Gewalttäter, die in einer Großstadt ein Netzwerk bilden würden, zugespielt wurde.
20 So z. B. im Statement des Betroffenenrates der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, https://beauftragter-missbrauch.de/betroffenenrat/aktuelles/detail/statement-des-betroffenenrates-zum-umgang-mit-ritueller-gewalt. Die anfangs grundsätzliche Negierung des Krankheitsbildes DIS bei der FMSF zugunsten einer iatrogenen Begründung wird dort auch heute differenzierter gesehen, www.fmsfonline.org/?faq=faq. Aufgrund des allerdings nicht ganz unproblematischen, weil interessengeleiteten Zusammenschlusses bei der Gründung der FMSF sollte man vielleicht besser von „Phantom-Erinnerungen“ sprechen, in Analogie zu Phantom-Schmerzen.
21 S. hierzu z. B. Daniel Schacter: Wir sind Erinnerung, Gedächtnis und Persönlichkeit, Hamburg 1999; Richard J. McNally: Remembering Trauma, Cambridge (Mass.) 2005; Nicholas P. Spanos: Multiple Identities & False Memories: A Sociocognitive Perspective, Washington 1996. Zu „false memories“ s. Elizabeth F. Loftus: Memory Faults and Fixes, in: Issues in Science and Technology 18, 2002, 41-50.
22 www.aufarbeitungskommission.de/bilanzbericht_2019, 117ff.
23 Vgl. ebd., 118. Vgl. oben, Fußnote 9.
24 Vgl. ebd., 125.
25 Mit dieser Begründung startete Michaela Huber über ihre Support-Liste eine Kampagne, die einen kritischen Vortrag von Lydia Benecke diskreditieren sollte und durch zahlreiche Mails den Veranstalter Club Voltaire in Frankfurt zu einer kurzfristigen Absage bewogen.