Rituelle-Gewalt-Theorie: Schweizer Dokumentarfilm löst heftige Reaktionen aus
Starkes Echo löste ein Dokumentarfilm aus, der am 14. Dezember 2021 im staatlichen Schweizer Rundfunk (SRF) gesendet wurde. Unter anderem wurde ein Oberarzt einer psychiatrischen Privatklinik vom Dienst suspendiert, nachdem er behauptet hatte, in dem kleinen Land würden Ritualmorde im Namen Satans verübt. In dem Film gingen die Journalisten Robin Rehmann und Ilona Stämpfli Gerüchten nach, es gebe in der Schweiz Elitenverschwörungen, die in satanistischen und anderen Ritualen Kinder foltern, missbrauchen, gezielt ihre Persönlichkeit spalten (Dissoziative Identitätsstörung), sie ermorden und essen.1
Am Anfang ihrer Recherche steht der Verein CARA (Care About Ritual Abuse, www.verein-cara.ch). 1990 von der Pfarrerin Ruth Mauz gegründet, informiert CARA unter anderem über Satansanbeter, rituellen Missbrauch und gespaltene Persönlichkeiten. Im Film beschreibt der derzeitige Vereinsvorsitzende Fritz Bamert die Kreise, in denen Rituelle Gewalt (RG) ausgeübt werde, als eine „Parallelwelt, die professionell organisiert und geschützt“ sei. Mitglieder seien „Mittelschicht oder elitär, Satanisten, Freimaurer“, die „an Schlüsselstellen sitzen und kein Interesse haben, dass das offiziell bekannt wird“. Die Rituale bestünden im „Quälen bis zum Tod, Blut trinken und das Fleisch essen“. Das deckt sich mit den typischen Elementen von RG.
Allerdings vermeiden heute die meisten Anhänger der RG-Theorie zumindest öffentlich die Erwähnung von „Satanismus“. In dem Film sprechen sowohl Rehmann als auch die Gesprächspartner mal von „Satanismus“, mal allgemein von „Ritualen“. Deutlich wird, dass „Rituelle Gewalt“ bzw. der jüngste Begriff „Organisierte Rituelle Sexualisierte Gewalt“ nur neue Bezeichnungen für das alte „Satanistisch-ritueller Missbrauch“ sind. Inhaltlich hat sich an der Theorie seit Jahrzehnten nichts Substanzielles geändert. Die häufigen Benennungswechsel sind nicht das Ergebnis neu aufgetauchter Fakten. Ebenso typisch der Umgang mit Kritik: Der CARA-Vorsitzende erklärt, manchmal kämen auch die Täter zu seinen Seminaren. Man erkenne sie daran, dass sie hinterher kritische Artikel schrieben. CARA verbreitet die RG-Theorie durch Seminare für Psychologinnen, Sozialpädagogen, Lehrerinnen, darunter viele, die mit Opfern sexuellen Missbrauchs arbeiten.
Weitere Zeugen, die sich in dem Film zur RG-Theorie bekennen, sind ein Zürcher Kinderschutzpolizist, der Politiker einer bibeltreuen Partei, mehrere Lehrerinnen und Lehrer („Es gibt kein Amt in der Schweiz, das nicht unterwandert ist.“) Auch die Therapeutin Regula Schwager, Co-Leiterin von Castagna, der offiziellen Zürcher Beratungsstelle für Opfer sexuellen Missbrauchs, spricht von Berichten über Tier- und Menschenopfer durch Angehörige einer reichen Oberschicht. Sie habe „keinen Grund, den Berichten der Betroffenen nicht zu glauben“.
Den meisten Interviewten ist bewusst, dass noch nie ein RG-Verschwörungsring aufgedeckt und so die Existenz des Phänomens belegt wurde. Angesichts fehlender Fakten rufen sie nach mehr Forschung, mehr Beratungsstellen, mehr Aufklärung, mehr „auf die Betroffenen Hören“. Unübersehbar ist die Angst vor kognitiver Dissonanz, die Zweifel schüren könnte. Denn „Zweifel schützt die Täter“.2 Allen ist gemeinsam, dass sie das Phänomen aus der „Betroffenenperspektive“ wahrnehmen wollen. Vor den eigenen Gefühlen tritt die Faktenfrage zurück. Analytische Distanz erscheint nicht als professionell, sondern als Verrat an „den Betroffenen“. Der infolge des Films derzeit suspendierte Psychiater Matthias Kollmann von der Fachklinik Clienia formuliert es so: „Mein größter Lehrer ist kein Buch und kein Kongress, mein größter Lehrer sind die Betroffenen.“ CARA erklärte im Anschluss an die Sendung: „Für uns … sind die Betroffenen in erster Linie die Beweise. Wenn Polizei [sic] bis jetzt keine – verwertbaren – Beweise gefunden hat, bedeutet dies, dass die Polizei bis jetzt keine verwertbaren Beweise gefunden hat. Es bedeutet nicht, dass es ORG [Organisierte Rituelle Gewalt] nicht gibt.“3
Kritische Analyse
Im Film ordnet der Soziologe Marko Kovic die Interviews ein. Er betrachtet das Phänomen als ein Wiederaufflammen der „Satanic Panic“, die ab 1980 in den USA und Kanada zum Massenphänomen wurde. Obwohl schon damals alle polizeilichen Ermittlungen im Sande verliefen, verbreitete sich der Glaube an gigantische Elitenverschwörungen mit Blutritualen, Kindesmissbrauch, Menschenopfern, Kannibalismus, Geheimtunneln und hunderttausenden Opfern rasend schnell. Treffend analysiert Kovic angesichts des Gesprächs mit dem Kinderschutzpolizisten:
„Er hat das Herz definitiv am rechten Fleck. Er glaubt wirklich, er setze sich für die Schwächsten ein, für die Kinder, die von diesen Netzwerken missbraucht werden. Aber er hat ganz offensichtlich einen totalen kognitiven Tunnelblick. Jemand in einer so verantwortungsvollen Position wie er dürfte sich nicht für diese Propaganda einspannen lassen … Er müsste die Fähigkeit des kritischen und selbstkritischen Reflektierens haben.“
Ähnlich seine Einschätzung einer Grundschullehrerin, die auf eigene Kosten eine teure Fortbildung für Psychotraumatologie gemacht hat und nun selbst Seminare dazu anbietet (Kovic: „Superspreaderin“): Auch sie sei höchst engagiert, wolle definitiv Kindern helfen, schade ihnen aber in Wirklichkeit eher.
Ein weiterer Gesprächspartner ist der Schweizer Weltanschauungsbeauftragte Georg Otto Schmid. Er hatte 1998 den Bestseller-Betroffenenbericht „Lukas – Vier Jahre Hölle und zurück“ akribisch analysiert und als Fiktion entlarvt.4 Er betrachtet die Debatte als eine moderne Form des Hexenwahns und zieht eine Parallele zu „QAnon“, das die übersteigerte Form der RG-Theorie sei. Als Ursachen sieht er zum einen die Prägung durch einen weltanschaulichen Dualismus (Gut gegen Böse, „Gott gegen Satan“) und zum anderen „Therapeutinnen und Therapeuten, die sich so schulen ließen und auf dieser Schiene unterwegs sind“. Sie seien inzwischen auch finanziell von dieser Art Traumatherapie abhängig.
Nachwirkungen und Konsequenzen
Der Film des SRF ist ein seltenes Beispiel dafür, dass große Medien kritisch über die „Rituelle-Gewalt“-Theorie berichten. In den Niederlanden und in Deutschland ist es oft eher so, dass sie sich aktiv an ihrer Verbreitung beteiligen (ARD, Die Zeit, Deutschlandfunk).5 In diesen Beiträgen kommt die umfangreiche fachwissenschaftliche Kritik an der RG -Theorie kaum zu Wort, und Verweise auf die historische „Satanic Panic“ fehlen. Anders im Film von Rehmann und Stämpfli. Nicht nur können die Anhänger der RG-Theorie ihre Vorstellungen ausführlich darlegen. Gegen Ende des Films konfrontieren die beiden Journalisten ihre Interviewpartner mit ihrer Einschätzung, dass diese einer Verschwörungstheorie aufgesessen seien, und geben ihnen die Chance zur Stellungnahme.6 Die Interviewten fühlen sich durch die investigativ-journalistische Methode hinters Licht geführt. Weil ihnen die kritisch-analytische Stoßrichtung der Doku nicht vorher klar war, hatten sie ungeschützt und offen gesprochen. Das dürfte erklären, warum viele von ihnen unvorsichtigerweise den Satanismusbegriff nicht vermieden hatten. Zu ihrer Verteidigung betonen dann darum hinterher mehrere, sie hätten nur allgemein von „Ritueller Gewalt“ gesprochen, der Satanismus sei allenfalls ein kleiner Nebenaspekt. Diese Reaktion ist typisch. Viele Anhänger der RG-Theorie ziehen sich gegenüber Kritik auf die Position zurück, sie glaubten ja auch nicht an riesige Satanisten-Ringe. Sondern sie meinten nur die „Rituelle Gewalt“ allgemein. Allerdings, so betont der SRF richtig, sind eben die Inhalte, um die es geht, völlig identisch, egal ob die Anhänger „Rituelle Gewalt“ oder klassisch „Satanistisch-ritueller Missbrauch“ sagen. Es sind auch stets dieselben Personen, Therapeuten, Seminare und Internetseiten, in denen sich die Szene versammelt. Lawrence Pazder, der längst verstorbene kanadische Psychiater, der 1980 mit dem Buch „Michelle Remembers“ die „Satanic Panic“ ausgelöst hatte, könnte fast bruchlos in die heutige Szene der Anhänger der RG-Theorie einsteigen.
Nach der Ausstrahlung gab es Proteste („Wie fühlt man sich als Marionette der Satanisten?“). Viele Anhänger der RG-Theorie fanden den Film „einseitig“, obwohl darin überwiegend Vertreter dieser Theorie zu Wort kamen. In einer zweiten Sendung beantworten Rehmann und Stämpfli die Zuschauerkritik.7 Unter anderem weisen sie den Vorwurf zurück, ihnen seien die Opfer sexuellen Missbrauchs egal. Im Gegenteil gehe es ihnen darum, Opfer vor jenen schädlichen „Traumatherapien“ zu bewahren, die ihnen auf der Basis einer Verschwörungstheorie Wahnvorstellungen suggerieren. Das ist tatsächlich der Hauptgrund, warum die RG-Theorie so gefährlich ist. Sie schadet Menschen, die therapeutische Hilfe suchen, sei es wegen sexuellen Missbrauchs, sei es wegen anderer Probleme. Welchen Schaden die RG-Theorie anrichten kann, darüber hat kürzlich eine Betroffene beim Sekten-Info NRW eindrücklich berichtet.8 Nach der „Satanic Panic“ wurden ab 1995 in den USA rund eintausend Therapeuten wegen falscher Behandlung und Suggestion von Scheinerinnerungen verurteilt, einigen die Zulassung entzogen.
So weit ist es in der Schweiz noch nicht gekommen, aber für manche Beteiligte hatte der Film bereits unangenehme Konsequenzen.9 „Wenn Lehrpersonen diese Theorie in der Schule verbreiten, wäre das – vor allem bei Kindern – sehr problematisch“, so Dagmar Rösler, Präsidentin des Schweizer Lehrerinnen- und Lehrerverbands. Ein Lehrer hat bereits seine Stelle verloren, zwei Lehrerinnen werden derzeit überprüft.10 Auch die Opferhilfestelle Castagna ist mit dem Auftritt ihrer Mitarbeiterin nicht einverstanden, ihre „Aussagen geben in keiner Weise unsere Haltung wieder. Wir gehen den aktuellen Vorwürfen nach.“ Man prüfe intern etwaige Schritte. Die Klinik Clienia ist ebenso unzufrieden mit der Weltsicht ihres Oberarztes. Man distanziere sich ausdrücklich von dessen persönlichen Aussagen. „Wir nehmen dies sehr ernst und haben umgehend interne Abklärungen eingeleitet.“ Allerdings scheint Kollmann keineswegs der einzige Anhänger der RG-Theorie in der Klinik zu sein. Ausweislich des Seminarprogramms traten im November 2018 mindestens zwei weitere Clienia-Ärzte in einem RG-Seminar der Klinik auf.11
In Deutschland bekam mit Michaela Huber die treibende Kraft hinter der RG-Theorie das Bundesverdienstkreuz.12 Andere Anhängerinnen der Theorie sitzen in offiziellen Gremien zur Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch. Ganz anders also nun in der Schweiz: Hier regen sich bei offiziellen Stellen Zweifel. Sind Menschen, die an die RG-Theorie glauben, geeignet, mit Kindern und mit Opfern sexuellen Missbrauchs zu arbeiten?
Kai Funkschmidt, 01.01.2022, geänderte Fassung vom 27.04.2023
Anmerkungen
1 Der Teufel mitten unter uns. „Satanic Panic“ in der Schweiz?, SRF, 14.12.2021, Video mit deutschen Untertiteln auf YouTube (38 Min.): tinyurl.com/y5xfewxk. Kurze Zusammenfassung auf der SRF-Facebookseite: tinyurl.com/3pa32s2k. Die Sendung ist Teil der Reihe „.rec“, in der Rehmann eine betont subjektive Pose einnimmt. Trotz des saloppen Stils handelt es sich um seriöse Recherchen. (Abruf der Internetseiten: 7.1.2021)
2 Zu den Gefahren des Zweifelns: Martina de Ridder: Jenseits des Vorstellbaren, Eppendorfer Zeitung für Psychiatrie und Soziales, 5.7.2020, https://eppendorfer.de/jenseits-des-vorstellbaren.
3 CARA: Aus aktuellem Anlass – Stellungnahme zu Medien-Berichten 2021, o. D., tinyurl.com/mtkcuawe.
4 www.relinfo.ch/satanismus/lukas.html.
5 Vgl. Rituelle Gewalt in den Niederlanden?, ZRW 82/4 (2021), 279 – 285; Isabel Fannrich: Der Kampf gegen rituelle und sexuelle Gewalt, DLF, 27.5.2018, tinyurl.com/37mj8jet. In der ARD-Doku Höllenleben (2001) erzählt eine junge Frau namens „Nicki“, wie sie jahrelang von einer Satanistensekte gequält worden sei. 2020 produzierte das Jugendmagazin der Zeit mit „Wir sind die Nicki(s)“ – wie eine Frau mit sieben Persönlichkeiten lebt (https://tinyurl.com/3f53mpp5) einen Film mit derselben Protagonistin. „Nickis“ Schilderungen sind die gleichen wie 20 Jahre früher – nur das Wort Satanismus fehlt nun. Stattdessen heißt es Rituelle Gewalt.
6 Diese Reaktionen kommen im Film vor. CARA hat auf seiner Internetseite später schriftlich reagiert: Stellungnahme (s. Fußnote 3).
8 Bianca Liebrand: Zersplitterung nach Therapie. Bedenkliche Auswirkungen der „Rituelle Gewalt Mind-Control“-Theorie, in: Sekten-Info NRW Jahresbericht 2019, Essen 2019, 9 – 33 (online 20.4.2020: tinyurl.com/2xmzad9b).
9 Zum Folgenden vgl. Daniel Krähenbühl / Noah Knüsel: Psychiatrische Klinik stellt Oberarzt nach Satanisten-Aussage frei (20 Min.), 17.12.2021, tinyurl.com/yckzkfsk.
10 Remo Röthlisberger: Satans-Lehrer im Kanton Baselland unterrichten nicht mehr, Nau.ch, 6.1.2022, tinyurl.com/2p8mrej6. Zu den Nachwirkungen vgl. auch Bernd Harder: No Retreat, No Surrender: SRF zeigt, wie man mit den heftigen Anwürfen der „Satanic Panic“-Szene souverän umgeht, GWUP, 23.12.2021, tinyurl.com/mwwpp8sx.
11 Impulstagung „Rituelle Gewalt“ 29.11.2018, tinyurl.com/2p8nmnp9.
12 Für eine kritische Analyse von Hubers traumatherapeutischen Methoden vgl. Liebrand: Zersplitterung nach Therapie (siehe Fn. 8).