Rudolf Steiner. Die Biografie
Helmut Zander, Rudolf Steiner. Die Biografie, Piper Verlag, München 2011, 536 Seiten, 24,95 Euro.
Helmut Zanders umfangreiche Biografie Rudolf Steiners (27.2.1861–30.3.1925) erschien rechtzeitig zu dessen 150. Geburtstag. Sie stellt einen überaus kenntnisreichen Beitrag zum Verstehen des Begründers der Anthroposophie und zur kritischen Auseinandersetzung mit seinem umfangreichen Werk dar. Die Nachzeichnung des Lebensweges Steiners dürfte für jeden, der die Hintergründe der Anthroposophie kennenlernen will, eine spannende Lektüre darstellen. Der Schreibstil des Autors ist eingängig. Seine Sprache ist meist wissenschaftlich geprägt, manchmal hat sie einen populären, umgangssprachlichen Duktus.Als Historiker nimmt Zander eine distanzierte und kritische Perspektive zum Anspruch Steiners ein, in höheren Welten zu stehen und über ein absolutes Wissen zu verfügen, das sich keinen überlieferten kulturellen und religiösen Traditionen verdankt, sondern durch den Einblick in eine unsichtbare Weltchronik (Akasha-Chronik) gewonnen wurde. Ausdrücklich merkt Zander an, dass seine Biografie von anderen Interessen bestimmt ist als denen, die beispielsweise Christoph Lindenberg 1997 in seinem zweibändigen Werk über Steiner zur Geltung brachte. Dieser rückte in seinen Darlegungen den Hellseher Steiner ins Zentrum und betonte die Kontinuitäten in Steiners Wirken. Zander geht es darum, „den bis dato erarbeiteten Wissensstand über Rudolf Steiner zusammenzutragen und in eine Deutung zu überführen, die den Anspruch Steiners, Hellseher zu sein, nicht aus der Perspektive ewiger Wahrheiten erklärt, sondern aus der Lebenswelt des 19. Jahrhunderts. Sie versucht Steiners Leistungen anzuerkennen, ohne den Blick für ‚Versteinerungen’ zu verschließen“ (477). Zander ist es gelungen, ein eindrucksvolles Bild der Welt des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zu zeichnen und diejenigen geistigen und weltanschaulichen Bewegungen zu skizzieren, die das Leben Steiners bestimmt haben: die Technikfaszination im Kindesalter, die intellektuelle Zuneigung zu Goethe, das geistige und philosophische Interesse des Studenten, der sein Studium nicht abschließt, aber durch eine Dissertation über Fichtes Wissenschaftslehre zum Dr. Steiner wird, Begegnungen mit dem Okkultismus, Berührungen mit sozialistischen und anarchistischen Milieus in den „wilden“ Berliner Jahren, mit freimaurerischen Initiationsritualen, vor allem die biografisch einschneidende Wendung zur Theosophie und einem esoterischen Christentum. Die historisch-kritische Entzauberung des für jeden Anthroposophen unangefochtenen Meisters geschieht bei Zander ohne Polemik und mit dem Hinweis auf die „Janusköpfigkeit seiner Weltanschauung zwischen Freiheitssehnsucht und Autoritätsanspruch“ (477).Die unterschiedlichen Lebensphasen und die weltanschaulichen Suchbewegungen des in Kraljevec an der österreichisch-ungarischen Grenze geborenen Rudolf Steiner werden eindrücklich nachgezeichnet, ebenso sein persönlicher Weg, seine Beziehungen zu Frauen, mit denen er verbunden war und die seinen Weg begleiteten. Im Blick auf Steiners eigenen meditativen Schulungsweg schreibt Zander, dass darüber „so gut wie nichts bekannt“ (236) sei. Er „bleibt uns als esoterischer Schüler weithin verborgen“ (237). Überzeugend wird meines Erachtens aufgezeigt, in welch hohem Maße das theosophische Erbe in der Anthroposophie präsent ist.Anthroposophische Theorie und Praxis standen seit ihren Anfängen in engem Zusammenhang, was Zander unter dem Stichwort „Praxis“ im dritten Teil seiner Biografie darlegt. Viele kennen Steiner heute allein durch seine Konzepte, die auf praktische Weltgestaltung zielen: Waldorfpädagogik, Medizin, Pharmakologie, Landwirtschaft, Architektur, Theater, Kunst etc. Im Klappentext des Buches heißt es: „Man kann die vielen Praxisfelder der Anthroposophie nutzen, aber man wird ihren Herzschlag nicht verstehen, wenn man nicht ihren Vater und Ideengeber kennt“. Dem ist zuzustimmen. Zanders Steiner-Biografie stellt diesen Ideengeber vor, in seiner Menschlichkeit und in seinem Verstricktsein in die Kulturgeschichte des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts.
Reinhard Hempelmann