Hanna Fülling

Säkularisierung

„Nun sag‘, wie hast du‘s mit der Religion“ (Goethe)? Diese Gretchenfrage wird seit langer Zeit nicht nur im Hinblick auf das Individuum, sondern auch in Bezug auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, die Strukturen und Institutionen diskutiert. „Religious believers are likely to be found only in small sects, huddled together to resist a worldwide secular culture“ (Berger 1968), prognostizierte der Soziologe Peter Berger noch in den 1960er Jahren für das 21. Jahrhundert. Seither wurde über diese Säkularisierungsdiagnose viel gerungen. Vor allem Entwicklungen wie die sogenannte Islamische Revolution im Iran, das Erstarken eines christlichen Fundamentalismus in den USA sowie die enorme Resonanz für Pfingstbewegungen in Südamerika und Ostasien führten dazu, dass viele SoziologInnen die Diagnose eines voranschreitenden Bedeutungsverlusts von Religion infrage stellten und Theorien von einer „Rückkehr der Religionen“ (Riesebrodt 2000) oder einer „Wiederkehr der Götter“ (Graf 2007) vermehrt Zuspruch erfuhren. Aber was genau besagt die These von der „Säkularisierung“ eigentlich? Und ist sie durch die genannten Entwicklungen widerlegt? Bevor aktuelle Debatten erläutert werden, soll zunächst eine Betrachtung der Begriffsgeschichte ein differenzierteres Verständnis des Säkularisierungsbegriffs ermöglichen.

Begriffsgeschichte

In der Genese des Säkularisierungsbegriffs können drei Entwicklungsschritte voneinander unterschieden werden (vgl. Barth 1998, 603): sein Vorkommen im kanonischen Recht, sein Übergang in den Rechtsbereich von Staat und Kirche sowie die nachfolgende Umwandlung zu einem ideenpolitischen und gesellschaftstheoretischen Begriff. „Secularisieren“ ist im Rahmen des Westfälischen Friedens erstmalig verwendet worden und bezeichnete damals einen innerkirchlichen Vorgang: den Wechsel vom Status des Ordensgeistlichen zum Weltgeistlichen, also eine Hinwendung des Geistlichen zu einer weltlichen Gemeinschaft (vgl. Lübbe 2003, 26f). Anschließend ging der Begriff in das Recht über. So wurde im ausgehenden 18. Jahrhundert unter „Säkularisation“ die Überführung kirchlichen Eigentums an weltliche Herrscher verstanden. Diese historischen Säkularisationen erreichten 1803 im Reichsdeputationshauptschluss ihren Höhepunkt. Damals wurde kirchliches Vermögen in großem Umfang dem Staat zugeführt. Dieser Prozess ist bis heute die wesentliche historische Grundlage für die Zahlungen der Staatsleistungen an die Kirchen (vgl. Fülling 2020, 411 – 427).

Im 19. Jahrhundert wurde der Begriff aus diesem engen rechtlichen Kontext gelöst und erfuhr eine Erweiterung und ideenpolitische Aufladung (vgl. Lübbe 2003, 34). Säkularisierung wurde zu einer Chiffre für bestimmte geistes-, religions- und sozialgeschichtliche Wandlungen im Horizont von Neuzeit, Aufklärung und Moderne. Die politisch-weltanschauliche Aufladung des Begriffes geht zum einen auf den Einfluss der Deutschen Gesellschaft für Ethische Kultur (D.G.E.K.) zurück, welche die Säkularisierung positiv konnotierte und sie als eine notwendige Befreiung von einem überbordenden Einfluss der Kirchen betrachtete (vgl. ebd., 56). Ähnliche Freidenkergruppen entwickelten sich auch in Frankreich, England und Nordamerika (vgl. Barth 1998, 604). Erst der Soziologe Max Weber und die Theologen Ernst Troeltsch und Wilhelm Dilthey verhalfen dem Säkularisierungsbegriff zu einem Gebrauch als beschreibendem Begriff und verwendeten ihn, um die Entstehung der modernen Welt zu analysieren. So stellte etwa Max Weber in seinen Untersuchungen über die Auswirkungen der protestantischen, puritanischen Ethik auf die Entstehung des Kapitalismus fest, dass Religion einen wesentlichen Einfluss auf die Rationalisierungsprozesse der modernen Welt ausgeübt habe (vgl. Weber 2016).

Ungeachtet seiner Verwissenschaftlichung war der Begriff in den 1920er Jahren in kirchlichen Kreisen klar negativ konnotiert und wurde als antichristliche Entwicklung begriffen (vgl. Lübbe 2003, 105). Während des Zweiten Weltkriegs verlor sich diese Polarisierung wie auch die Bedeutung des Säkularisierungsdiskurses insgesamt. Auch nach dem Krieg konnte eine Distanzierung zum Säkularisierungsansatz beobachtet werden, die in der Lesart begründet war, dass die Nazi-Herrschaft eine Folge der Säkularisierungsprozesse gewesen sei (vgl. ebd., 112).

Eine neue Konjunktur des Säkularisierungsdiskurses wurde nicht zuletzt durch den Theologen Friedrich Gogarten angestoßen, der die bis heute wirkmächtige Unterscheidung zwischen der Säkularisierung und dem Säkularismus einführte. Säkularisierung galt ihm nicht als Abfall vom Christentum, sondern als Verwirklichung des christlichen Gott-Welt-Verhältnisses (Gogarten 1953, 139). Den Säkularismus hingegen beschrieb er als entartete Form der Säkularisierung, welche der Religion feindlich gegenüberstehe.

Neben solchen innerkirchlichen Diskursen entwickelte auch die Soziologie im Anschluss an Weber und Troeltsch einen neuen Zugang zum Säkularisierungsbegriff. Und auch die Rechtswissenschaft befasste sich mit der Säkularisierung, indem sie vor allem die politischen und verfassungsrechtlichen Aspekte der Trennung von Staat und Religion in den Blick nahm. Klassisch sind hierfür die Aussagen Wolfgang Böckenfördes geworden, der hervorhob, dass „der freiheitliche, säkularisierte Staat ... von Voraussetzungen [lebt], die er selbst nicht garantieren kann“ (Böckenförde 2007, 8). Böckenförde versuchte den religiösen BürgerInnen damit zu vermitteln, dass ihnen der säkulare Staat Handlungsräume eröffne und auf ihre Verantwortungsübernahme angewiesen sei.

Der Blick auf die Begriffsgeschichte macht bereits die Vielschichtigkeit der Diskurse zur Säkularisierung deutlich. Um zu verstehen, wieso eine Verknüpfung zwischen modernisierten Gesellschaften und einem Bedeutungsverlust von Religion angenommen wird, ist es erforderlich, die Kernannahmen von Säkularisierungstheorien zu betrachten.

Kernelemente von Säkularisierungstheorien

Säkularisierungstheorien gehen von einem Bedeutungsverlust von Religion in modernisierten Gesellschaften als einem langfristigen, übergeordneten Trend aus. Dabei werden mit der Mikro-, der Meso- und der Makroebene verschiedene Wirkungsebenen der Säkularisierungsprozesse unterschieden. Der belgische Soziologe Karel Dobbelaere analysiert, dass sich Säkularisierung auf der Makroebene darin ausdrücke, dass religiöse Autoritäten ihren Einfluss auf andere gesellschaftliche Bereiche wie die Politik, die Familie und die Wirtschaft einbüßen. Dies wird als eine Folge der funktionalen Ausdifferenzierung von modernisierten Gesellschaften betrachtet. Auf der Mesoebene beobachtet Dobbelaere, dass der religiöse Einfluss auf andere Institutionen abgenommen hat, was er als eine Folge von Demokratisierung und Professionalisierung der Institutionen interpretiert. Auf der Mikroebene finde hingegen weniger ein Rückgang individueller Religiosität als vielmehr ein Kontrollverlust religiöser Autoritäten über das Individuum, dessen Lebensweg, Religiosität und Spiritualität statt. Dobbelaere konstatiert demnach auf der Mikroebene keinen Bedeutungsverlust von Religion, sondern hält einen Formenwandel des Religiösen für wahrscheinlicher. Der Soziologe Steve Bruce widerspricht dieser Annahme und deutet die Veränderung des Religiösen auf der Mikroebene stattdessen als deutliche Abnahme der persönlichen Bedeutung von Religion. Allerdings beschreibt auch er Säkularisierung nicht als völliges Verschwinden von Religion oder gar als Ausbildung einer bewussten Areligiosität, sondern vielmehr als Entwicklung hin zu einer starken Indifferenz gegenüber Religion (vgl. Bruce 2002, 240).

Der Religionssoziologe José Casanova hat durch Studien über eine neue Sichtbarkeit von Religion darauf hingewiesen, dass Säkularisierung nicht mit der Privatisierung von Religion gleichgesetzt werden könne. Vielmehr müsse bei Säkularisierung zwischen einem Rückgang von Religion, einer Privatisierung von Religion sowie der Ausdifferenzierung der Gesellschaftsbereiche in Form einer Emanzipation weltlicher Bereiche von der Religion unterschieden werden. Casanova weist unter Bezug auf gesellschaftliche Entwicklungen wie die Solidarność-Bewegung in Polen und die sogenannte Islamische Revolution im Iran sowohl eine notwendige Privatisierung als auch einen zwingenden Rückgang von Religion in modernisierten Gesellschaften zurück. Säkularisierungstheorien müssten differenziert und flexibel genug sein, solche Entwicklungen zu berücksichtigen.

Die Soziologen Detlef Pollack und Gergely Rosta versuchen, mit einer „multiparadigmatischen Theorieperspektive“ diesen Ansprüchen an die Säkularisierungstheorie gerecht zu werden (Pollack / Rosta 2015, 461). Sie konstatieren, dass Religion und Moderne zwar kompatibel sein können, dass empirische Erhebungen allerdings eine durchaus hohe Wahrscheinlichkeit für negative Auswirkungen der Modernisierung auf die Religion nahelegen (vgl. ebd., 484). Pollack und Rosta schließen an Bruce und Dobbelaere an, wenn sie zeigen, dass die Ausdifferenzierung von religiösen und nichtreligiösen Interessen einen Bedeutungsrückgang von Religion fördere. Umgekehrt beobachten sie jedoch auch, dass „die Verbindung von religiösen mit kulturellen, politischen, sozialen und nationalen Funktionen ... der kirchlichen Integrationsfähigkeit zugute [kommt]“ und zu einer Bedeutungssteigerung von Religion beitragen kann (ebd., 227).

Die Ausweitung nichtreligiöser Gesellschaftsbereiche forciere hingegen den Bedeutungsverlust von Religion, da auf diese Weise die Aufmerksamkeit zunehmend vom religiösen Bereich weggelenkt werde. Dieser Effekt kann Pollack und Rosta zufolge nicht einfach durch eine Steigerung des multireligiösen Angebots kompensiert werden, da eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber der religiösen Pluralisierung in Teilen Westeuropas zu konstatieren sei. Dies lasse sich auch für das Individuum beobachten. Die Ausweitung des Angebots von religiösen und nichtreligiösen Gemeinschaftsformen, Deutungsmustern, Sinnstiftungen und Ritualen führe zu einer geringeren Relevanz des religiösen Angebots (vgl. Pollack / Rosta 2015, 146f). Pollack und Rosta vertreten die Auffassung, dass sich ihre Säkularisierungstheoreme nicht nur in Europa bestätigen, sondern etwa auch in den USA. Auch wenn zwischen Europa und den USA deutliche Unterschiede im Religiositätsniveau bestehen, ließe sich dort beispielsweise ebenfalls ein bedeutsamer Zuwachs von Konfessionslosen und seit den 1970er Jahren ein rückläufiger Kirchgang nachweisen (vgl. ebd., 367).

Einschätzung

Auch wenn sich die eingangs genannte Prognose von Peter Berger aus dem Jahr 1968 rückblickend als zu radikal erwiesen hat, lässt sich über die nachweislichen Säkularisierungsprozesse nicht hinweggehen. Zwar können Verluste religiöser Zugehörigkeit und der Rückgang religiöser Autorität auch durch einen Formenwandel des Religiösen begründet sein, doch lassen sich damit die Bedeutungsverschiebungen des Religiösen nicht in Gänze erfassen.

Es lässt sich eine Gleichzeitigkeit des Anwachsens säkularer Weltanschauungen, einer steigenden Indifferenz gegenüber Religion sowie einer „neuen Religiosität“ (Hempelmann 2005, 15) beobachten. Insbesondere in der Weltanschauungsarbeit zeigt sich diese Parallelität. Sie kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich umfassende Säkularisierungsprozesse ereignen. Sie hinterlassen auch in den Kirchen tiefgreifende Spuren. Dies lässt sich nicht zuletzt durch die abnehmenden Kirchenmitgliedszahlen belegen – Prognosen gehen von einer Halbierung der Zahlen bis 2060 aus (vgl. EKD / DBK 2019). Die Säkularisierungsprozesse führen nicht zur Bedeutungslosigkeit von Religion und religiösen Institutionen oder gar zu ihrem vollständigen Verschwinden, sie gehen einher mit einer Veränderung der Rolle religiöser Institutionen und Autoritäten in der Gesellschaft auf der Makro-, Meso- und Mikroebene sowie mit umfangreichen Transformationsprozessen des Selbstverständnisses religiöser Institutionen.


Hanna Fülling, 01.03.2021

 

Literatur

Barth, Ulrich (1998): Säkularisierung – Systematisch-theologisch, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 29, Berlin / New York 1998, 603 – 634.

Berger, Peter L. (1968): A Bleak Outlook Is Seen for Religion, in: New York Times, 25.2.1968.

Böckenförde, Ernst-Wolfgang (2007): Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, München.

Bruce, Steve (2002): God is Dead. Secularization in the West, Oxford.

Casanova, José (1994): Public Religion in the Modern World, Chicago / London.

Dobbelaere, Karel (2011): The Meaning and Scope of Secularization, in: Clarke, Peter B. (Hg.): The Oxford Handbook of the Sociology of Religion, New York, 599 – 615.

EKD / DBK: Langfristige Projektion der Kirchenmitglieder und des Kirchensteueraufkommens in Deutschland. Eine Studie des Forschungszentrums Generationenverträge an der Albert-Ludwig-Universität Freiburg, 2019, www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/projektion-2060-ekd-vdd-factsheet-2019.pdf (Abruf: 26.2.2021).

Fülling, Hanna (2020): Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen, in: MdEZW 6/2020, 411 – 427.

Gogarten, Friedrich (1953): Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit. Die Säkularisierung als theologisches Problem, Stuttgart.

Graf, Friedrich Wilhelm (2007): Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München.

Hempelmann, Reinhard (2005): Einführung, in: Hempelmann, Reinhard u. a. (Hg.): Panorama der neuen Religiosität. Sinnsuche und Heilsversprechen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, 2. Aufl., Gütersloh, 14 – 22.

Lübbe, Hermann (2003): Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs, 3. Aufl., Freiburg i. Br. / München.

Pollack, Detlef / Rosta, Gergely (2015): Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich, Frankfurt a. M. / New York 2015.

Riesebrodt, Martin (2000): Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der Kampf der Kulturen, München.

Weber, Max (2016): Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Schluchter, Wolfgang / Bube, Ursula (Hg.): Max Weber-Gesamtausgabe, Bd. 1/18, Tübingen.