Sebastian Müller-Bahr

Sakramentale Handlungen an Toten in der NAK

Der in der Neuapostolischen Kirche (NAK) traditionell tief verankerte Glaube, dass den verstorbenen Seelen in der jenseitigen Welt durch sakramentale Handlungen, die durch einen lebenden Apostel vollzogen werden, geholfen werden kann, ist ein wesentlicher Bestandteil ihrer Lehre. Besonders im 20. Jahrhundert weist die Geschichte dieser Lehre in den Quellen teilweise erhebliche Widersprüche auf, die, so vermute ich, auf die Einflüsse von Träumen, Gesichten und Weissagungen zurückzuführen sind.

Die NAK unterscheidet aktuell zwischen drei liturgischen Elementen, bei denen es um Verstorbene geht. Erstens findet in der Regel in jedem Sonntagsgottesdienst, der durch einen Bezirks- oder den Stammapostel geleitet wird, das Sakrament des Heiligen Abendmahles für Verstorbene statt. Zum Zweiten werden dreimal im Jahr sogenannte „Gottesdienste für Entschlafene“ gehalten, bei denen die drei Sakramente Heilige Wassertaufe, Heilige Versiegelung und Heiliges Abendmahl durch die Bezirks- und den Stammapostel für Verstorbene gespendet werden. Die Spendung der Sakramente geschieht stellvertretend an zwei Amtsträger. Zum Dritten findet an den genannten drei Sonntagen in allen übrigen Gemeinden – also dort, wo weder ein Bezirks- noch der Stammapostel anwesend ist – ein besonderes Gedenken an Verstorbene statt. Die Gemeinde soll dabei fürbittend für die Erlösung der Verstorbenen eintreten.

Die Ausarbeitung geht nun zunächst auf die Entstehung dieser Handlungen in den apostolischen Gemeinden ein. Darunter verstehen wir hier die Gemeinden, die sich ab 1863 in Hamburg aus den katholisch-apostolischen Gemeinden bildeten und unter der Führung des Apostels Friedrich Wilhelm Schwarz und des späteren Stammapostels Friedrich Krebs blieben. Aus diesen entwickelte sich die „Neuapostolische Kirche“. Anschließend geht es um die wechselhafte Entwicklung des Entschlafenenwesens in der NAK im 20. Jahrhundert sowie die theologischen Inhalte.

Zur Entstehung der sakramentalen Handlungen an Toten

In den katholisch-apostolischen Gemeinden (KAG) im 19. Jahrhundert entsprach das Verständnis von der jenseitigen Welt in den Grundzügen der anglikanischen bzw. römisch-katholischen Lehre; in der Liturgie war das „Gedächtnis der Entschlafenen“ fest verankert. Ein entsprechendes Gebet wurde vor der Heiligen Kommunion gesprochen. In einem überlieferten Fall aus dem Jahr 1867 trat ein Priester über längere Zeit für einen durch Selbstmord verstorbenen Mann im Gebet ein, bis er beim Gebet das Gefühl bekam, dass es nicht mehr nötig sei. Apostel Francis Valentine Woodhouse wandte ein, dass durch ein solches Gebet die Lage der Verstorbenen nicht geändert werden könne. Er erläuterte seine Ansicht ausführlich und ließ die Ausarbeitung in den Gemeinden verteilen.2

Die Allgemeine christlich-apostolische Mission (AcaM)3 übernahm das liturgische Gedächtnis der Entschlafenen; bei Bedarf konnte auch eine Namensnennung erfolgen. Inhaltlich war das Gebet aber ein reines Gedenken und abschließendes Gott Anbefehlen mit der Bitte, die Seelen aufzunehmen.4

1872 wurde in den eben gegründeten apostolischen Gemeinden in den Niederlanden ein Kind tot geboren. In der Gemeinde wurde überlegt, wie man dem Kind helfen könne und ob es möglich wäre, es nachträglich zu taufen und zu versiegeln. Der in den Niederlanden tätige Apostel Friedrich Wilhelm Schwarz5 äußerte sich daraufhin an Pfingsten 1872 in einem großen Gottesdienst in Amsterdam über 1. Kor 15,29, wo es nach der damals gebräuchlichen Lutherübersetzung heißt: „Was machen sonst, die sich taufen lassen über den Todten, so allerdings die Todten nicht auferstehen? Was lassen sie sich taufen über den Todten?“ Schwarz erklärte, dass dieser Vers wie ein „verdecktes Blatt“ und über die Bedeutung noch nichts zu sagen wäre.

Kurze Zeit später, so erzählt 1928 Stammapostel Hermann Niehaus rückblickend, gab es in einer holländischen Gemeinde während einer Versiegelung ein „Gesicht“, bei dem in der Reihe der lebenden Empfangenden auch Verstorbene gesehen wurden, die dieselbe Handlung durch den Apostel erfuhren. Dieses und andere Gesichte nahm Schwarz zum Anlass, fortan nach erfolgter Weissagung auch an Verstorbenen die Handlung der Versiegelung zu vollziehen.6 Dem diesbezüglichen Zirkular ist zu entnehmen, dass die Apostel Schwarz (Niederlande) und Friedrich Wilhelm Menkhoff (Westfalen) sowie später Friedrich Krebs (Norddeutschland, ab 1897 Stammapostel) die Praxis übernahmen. Die Versiegelung und spätere neue Sakramentsspendungen an Verstorbene wurden also vor der Jahrhundertwende nicht in allen Bereichen der damaligen Kirche übernommen, sondern jeder Apostel besaß eine gewisse Lehrfreiheit.

Diese Überlieferungen lassen darauf schließen, dass die Entstehung der Handlungen auf Gesichte und Träume gestützt ist. Leider sind keine weiteren stichfesten Aufzeichnungen bekannt, sodass man hier nur Vermutungen äußern kann. Während man insbesondere in den Niederlanden, in Westfalen und Norddeutschland recht schnell die Wassertaufe und die Versiegelung an Verstorbenen einführte, wurde das Sakrament des Heiligen Abendmahls für Verstorbene anfangs nicht praktiziert.

Die Praxis sah so aus, dass in einem Gottesdienst nach vorheriger Weissagung entschlafene Menschen durch Gemeindemitglieder benannt wurden, welche die Sakramente erhalten sollten. Ebenso wurde in den Weissagungen auch die Person benannt, durch welche die Handlung vollzogen werden sollte. Erste bekannte Aufzeichnungen über Totenversiegelungen finden sich in „De Herinnering“ am 10. April 1874: „Im Abendgottesdienst war Versiegelung. Es wurden viele Entschlafene mit Feuer und dem Geist getauft. Durch die Weissagungen wurden wir belehrt, dass die Entschlafenen sich in unserer Mitte befanden. Einige Glieder hatten Gesichte, doch diese wie auch die vielen Weissagungen habe ich noch nicht empfangen. Am zweiten Festtag (Ostern) sprachen die vier Ämter (Apostel, Prophet, Evangelist, Hirte), und zwar über Joh. 20 Vers 1-18. Das ist die Geschichte des Herrn mit Maria Magdalena, und wir alle kamen in eine große Seligkeit hinein. Und denkt euch nur, am Ende des Gottesdienstes kam eine Weissagung (doch ich habe sie noch nicht empfangen): ,Ich der Herr ... gedenke heute an meinen Knecht Martin LUTHER, damit er zu meiner Braut gehöre. Mein Knecht VERKRUISEN, gehe zu meinem Knecht, dem Apostel, und lasse dich taufen für meinen Knecht Martin LUTHER.‘ Mithin gehört Vater LUTHER fortan zu den Erstlingen und wohl zum Stamme Juda!“7

Apostel Schwarz, der Autor dieser Zeilen, führt noch weiter aus, dass auch andere bekannte Persönlichkeiten gerufen wurden, die in der Folge versiegelt wurden. Bis zur Jahrhundertwende war man der Meinung, dass nur gläubig verstorbene Menschen die Totenversiegelung erhalten konnten (bzw. Angehörige von Apostolischen auch die Totentaufe und -versiegelung).8 Somit war auch eine Namensnennung notwendig und damit eine statistische Erfassung möglich. Unter Stammapostel Krebs, wohl um 19049, änderte man diese Einstellung, und man vollzog die Handlungen allgemeiner, ohne Namensnennung der verstorbenen Personen, da es vorgekommen sein sollte, dass bestimmte Personen in verschiedenen Gemeinden die Handlungen doppelt erfahren hatten.

Während man sich anfangs nur auf die Totentaufe und -versiegelung beschränkte, begannen Ende der 1880er Jahre auch die Abendmahlsfeiern mit Verstorbenen. Auch hier stützte man sich auf Gesichte und Weissagungen.10 Beim Abendmahl reichte man in jener Zeit zwei Gemeindegliedern die Hostie für die Entschlafenen.

Die sogenannte „Lehre vom Neuen Licht“11, die von Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts innerhalb der apo­stolischen Gemeinden in unterschiedlicher Intensität gelehrt wurde, war ein Katalysator für die junge Entschlafenenlehre. Durch die aus dem Apostel- und Stammapostelamt gewonnene Autorität konnten und mussten Heilszusagen auch für die Verstorbenen gesprochen werden. Erlösung im Diesseits und Jenseits war damit nur durch „den fleischgewordenen Christus im Stammapostelamt“ möglich.

Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Ausführung des Apostels und späteren Stammapostels Hermann Niehaus von 1903, in der er sich gegen Schmähungen verteidigte und darlegte, die Lehre brauche gar keine biblische Grundlage: „Ein Stein des Anstoßes ist besonders dem Herrn Pastor die Versiegelung und Taufe für die Toten. Für uns ist diese Handlung nicht ein Glaubensartikel, sondern eine Handlung, die wir im Glauben ausführen an denen, die da glauben und haben für unsern Glauben soviel Überzeugung, daß wir gar nicht einmal nötig haben, die Bibel zu fragen, ob das recht sei, auch keinen Theologen, denn Johannes sagt, wie es euch die Salbung lehrt, so ist es wahr und keine Lüge, und sie lehret allerlei, als der Geist, der in alle Wahrheit leitet und auch selbst das offenbart, was der Herr einst seinen Aposteln noch nicht sagen konnte.“12

Die sakramentalen Handlungen an Toten gewannen immer größere Popularität. Anfangs hatte Apostel Schwarz sie sporadisch je nach Weissagung vorgenommen. Stammapostel Krebs berichtete, dass er bereits 1898 dreimal jährlich den Entschlafenen das Heilige Abendmahl spendete, gemäß dem Vorsatz, dreimal jährlich vor dem Herrn zu erscheinen.13 Im Januar 1898 wies er die anderen Apostel an, diese Regelung zu übernehmen.14 Ab jener Zeit kam es auch zu einer langsamen Vereinheitlichung der Lehre, und man verwendete fortan den ältesten Diakon und die älteste Diakonisse als „Canal“. Diese Funktion, die in der späteren Neuapostolischen Kirche als „Amtskrippe“ bekannt wurde, wurde hier noch durch eine Frau und einen Mann besetzt, da man der Meinung war, dass die weiblichen Verstorbenen die Handlungen durch die Frau erfahren sollten und die männlichen Verstorbenen durch den Mann.

Stammapostel Niehaus ließ 1909 das Büchlein „Lichtblicke ins Totenreich“ als Lehrbuch zum Entschlafenenwesen veröffentlichen. Er verwies darin auf die Schlüsselgewalt der lebenden Apostel, denn „in der Hand von Christo Jesu, als in seinen Aposteln, ist der Schlüssel zum Himmelreiche, aber auch in derselben Hand der Schlüssel zur Hölle und dem Tode, und wo mit dem Schlüssel die Erkenntnis aufgeschlossen wird, wer will das zuschließen?“15

1910 beschloss die Apostelversammlung, dass bei der Versiegelung nun ebenfalls zwei „Amtsgefäße als Körbe“ dienen sollten, an denen die Handlungen vollzogen wurden.16 Bei der Totentaufe blieb man auch 1910 noch bei der Nennung der Namen der Verstorbenen, auch wenn man diese nun seit Jahren nicht mehr erfasste. Die Totentaufe verstorbener Kinder konnte als Ausnahme auch über die Eltern erfolgen. Spätestens ab dieser Zeit war zumindest der Ablauf in den verschiedenen Apostelbereichen gleich, auch wenn es noch keine einheitlichen Termine für die Totengottesdienste gab. Stammapostel Niehaus führte die Dienste regelmäßig am zweiten Weihnachtstag und gelegentlich am zweiten Pfingsttag durch.

Die zwei erwähnten Amtsgefäße, über die bis heute in der Neuapostolischen Kirche die Handlungen ausgeführt werden, sind nun für den Fall notwendig, dass eine der beiden Personen gerade nicht „das nötige Vollmaß an Mitleid und Erbarmen in der Seele trägt“.17

1916 sprach Stammapostel Niehaus in einem Gottesdienst für Entschlafene über die Notwendigkeit des Altars auf der Erde für die Erlösung der Toten: „Wir müssen nicht denken, daß das Wort, welches aus meinem Munde geht, nicht weiter geht als in diesen Raum.“ Über die Tätigkeit der verstorbenen Apostolischen sprach er: „Die im apostolischen Glauben entschlafen sind, denkt ihr, daß die sich auf die Ruhebank gesetzt haben und daß sie schlafen bis zur Auferstehung? Nein, die arbeiten weiter.“ Die apostolisch Entschlafenen könnten die Unerlösten zur Buße aufrufen, aber selbst keine Erlösung geben, „denn im Jenseits gibt es keine Gnade, da ist keine Barmherzigkeit und Vergebung, sondern nur Gerechtigkeit und Gericht nach dem Worte, da ein jeder empfangen soll, nach dem er gehandelt hat bei Leibes Leben, es sei gut oder böse. Gnade und Barmherzigkeit ist dort ausgeschlossen.“ Niehaus begründete dies damit, dass Jesus nicht mehr körperlich lebe, aber die Sakramentsspendung an die „Leiber“ gebunden habe. Die drei Sakramente (Wassertaufe, Abendmahl, Versiegelung) „sind da zu finden, wo Christus Jesus mit seinen Taten ist“.18 Es folgte eine Erklärung, dass die Seelen den Leib der Amtskrippe brauchen, um die Sakramente durch das Fleisch, den Apostel, zu erhalten.

Einen Eindruck von einem Entschlafenengottesdienst um die Jahrhundertwende gibt der Bericht des ehemaligen Mitglieds Luise Kraft: „Immer, wenn die ‚Diener‘ wieder neue Mitglieder angeworben hatten, kam der ‚Apostel‘, um die ‚Versiegelung‘ vorzunehmen ... Dann knieten in der Reihe derer, die ‚versiegelt‘ werden sollten, auch solche, die dieser Gnade schon teilhaftig geworden waren. Sie nannten dann die Namen von Verstorbenen, für welche sie das ‚Siegel‘ begehrten, um deren Seelen der Schar der Auserwählten zuzuführen ... Eigentlich ist der Akt schauerlich. Die meisten ‚Glieder‘ waren sich darin einig, einen kalten Luftzug verspürt zu haben, als die Verstorbenen gerufen wurden. Es ist wirklich grausig, wenn der ‚Apostel‘ ruft: ‚Ihr Tore des Todes, tut euch auf!‘ Das liegt schon in der Natur der Sache, dass es da manchen kalt überrieselt. Darauf erfolgt nun eine Ansprache an die Toten, welche schließlich von den ‚visionären‘ Gliedern auch gesehen werden. Der ‚Apostel‘ zeichnet das für die Verstorbenen bestimmte Ringelchen auf die Stirn ihres Stellvertreters, erteilt ihnen seinen Segen und entlässt sie wieder zu ihrer Grabesruhe. Das ist die ‚Totenversiegelung‘, wie ich sie miterlebt habe.“19

Die weitere Entwicklung des Entschlafenenwesens in der NAK20

Am 28. Juli 1916 hielt Stammapostel Niehaus in Bielefeld einen Ämtergottesdienst mit Amtseinsetzungen für das Jenseits21 – nach der verfügbaren Quellenlage eine Einmaligkeit. Es kann vermutet werden, dass dies, durch Gesichte und Weissagungen gestützt, aus dem Druck des vorherrschenden Elends und der vielen Todesnachrichten zur Zeit des Ersten Weltkrieges hervorgebracht wurde. Insbesondere im Rahmen der Großangriffe bei Verdun (seit Februar 1916) und an der Somme (seit Juli 1916) war die Zahl der Gefallenen und Vermissten genau in diesem Zeitraum stark angestiegen. Ferner nutzte Niehaus seit 1915 die Gaben des ordinierten Stamm-Propheten Ernst Schärtlein. Über ihn wird berichtet, dass er ein Visionär und mit der Gabe der Weissagung ausgerüstet gewesen sei.22 Schärtlein starb 1920; es ist nicht bekannt, inwieweit er in den fünf Jahren einen Einfluss auf die schwärmerischen Äußerungen des Stammapostels hatte. In dem Ämtergottesdienst wurden „unter Mitwirkung, Anrufung und Zitierung entschlafener neuapostolischer Apostel: aus dem Jenseits – für das Jenseits – Apostel“ gerufen und ordiniert, „nicht allein aber Apostel, sondern auch Bischöfe, Propheten, Älteste, Evangelisten, Hirten, Priester, Diakonen, usw.“ Dies wurde ohne Vorwissen der ca. 1500 teilnehmenden Amtsträger unternommen.

Zwei Tage später verteidigte Niehaus in einer Predigt seine Haltung zu den Aufgaben und Möglichkeiten in der jenseitigen Welt23; dennoch sind nur wenige externe Berichte über das Geschehen und keine internen Zirkularien oder Artikel in den kircheneigenen Periodika bekannt. Etwa zwölf Jahre später sagte Niehaus in einem Gottesdienst (26. März 1928 in Hamborn-Neumühl) rückblickend: „Aber nun kamen die versauerten Apostolischen, die den Sauerteig der Schriftgelehrten in sich trugen, und wehrten sich dagegen. ,Was‘, sagen die, ,sind denn im Jenseits keine Apostel, die das machen können für die Entschlafenen, das ist ja lächerlich.‘ Also widersetzten [sie] sich dem.“

Leider ist nicht überliefert, was der Amtsauftrag der für die jenseitige Welt eingesetzten Apostel und Ämter war. Immerhin verwies Niehaus in einem Trauergottesdienst für den verstorbenen Apostel Bornemann in Iserlohn am 11. Mai 1914 selbst auf die Wirksamkeit der verstorbenen Apostel in der jenseitigen Welt: „In der Fortführung des Werkes Jesu im Jenseits findet sich auch das Werk aller entschlafenen Apostel. Wir alle wissen aus dem Vorbilde Jesu, daß das rechte umfassende Missionswerk im Jenseits getrieben werden muß.“24 Wäre also eine erneute Amtseinsetzung überhaupt nötig gewesen? Da diese jedoch vermutlich nur einmal geschah, kann man davon ausgehen, dass man sich der theologischen Tragweite dieser Entscheidung im Nachhinein bewusst war.

Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts häuften sich auch die Aufklärungsschriften zumeist der evangelischen Kirchen über Sekten oder Glaubensgemeinschaften. Regelmäßig wurden darin auch die apostolischen Gemeinden und ihre Entschlafenenlehre analysiert. Hermann Niehaus brachte aus diesen Gründen auch vereinzelt Abwehrschriften zur Verteidigung heraus. Parallel dazu entstand „Das Leben nach dem Tode“25 von Friedrich Linde. Es war bis zur Jahrtausendwende mit der noch älteren Broschüre „Lichtblicke ins Totenreich“ die einzige zusammenhängende Lehrdarstellung der NAK zu diesem Thema. Kaum theologisch, dafür aber mit vielen Geschichten untermauert, erläutert Friedrich Linde die umstrittene Lehre. Überhaupt dienten Geschichten und Erzählungen über Gesichte, Träume und Erlebnisse während und vor Sonntagen mit Handlungen an Toten als Einstimmung für die Gemeinde. Auf die Frage, wie man denn beweisen könne, dass Entschlafene den Heiligen Geist nach der Entschlafenenversiegelung empfangen hätten, antwortete der spätere Stammapostel Johann Gottfried Bischoff 1929, dass es dafür keinen direkten Beweis gebe. Aber „es wird uns kund, wenn diese Seelen im Gesichte gesehen oder sich als Erlöste ihren Angehörigen auf irgend eine Art offenbaren“.26 Die Praxis der Verlesung von Gesichten wurde offiziell bis Ende der 1980er Jahre durch Stammapostel Hans Urwyler (1978 – 1988) befürwortet. Mit Stammapostel Richard Fehr (1988 – 2005) trat eine Relativierung dieser Praxis ein.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts machte man sich auch darüber Gedanken, welche Stellung wohl die auf Erden Versiegelten und die in der jenseitigen Welt Versiegelten haben würden. So stellte Bischoff fest, dass die Stellung der lebend Versiegelten „im Reiche der Herrlichkeit eine andere [ist] als die Stellung derer, die als Entschlafene den Heiligen Geist hingenommen haben. Sie [die nachtodlich Versiegelten] gehören wohl zum Reiche Christi, können aber den Grad der Freude nicht genießen, wie er den Überwindern zugeteilt wird.“27 Demzufolge schreibt Bischoff denen, die auf der Erde bis zum Tod gläubig, sprich neuapostolisch, blieben (den Überwindern), einen anderen Grad der Freude im zukünftig erwarteten Friedensreich zu als den nachtodlich versiegelten Seelen.

Noch vor dem Zweiten Weltkrieg gab Stammapostel Bischoff weitere Hinweise zur Durchführung der Entschlafenengottesdienste in den Gemeinden. So schrieb er 1932 im Amtsblatt, dass in den Herzen der Geschwister Mitleid erweckt werden solle und nach der Reinigung der Seelen durch die Vergebung der Sünden und das Heilige Abendmahl der Dienstleiter für die Entschlafenen bete und „sie im Geiste zu dem Altar geleitet, um dort die Heilstaten in den Bundeshandlungen durch den Apostel in Empfang zu nehmen“.28 Er gab darin auch den Dienstleitern ein Mustergebet an die Hand. Ein Jahr später erschien wiederum eine Anweisung über das Amtsblatt. Darin forderte Bischoff auf, die Entschlafenen-Versiegelungsgottesdienste einheitlich am 2. Weihnachtstag um 9.30 Uhr durchzuführen, wobei auch alle anderen Gemeinden des Apostelbezirkes zur gleichen Zeit Entschlafenengottesdienst halten sollten. Ferner wünschte er, vor dem Entschlafenengottesdienst ein oder zwei Gemeindeabende durchzuführen, zu denen nur Mitglieder Zutritt haben sollten. Auch durfte in den Gottesdiensten „niemals bekanntgegeben werden, dass am 2. Weihnachtstag Entschlafenenversiegelung stattfindet“, denn das „würde eine Menge Neugierige anlocken, was zum Unsegen würde, weil fremde Personen dafür kein Verständnis haben. Es wurden dadurch auch viele unwahre und verdrehte Gerüchte in die Welt gesetzt ... Die Geschwister sind zu belehren, daß sie fremden Gästen davon nichts erzählen.“29

Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg erwähnte Bischoff in einem Gottesdienst am 24. November 1946 in Frankfurt am Main, dass nun auch die allgemeine Lossprechung von den Sünden in der Gemeinde den Entschlafenen gelte. Auch musste ab jetzt für verstorbene Christen, die nicht apostolisch getauft waren, die Taufe vor der Versiegelung bestätigt werden.30

1950 legte Bischoff den Entschlafenengottesdienst einheitlich auf den ersten Novembersonntag, und vier Jahre später führte er unter dem Druck der Endzeiterwartung31 die heutige Regelung ein, nach der jeweils am ersten Sonntag im März, Juli und November Entschlafenengottesdienst mit Taufe und Versiegelung gefeiert wird.32

Ab 1959 nutzte der jeweilige Stammapostel in einem festen Ritus seine Schlüsselvollmacht im Gebet und befahl den Engeln, die Tore der Ewigkeitsbereiche für 24 Stunden zu öffnen, damit die Seelen in den Gottesdiensten die Gnade finden können, denn: „Jesus hat deshalb in weiser Voraussicht die Schlüsselgewalt in die Hände des jeweiligen Stammapostels gelegt, um entsprechend handeln zu können. Es hat lange Zeit gedauert, bis es dem Geist des Herrn möglich wurde, die Erkenntnis zu bewirken, daß die Schlüsselgewalt auch angewandt werden soll. Die Dienste für die Entschlafenen wurden ja früher auch im Segen durchgeführt, aber da mußte der Herr Jesu die Tore auftun; denn er hat ja, wie wir in Offenbarung 1,18 lesen, die Schlüssel der Hölle und des Todes ... Dies war jedoch nicht seiner Anordnung entsprechend; denn die Arbeit an den Seelen der Lebenden und Entschlafenen sollte auf Erden geschehen. Dazu hatte er seine Apostel mit allem, was zur Erlösung an Menschenseelen erforderlich war, ausgerüstet.“33

Ab 1963 betete Stammapostel Walter Schmidt dieses Gebet bereits neun Stunden vor dem eigentlichen Gottesdienst, um so den Zeitunterschied auf der Erde mit den damit verbundenen unterschiedlichen Gottesdienstzeiten auszugleichen. Seit 1963 sollten die Dienstleiter in den Gemeinden auch darauf achten, „daß die Predigt nicht zu lange dauert, damit die Seelen der Wartenden rechtzeitig an den Apostelaltar überwiesen werden können“.34 Im Anschluss an die Predigt wurden die Seelen im Gebet zum „Gnadenaltar“, also zu dem Gottesdienst des Apostels, befohlen, damit sie dort die Sakramente erlangen könnten. Bei der Bezirksapostelversammlung vom 12. Mai 1989 wurde diese Regelung wieder verworfen, denn Stammapostel Urwyler hielt fest, dass die Seelen in der jenseitigen Welt nicht an die zeitlichen Ordnungen der Erde gebunden sind.35

Die Kosmologie der neuapostolischen Entschlafenenlehre des 20. Jahrhunderts

Das Verständnis von der jenseitigen Welt war in der NAK in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Begriffen wie „Gnadenaltar“ oder „Gefängnisse“ geprägt. Die Macht über Tod und ewiges Leben lag im Stammapostelamt, seiner Schlüsselgewalt und der Fürbitte der neuapostolischen Geschwister. Dreimal im Jahr konnten unerlöste Seelen (ohne Versiegelung Verstorbene) durch Fürbitten der lebenden Neuapostolischen sowie durch Einladearbeit der erlösten Seelen sich selbst überwinden, das Erlösungsangebot erkennen und über die auf der Erde stattgefundenen Sakramente für die Entschlafenen, am sogenannten Gnaden- und Apostelaltar, die Erlösung finden. Zuvor musste der Stammapostel mit seiner Schlüsselgewalt die Gefängnisse und das Reich Gottes aufschließen.

In den einzelnen Gemeinden wurden Seelen durch Fürbitten an den Gnaden- und Apostelaltar überwiesen. Dies geschah zeitlich vor der sakramentalen Handlung des Bezirksapostels.

Die aktuellen Lehrentwicklungen

Die zwei Jahrzehnte ab 1990 brachten entscheidende Veränderungen in der Entschlafenenlehre. Zunächst wurde ab den 1990er Jahren auf die offiziellen Veröffentlichungen von Gesichten und Träumen zu den Entschlafenengottesdiensten verzichtet. Außerdem änderte sich das Verständnis der Schlüsselgewalt.

So hielt Stammapostel Fehr im Januar 1991 in den „Leitgedanken“ fest, dass das Öffnen der Gefängnisse Sache Jesu sei und das Öffnen des Reiches Gottes dem Stammapostel obliege.36 Zehn Jahre später setzte er diese Lehrentwicklung fort und stellte klar, dass der Stammapostel lediglich die Schlüsselvollmacht besitze: „Muss ich als Stammapostel den Herrn bitten, von seinen Schlüsseln, den Schlüsseln des Todes und der Hölle, zu jedem Gottesdienst für Entschlafene Gebrauch zu machen, damit die Bereiche in der jenseitigen Welt geöffnet werden? ... Das Öffnen der Gefängnisse ist Sache Jesu – das Öffnen des Reiches Gottes obliegt dem Stammapostel. Diese bisher verwendete Formulierung konnte so verstanden werden, als stünde der Stammapostel mit dem Herrn Jesus Christus auf derselben Stufe. Das widerspräche dem Evangelium. Bezüglich der bisherigen Glaubenslehre ergeben sich folgende Änderungen: Wegen des umfassenden Begriffsinhalts sprechen wir nicht mehr von Schlüsselgewalt, sondern von Schlüsselvollmacht. Für das Entschlafenenwesen ergibt sich: Die jenseitigen Bereiche sind durch das einmal gebrachte und ewig gültige Opfer Jesu Christi geöffnet. Sein Opfer macht jeder heilsverlangenden Seele den Zugang zur Erlösung frei. Es besteht keine zwingende Notwendigkeit, die Zugänge zum Altar und zum Reich Gottes durch ein besonderes Gebet des Stammapostels vor einem Gottesdienst für Entschlafene aufzuschließen ... Mit diesen sorgfältig aus der Heiligen Schrift entwickelten Gedanken müssen wir in gewisser Weise von traditioneller Lehre Abschied nehmen. Sie spiegeln das ernsthafte Bemühen wider, größere Klarheit in einen Bereich hineinzubringen, der letztlich ein Mysterium bleibt. Die vertiefte Erkenntnis vermehrt die Sicherheit im Glauben und stärkt die Autorität des Stammapostelamtes.“37

Zwar ergab sich mit diesen Lehrveränderungen eine Hinwendung zu Jesus Christus, doch erfolgte bis heute keine Beurteilung oder Auswertung der alten Praxis, die von der „Lehre vom Neuen Licht“ (s. o.) geprägt war.38

Bis 2005 war der Glaube in Bezug auf das Entschlafenenwesen nur in den bereits erwähnten über 70 Jahre alten Schriften beschrieben. Mit „Der Jenseitsglaube der neuapostolischen Christen“39 beschreibt die NAK aktuell ihr Verständnis der jenseitigen Welt und die Möglichkeit, „unerlösten Seelen“ zu helfen. Größtenteils baut diese Schrift die Erläuterungen zur Lehre auf das Gleichnis vom „reichen Mann und armen Lazarus“ auf. Ein Teil des Buches beschäftigt sich mit der gottesdienstlichen Praxis und den Rückschlüssen, die aus der Bibel gezogen werden können. Dennoch stellt die Schrift klar, dass nur wenige Hinweise über die Hilfe für die Entschlafenen in der Heiligen Schrift vorliegen, diese seien aber aussagekräftig genug. Verteidigend wird erwähnt, „dass eine kirchliche Lehre oder Bräuche und Handlungen, die als allgemein gültig anerkannt angesehen waren, in den Schriften der Urkirche oft gar nicht besonders erwähnt wurden und auch nicht erwähnt zu werden brauchten. Sie fanden meist nur Eingang in die Schriften, wenn gegen sie Verstöße vorkamen.“ Eine Fürbitte für Entschlafene findet der Schreiber des Heftes in 2. Tim 1,16-18, wo Paulus für den verstorbenen Onesiphorus eintritt. Die Taufe an Verstorbenen wird über 1. Kor 15,29 legitimiert. „Hier weist der Apostel Paulus auf den Brauch hin, dass man sich für Entschlafene, die während ihres Lebens noch nicht getauft waren, taufen ließe.“

Weiter erhält der Leser Hinweise, dass die Gebete für Verstorbene folgende Schwerpunkte haben sollten: „Der ewige Gott möge in seiner Liebe in ihnen das Verlangen nach dem Gnadenangebot Christi erwecken, ihnen den Weg bereiten zur Gnade aus dem Opfer des Sohnes Gottes ... die von ihm bereiteten Mittel einsetzen zu ihrer Erlösung.“ Ferner ist es eine Glaubensüberzeugung, dass erlöste Seelen in den jenseitigen Bereichen tätig sind. Ähnlich wie Mose und Elia auf dem Berg der Verklärung würden auch die in Christi Gemeinschaft stehenden Seelen in der jenseitigen Welt den Herrn Jesus Christus bekennen.

Das apostolische Amt der Gnade zur Versöhnung und Vergebung wird mit 2. Kor 5,18-20 und Joh 20,23 begründet. „Durch die Apostel, die nicht nur in urchristlicher Zeit, sondern auch in unserer Zeit wirken, verschafft Christus den Lebenden und den Toten den Zugang zur Gnade Gottes.“ Weil die Apostel als Haushalter über Gottes Geheimnisse wirken, „ist es ihr Auftrag, die Sakramente auch für die Verstorbenen zu spenden“.

In der gottesdienstlichen Praxis wird das Abendmahl für Verstorbene in der NAK sonntäglich und an kirchlichen Feiertagen durch den Stammapostel, den Bezirksapostel oder in Einzelfällen durch einen beauftragten Apostel an zwei Amtsträger gespendet. Die im Gottesdienst verkündigte Sündenvergebung gilt auch für die Entschlafenen und wird nicht noch einmal gesondert ausgesprochen. Nach wie vor finden dreimal im Jahr die besonderen Gottesdienste für Entschlafene statt. Die Bezirksapostel oder beauftragten Apostel spenden dabei einigen die Wassertaufe, einigen die Versiegelung und allen das Abendmahl. In den übrigen Gemeinden spricht der Dienstleiter ein Gebet für die Entschlafenen mit der Bitte um göttliche Hilfe für die Seelen.

Der erst 2012 erschienene Katechismus greift die Entschlafenenlehre als grundsätzliche Glaubenslehre der Kirche auf.40 Unter Punkt 9.6.3 („Heilsvermittlung an Verstorbene“) wird festgehalten, dass Jesus Christus über Tote und Lebende Herr sei und es sein Wille sei, dass allen Menschen geholfen werde. „Die Zuwendung von Heil geschieht durch die Predigt, die Vergebung der Sünde und die Sakramente.“ Für die Entschlafenen ist damit der Glaube an Jesus Christus zur Erlangung des Heils unerlässlich. „Die Erlösung selber geschieht einzig durch Jesus Christus.“ Weiter hält der Katechismus fest: „Den Auftrag Jesu, das Evangelium zu verkündigen, die Sünden zu vergeben und die Sakramente zu spenden, erfüllen die Apostel an Lebenden wie an Toten. Sie handeln an Christi statt und in seinem Namen. Wie Jesus Christus sein Opfer auf Erden brachte, so geschieht auch Heilsvermittlung durch die Apostel auf Erden. Da Sakramente stets eine sichtbare Seite haben, können sie auch nur im Bereich des Sichtbaren vollzogen werden. Die Wirkung der Sakramente als wesentliche Elemente der Heilsvermittlung ist für Lebende und Tote gleich. Die Spendung der Heiligen Wassertaufe, der Heiligen Versiegelung und des Heiligen Abendmahls für Entschlafene geschieht, indem die jeweilige sichtbare Handlung an Lebenden vorgenommen wird ... Die Heilswirkung kommt hierbei nicht den Lebenden, sondern einzig den Entschlafenen zugute.“

Mit der alten Auffassung, dass der Grad des Heils zwischen erlösten Verstorbenen und schon zu Lebzeiten Getauften und Versiegelten unterschiedlich sei, räumt der Katechismus auf: „Verstorbene, die durch die Heilige Wassertaufe und die Heilige Versiegelung die Wiedergeburt aus Wasser und Geist erfahren haben, sind den in Christus Gestorbenen (1. Thess 4,16) gleichgestellt.“41

Interessant ist auch, dass man seit einigen Jahren zunehmend nicht mehr von einem „Gottesdienst für Entschlafene“ spricht, sondern von einem „Gottesdienst zum Gedenken der Entschlafenen“. Theologisch scheint diese Bezeichnungsänderung bisher aber keine Änderungen mitzuführen. Es liegt die Vermutung nahe, dass sie aus „ökumenischen Anpassungsgründen“ geschieht, denn die NAK Süddeutschland führt dazu aus: „Insbesondere in der sogenannten ‚stillen‘ Jahreszeit wird in christlichen Kirchen hierzulande der Verstorbenen gedacht. So kennt die Evangelische Kirche einen Gedenktag der Entschlafenen, den Totensonntag, und in der Römisch-Katholischen Kirche ist ‚Allerseelen‘ – am 2. November – der Feiertag, an dem Fürbitten und Almosen zugunsten der ‚Armen Seelen‘ erfolgen (d. h. solcher, die nach katholischem Glauben im Fegefeuer sind) und an dem der Verstorbenen besonders gedacht wird. In der Neuapostolischen Kirche werden drei Gottesdienste im Jahr gefeiert, die dem Gedenken an Verstorbene gewidmet sind, darunter der Gottesdienst am ersten Novembersonntag. In diesen Gottesdiensten wird der Verstorbenen gedacht, es wird – aus der Überzeugung heraus, dass sich Fürbitten für Seelen auch im Jenseits auswirken – für sie gebetet, und es werden auch Sakramente für Verstorbene gespendet.“42

Eine weitere sprachliche Anpassung betrifft die „Amtskrippe“ genannten zwei Amtsträger, an denen die Handlungen für Verstorbene durchgeführt werden. Sie heißen nun laut Beschluss der Bezirksapostelversammlung „Stellvertretung“.

Bezug zum Spiritismus?

Abschließend sei noch kurz auf die Frage eingegangen, ob die Entschlafenenlehre der NAK als Spiritismus bezeichnet werden kann. „Spiritismus oder Spiritualismus bezeichnet moderne Formen der Beschwörung von Geistern, ... die sich mit Hilfe eines Mediums sinnlich wahrnehmbar mitteilen sollen.“43 In der Mitte des 19. Jahrhunderts traten in vornehmlich evangelikalen Kreisen erste Geisterrufungen und -beschwörungen auf.44 Dies geschah in sogenannten Séancen, bei denen mit den Toten über Klopfzeichen oder Schreiber kommuniziert wurde.

Eine Parallele zum Entschlafenenwesen ist die Entstehungszeit. Auf dem Höhepunkt des Spiritismus entwickelte sich das Entschlafenenwesen im evangelikal geprägten Holland.

Neben Parallelen gibt es auch Unterschiede. Während der Spiritismus zwischen Körper und Geist unterscheidet, wird in der NAK zwischen Körper und unsterblicher Seele unterschieden. Während im Spiritismus der Kontakt auch von den Lebenden zu den Toten aufgenommen wird, ist im Entschlafenenwesen nur eine Kontaktaufnahme der Toten durch Gesichte und Träume mit den Lebenden möglich. Es erfolgen also keine direkte Kontaktaufnahme und kein direktes Befragen der Toten wie zum Beispiel durch Gläserrücken. In beiden Fällen ist jedoch ein Mittler nötig, im Entschlafenenwesen übernimmt das die sogenannte Amtskrippe. Ein großer Unterschied liegt darin, dass der Spiritismus in der Regel Jesus Christus keinen Wert beimisst.

Wie schon die katholisch-apostolischen Gemeinden45 warnte auch die spätere Neuapostolische Kirche bis in die 1960er Jahre eindringlich vor dem Besuch von spiritistischen Veranstaltungen. Aufgrund ihrer Entschlafenenlehre scheint sie dennoch öfter mit dem Vorwurf konfrontiert worden zu sein, sie sei spiritistisch tätig, sodass in Schriften und Periodika entsprechende Gegendarstellungen zu finden sind. Stammapostel Niehaus schrieb in dem schon erwähntem Buch „Lichtblicke ins Totenreich“ bereits in der Einleitung: „Unsere Gegner werden von dieser Schrift sagen: ‚Das ist spiritistisch!‘ Dem Materialismus gegenüber mag es recht sein, aber nicht in dem Sinne, worin Gott den Spiritismus verboten hat, nämlich, die Toten zu befragen. Wir haben Gemeinschaft mit unseren Entschlafenen, aber nicht um sie zu fragen, sondern ihnen Gnade und Heil mitzuteilen ...“46

Fast hundert Jahre später schrieb Reinhard Kiefer, der theologische Berater des Stammapostels: „Die sakramentalen Handlungen zu den Entschlafenen dürfen keinesfalls mit dem Spiritismus verwechselt werden. Dieser stellt eine Objektivierung des Jenseitigen, eine verdinglichende Hineinnahme ins Diesseitige dar. Man spricht dort vom Jenseitigen in den Kategorien des Diesseitigen. Das Neue Testament und der sich darauf gründende neuapostolische Glaube waren immer sehr zurückhaltend in ihren Ausführungen zur Welt der Entschlafenen. Es geht nämlich nicht darum, objektivierende Einblicke in die jenseitige Welt zu gewinnen oder zu gewähren. Keine metaphysische Neugier soll befriedigt werden, sondern eine Heilszusage wird ausgesprochen, die Lebenden und Toten gleichermaßen gilt.“47

Es führt also zu weit, das Entschlafenenwesen eindeutig als Spiritismus zu bezeichnen oder es diesem gleichzusetzen. Dennoch ist nicht abzustreiten, dass es in der Neu­apostolischen Kirche, insbesondere bis ins 20. Jahrhundert, spiritistische Züge gab. Das Augenmerk ist in diesem Zusammenhang besonders auf die Neuapostolische Kirche in Afrika zu richten, wo die Lehre über die Entschlafenen auf fruchtbaren Boden fällt. Die dort in vielen Völkern vorkommende Ahnenverehrung lässt sich auch unter den neuapostolischen Mitgliedern nur schwer unterbinden oder von der Entschlafenenlehre trennen.


Sebastian Müller-Bahr, Merseburg


Anmerkungen

  1. Aktualisierte und überarbeitete Version eines 2009 erstmals erschienenen Artikels: Sebastian Müller[-Bahr], Sakramentale Handlungen an Toten in der Apostolischen Gemeinde, in: Aufbau, Ausbau, Trennungen. Die Entwicklung der apostolischen Gemeinschaften im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, hg. von Matthias Eberle, Nürtingen 2009, 190-227. Alle verwendeten Quellen sind, sofern nicht mehr im Handel erhältlich, unter www.apostolische-dokumente.de abrufbar oder im Archiv des Netzwerks Apostolische Geschichte zugänglich (Archiv Brockhagen – Forschungsarchiv zur Geschichte der apostolischen Glaubensgemeinschaften, Uhlandstraße, 33803 Steinhagen-Brockhagen, www.archiv-brockhagen.de).
  2. Sammlung kirchlicher Zirkulare pastoralen und anderen Inhaltes, als Manuskript gedruckt, dritte vermehrte Ausgabe, Berlin 1895.
  3. Bezeichnung der Hamburger Gemeinde nach der Trennung 1863 von den katholisch-apostolischen Gemeinden.
  4. Die Liturgie. Andachtsbuch zum Gebrauch bei allen Gottesdiensten der christlichen Kirche, Hamburg 1864, Neuausgabe, hg. von Matthias Eberle, Nürtingen 2008.
  5. In holländischer Schreibweise: Friedrich Wilhelm Schwartz.
  6. Cirkular 413, Gottesdienstbericht 26.3.1928, Hamborn-Neumühl.
  7. „De Herinnering“, Jahrgang 1874, Kopie in Schreibmaschinendruck, zit. nach der dt. Übersetzung aus Günter Knobloch, Das Entschlafenenwesen, Bd. 1, Privatdruck, Hamburg 1986, 50.
  8. Nach damaligem Verständnis sollten die Apostel in der Kirche Christi die Brautgemeinde sammeln, also bereits Getaufte Gläubige versiegeln bzw. Neugeborene zu Christen machen. Die Praxis bei der Entschlafenenlehre ist ein Abbild dieses Verständnisses.
  9. 1903 wurden laut „Der Herold. Beilage zur Wächterstimme aus Ephraim“, hg. von H. Bornemann, Iserlohn 1904, Nr.102, 5, insgesamt 10 177 Lebende und 2597 Tote in den apostolischen Gemeinden versiegelt. Auffallend ist, dass drei der damals elf aktiven Apostel keine Versiegelungen an Entschlafenen vollzogen.
  10. Rückblickende Erzählungen des Bezirksapostels Gottfried Rockenfelder im Gottesdienst am 11. Juli 1982 in Wiesbaden.
  11. Die Lehre vom „Neuen Licht“ bedeutet: Im Stammapostel als Haupt der Aposteleinheit ist Jesus Christus im Fleisch sichtbar und gegenwärtig. Durch die daraus gewonnene Autorität und Vollmacht des Apostel- und Stammapostelamtes wächst aus dem Amt nicht nur eine neue Lehrgröße, sondern auch ein völlig neues Heilsverständnis. Stammapostel Friedrich Krebs war ein starker Verfechter der Lehre. Vgl. Matthias Eberle, Christen an der Grenze – Die Lehre vom neuen Licht in Quellen, in: ders. (Hg.), Aufbau, Ausbau, Trennungen. Die Entwicklung der apostolischen Gemeinschaften im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, Nürtingen 2009, 177-189.
  12. [Hermann Niehaus,] Si tacuisses! Eine Abwehr der Angriffe der Pastoren Handtmann und Kretzer auf die Apostolische Gemeinde, o. O., o. J. [Bielefeld 1903], 23 (gedruckte Broschüre).
  13. Vgl. Ex 34,23: „Zu drei festen Zeiten im Jahr soll alles Männliche bei dir vor dem Herrn, dem Gott Israels erscheinen“ (Septuaginta Deutsch, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2009, 92).
  14. Reisebericht des Apostels Friedrich Krebs, Braunschweig, Januar 1898, in: Günter Knobloch, Das Entschlafenenwesen, a.a.O. (Fußnote 7), 77ff.
  15. [Hermann Niehaus,] Lichtblicke ins Totenreich, Iserlohn 1909, 28.
  16. Protokoll der Apostelversammlung vom 7. November 1910 in Bielefeld.
  17. Günter Knobloch, Das Entschlafenenwesen, a.a.O. (Fußnote 7), 188.
  18. Alle Zitate aus einem Weihnachtsgottesdienst des Stammapostels Niehaus am 25.12.1915, in: „Neu­apostolische Rundschau“ vom 14. Mai 1916, 113.
  19. Luise Kraft, Unter Aposteln und Propheten. Erinnerungen aus meinem Leben, hg. von G. Zitzer, Niedereisenhausen 1913.
  20. Ab 1906 nannte man sich allerorts „Neuapostolische Gemeinde“, später „Neuapostolische Kirche“.
  21. [Karl Wilhelm Mütschele,] Aufklärungsschrift Nr. 2 über die reformatorische Bewegung in den Neuapostolischen Gemeinden, o. O. [Leipzig], o. J., 18ff.
  22. www.apostolische-geschichte.de/wiki/index.php?title=Ernst_Sch%C3%A4rtlein (Abruf: 25.10.2013).
  23. Hermann Niehaus (Hg.), Neuapostolische Rundschau – Zeitschrift zur Förderung des Glaubenslebens der Neuapostolischen Gemeinden des In- und Auslandes, Neuapostolische Gemeinde Leipzig, 22. Jahrg., Nr. 34 vom 20. August 1916, 204f, und Nr. 35 vom 27. August 1916, 211f.
  24. Totenversiegelungs-Gottesdienst mit Hermann Niehaus am 26. März 1926 in Hamborn-Neumühl.
  25. Friedrich Linde, Das Leben nach dem Tode. Eine Belehrung dargestellt nach der Lehre der Bibel und der Erfahrung, Vereinigte Neuapostolische Gemeinden Süd- und Mitteldeutschlands, Frankfurt a. M. o.J. [um 1930].
  26. Der Leitstern, 9. Jahrgang, Nr. 21 vom 1. November 1929.
  27. Der Leitstern, 9. Jahrgang, Nr. 24 vom 15. Dezember 1929.
  28. Amtsblatt, Halbmonatsschrift für die Amtsträger der Neuapostolischen Kirche vom 15. Dezember 1932.
  29. Amtsblatt, Halbmonatsschrift für die Amtsträger der Neuapostolischen Kirche vom 1. Dezember 1933.
  30. Gottesdienstbericht vom 24. November 1946 in Frankfurt am Main, gehalten von J. G. Bischoff.
  31. Vgl. Michael Koch, Die Entstehung des Dogmas, der Herr käme zur Lebzeit Johann Gottfried Bischoffs. Eine Betrachtung der Jahre 1945 – 1952, in: Kirche auf dem Weg – die apostolischen Gemeinschaften im Verlauf des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2010, 169-234; ders., Die Entstehung der Botschaft, in: Frankfurt im Spiegel der Geschichte der apostolischen Gemeinschaften, Steinhagen 2013, 33-110.
  32. Rundschreiben von J. G. Bischoff vom 6. Juni 1954.
  33. Rundschreiben von J. G. Bischoff vom 20. August 1959.
  34. Richtlinien für Amtsträger der Neuapostolischen Kirche, Frankfurt a. M. 1963.
  35. Leitgedanken zum Gottesdienst, November 1989.
  36. Leitgedanken zum Gottesdienst, Januar 1991.
  37. Leitgedanken zum Gottesdienst, März 2001.
  38. Die „Lehre vom neuen Licht“ wurde nie widerrufen oder bewertet, sondern klang, insbesondere theologisch, in großen Teilen zum Anfang des 20. Jahrhunderts aus, jedoch sind bis heute Elemente der Lehre in der NAK vorhanden.
  39. Der Jenseitsglaube der neuapostolischen Christen, Frankfurt a. M. 32006.
  40. Katechismus der Neuapostolischen Kirche, Frankfurt a. M. 2012.
  41. Ebd.
  42. Internetseite der NAK Süddeutschland, www.nak-sued.de/index.php?id=36569 (Abruf: 25.10.2013).
  43. Artikel „Spiritismus“ auf www.wikipedia.de (Version vom 24.10.2013).
  44. Kocku von Stuckrad, Was ist Esoterik?, München 2004, 201.
  45. Z. B. Heinrich W. J. Thiersch, Inbegriff der christlichen Lehre, Basel 1886, Nachdruck von Peter Sgotzai, Beerfelden 2003, 230.
  46. [Hermann Niehaus,] Lichtblicke ins Totenreich, a.a.O. (Fußnote 15).
  47. Reinahrd Kiefer, Das Entschlafenenwesen, Vortrag vom 4.8.2007.