Neue religiöse Bewegungen

Sant Rajinder Singh in Berlin

Nach über zwölf Jahren stattete der Lebende Meister der „Wissenschaft der Spiritualität“ (WdS), Sant Rajinder Singh, Berlin wieder einen Besuch ab. Das großspurige Auto, das beim Postbahnhof im Osten der Stadt vorfährt, passt nicht so recht zu der freundlich lächelnden kleinen Gestalt, die von Hunderten von Menschen ehrfürchtig erwartet und fast feierlich empfangen wird. Der Satguru steht konkurrenzlos im Mittelpunkt – nicht nur dieser Veranstaltung, wie man im Gespräch mit Teilnehmenden erfährt. Dennoch setzt der 64-jährige Inder, dem man sein Alter kaum ansieht, offenbar nicht auf Showeffekte. Lehre steht im Vordergrund, tatsächlich. Ziemlich genau eine Stunde lang spricht der weiß gewandete Turbanträger (mit perfekter Übersetzung aus dem Englischen) über die glückverheißende und lebenswichtige Bedeutung der Meditation, ein häufiges Thema öffentlicher Vorträge. In der riesigen bestuhlten Halle wird das Geschehen in Großbild auf seitliche Leinwände projiziert. Alle Hautfarben, fast alle Altersstufen und wer weiß wie viele Nationalitäten sind im aufmerksam lauschenden Publikum vertreten. Ein Besucherprofil würde wohl allenfalls für höhere Bildung einen besonderen Schwerpunkt ausweisen. Viele verfolgen jedes Wort, indem sie mit zusammengelegten flachen Händen in Gebets- und Konzentrationshaltung verharren.Meditation zur Stressreduzierung, zur Erhöhung der Konzentration, zur Besserung der Gesundheit und als Erfolgsrezept – all dies seien, so erfahren wir, mögliche positive Nebenwirkungen von Meditation, aber nicht eigentlich ihr Sinn und Ziel. Ziel sei es vielmehr, von den äußeren Sinneseindrücken quasi umzuschalten auf das Innere, auf die Seele, auf das, was die Menschen letztlich mit Gott bzw. dem Göttlichen verbindet. Wir seien wie beim Fernsehen ständig äußerlich am Zappen, vergäßen aber meist, uns innerlich auf den „Kanal Gottes“ einzustellen, der rund um die Uhr erreichbar sei und fließe. Über den „Augenbrennpunkt“ bzw. das „Dritte Auge“ zwischen den Augenbrauen finde die Verbindung mit dem göttlichen Licht- und Klangstrom statt. Denn als solcher sei die ursprüngliche Lebensenergie zu verstehen, wie auch die moderne Physik mit ihrer Elementarteilchenlehre beweise (Rajinder Singh ist studierter Elektrotechniker). Alle Menschen wie auch alle Religionen sind dadurch verbunden, letztlich eins. Einige eklektisch zusammengelesene Zitate aus verschiedenen heiligen Schriften sollen das belegen. Dass es auch um eine äußerst komplexe Kosmologie geht, um Karma, das der Lebende Meister übernimmt, und Karma, das fortan zu vermeiden ist, um Astralreisen und eine recht asketische Lebensweise, ja schlicht um rund zweieinhalb Stunden Meditation täglich (Aussage eines Teilnehmers), das erfährt der Zuhörer diesmal nur andeutungsweise. Auf die Verpflichtung zum (sattvischen) Vegetarismus macht ein Ansager nach dem Vortrag aufmerksam. Er lädt aber vor allem dazu ein, zur Initiation zu bleiben, die wie häufig im Anschluss an Einführungsvorträge angeboten wird. Dabei werden fünf Mantras mitgeteilt, göttliche Namen, die wie Passworte zum Aufsteigen der „Seele“ in die fünf höheren Sphären befähigen und deren jeweiliger Gottheit zugeordnet sind. Die Öffnung des „Augenbrennpunkts“ bzw. „Dritten Auges“ zwischen den Augenbrauen durch den Guru persönlich soll erste Erfahrungen mit dem göttlichen Licht ermöglichen, die letztlich auf die Verbindung mit der höchsten Gottheit („Radhasoami“) zielen. Ich ziehe es vor, mich nicht initiieren zu lassen. Leider verpasse ich dadurch auch, wie die im Erdgeschoss zeitgleich angebotene „Kinderinitiation“ vonstatten geht, bei der es zuvor lebendig wie in jeder größeren Kinderbetreuung zugegangen war. Ich sehe mich auf den Büchertischen um („Die Weisheit der erwachten Seele“ von Rajinder Singh; „Die Quelle aller Liebe“ von Darshan Singh; „Der Pfad nach innen“ von Kirpal Singh) und bei den Videos, die von allen Auftritten angefertigt werden. Draußen auf dem Parkplatz stehen Busse aus Ungarn, Österreich und der ganzen Bundesrepublik. Und der flotte BMW steht wieder für den Guru und seinen Tross bereit.Die „Wissenschaft der Spiritualität“ (Science of Spirituality) mit Sitz in München betreibt keine Wissenschaft, sondern verbreitet mit über 70 „Zentren“ in Deutschland, einem guten Dutzend in Österreich und einigen mehr in der Schweiz die Botschaft des Sant Mat, der „Lehre der Heiligen“. WdS ist eine von mindestens vier Nachfolgeorganisationen des von Sant Kirpal Singh (1894-1974), dem Großvater Rajinders, gegründeten Ruhani Satsang. Der Lebende Meister (und er allein) leitet zum „Meditationspfad des inneren Licht- und Tonstroms“ (Surat Shabd-Yoga) an, einem Erkenntnisweg der reinen Innerlichkeit. Dabei soll religiöses Urwissen der Menschheit zum Zug kommen, das nicht nur zum Frieden und der Einheit der gesamten Menschheit zu führen, sondern letztlich auch von der Vorläufigkeit der verfassten Religionen zu befreien verspricht.


Friedmann Eißler