Satsang-Bewegung
Die Satsang-Bewegung ist eine westliche Variante der hinduistischen Advaita-Philosophie. Im Zentrum der Bewegung steht die individuelle Suche nach „Erleuchtung“. Satsang ist eine Bezeichnung aus dem Hinduismus für das Zusammensein eines spirituellen Lehrers mit seinen Schülern. „Sat“ bedeutet „Sein“, „Wirklichkeit“ oder auch „Wahrheit“. „Sang“ steht für „Zusammenkommen“ oder „Gemeinschaft“.
Ursprünge
Der Begriff des Satsangs findet sich auch in anderen Traditionen. Bekannt sind Beispiele aus der Sant-Mat-Lehre im Sikhismus. Davon ist die hier beschriebene Satsang-Bewegung zu unterscheiden. Sie beruft sich auf Ramana Maharshi (1879-1950). Er gilt als einer der wichtigsten neueren Vertreter des Advaita-Vedanta, eine der einflussreichsten philosophischen Richtungen des Hinduismus. Advaita bedeutet im Sanskrit „Nicht-Zweiheit“. Der Zustand der Einheit ohne alle Unterscheidung kann nur Brahman zukommen. Er ist das Absolute, Göttliche. Jede Subjekt-Objekt-Trennung sowie alle Erscheinungsformen gelten als Illusion bzw. unvollkommene Erkenntnis. Nur Brahman allein, als Urgrund aller Erscheinungen, ist wirklich. Ziel des menschlichen Lebens nach der Advaita-Vedanta ist es, Brahman als das allein Wirkliche und Unveränderbare zu erkennen. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass das eigene wahre Selbst (Atman) mit Brahman identisch ist. Solange das nicht geschieht, befindet sich der Mensch in einer Täuschung über sich selbst, verstrickt in die Erscheinungen der Welt. Das Erwachen aus dem Zustand der Illusion wird Erleuchtung genannt. Gängige Bezeichnungen für das Erleben der Einheit von Brahman und Atman sind im westlichen Kontext („ewiges“, „wahres“) „Bewusstsein“ oder „Selbst“.
Ramana Maharshi aus der Region Tamil Nadu in Südindien erkannte im Alter von 16 Jahren in einer Spontanmeditation, dass sein wahres Selbst unsterblich sei und unabhängig vom Körper existiere. Er erlebte dieses Selbst als das einzig Wirkliche, von dem eine machtvolle Faszination ausging. Ramana Maharshi verlor das Interesse an allem Alltäglichen, zog sich zum Berg Arunachala zurück und versank in jahrelanges Schweigen. Regungslos saß er im dortigen Shiva-Tempel oder in Berghöhlen, wo er von Verehrern versorgt wurde. Wahrheitssucher fühlten sich von seiner tiefen Versenkung angezogen, obwohl er selbst kein Guru sein wollte. Durch die Frage „Wer bin ich?“ versuchte Ramana ihnen einen Weg zur Erkenntnis des wahren Selbst zu zeigen, in dem sich das Ich als Illusion auflöse.
Neben Ramana Maharshi gibt es einige weitere indische Lehrer, auf die die westliche Satsang-Bewegung zurückgeht. Viele westliche Erleuchtungs-Sucher kommen aus der Anhängerschaft Osho Rajneeshs (1931-1990). Nach seinem Tod entdeckten einige seiner Schüler Poonja (1910-1997), einen Schüler Ramanas, als spirituellen Meister. Ein weiterer indischer Lehrer mit westlichen Schülern ist Ramesh Balsekar (1917-2009). Einige westliche Lehrer gelten als Spontanerwachte ohne Lehrer (z. B. Eckhart Tolle, John de Ruiter, Byron Katie). Inzwischen gibt es zahlreiche Satsang-Lehrer, die als Schüler westlicher Lehrer „erwachten“.
In Satsang-Kreisen ist eine Zurückhaltung zu beobachten, von einer „Erleuchtung“ westlicher Lehrer zu sprechen, auch wenn sie von einem eigenen Erwachen ausgehen. Immer wieder wird Poonja als Autorität mit der Aussage zitiert, dass Ramana Maharshi der einzige Erleuchtete gewesen sei, den er je getroffen habe. Einige seiner westlichen Schüler schickte Poonja als „Botschafter“ in den Westen, um die Lehre vom Erwachen zu verbreiten. Dazu zählen Gangaji, Andrew Cohen und Isaac Shapiro. Nur indirekt bejahen manche Lehrer die Frage, ob sie erleuchtet seien, indem sie ihren (erleuchteten) Zustand umschreiben.
Einen Überblick über die Satsang-Bewegung im deutschsprachigen Raum kann man sich auf der Internetseite www.jetzt-tv.net verschaffen. Ein Großteil der dort aufgelisteten etwa 120 Namen sind Satsang-Lehrerinnen und -Lehrer. Es ist davon auszugehen, dass jeder Lehrer eine Anzahl verbindlicher Schüler um sich schart. Daneben gibt es eine freie Szene von Interessierten, die verschiedene Lehrer aufsuchen. Zu den bekannten Lehrerinnen und Lehrern in Deutschland zählen Om C. Parkin, Pyar Troll und Samarpan. Auch englischsprachige Lehrer wie Mikaire und Eli Jaxon-Bear haben Schüler in Deutschland.
Praxis und Lehre der westlichen Satsang-Bewegung
Satsang-Lehrer bieten meist regelmäßig an einem Ort Satsang an, darüber hinaus laden sie an verschiedenen Orten zu mehrtägigen Retreats ein. Einige Lehrer gründen Gemeinschaften, in denen sie zusammen mit Schülern leben. Englischsprachige Satsang-Lehrer touren jährlich durch Deutschland und ziehen Scharen von Fans an. Die Satsangs sind meist offene Veranstaltungen. Eine feste Schülerschar mischt sich mit noch unverbindlich Interessierten. Satsang-Stars füllen Hallen mit mehreren hundert Menschen. Je nach Lehrer variiert die Gestaltung des Satsangs. Oft wird Satsang-Musik live oder vom Band eingespielt. Bei manchen Lehrern haben Zeiten der Stille ein großes Gewicht, bei anderen überwiegen die Redeteile. Oft steht am Anfang des Satsangs eine Lehrrede. Ein typisches Element des Satsangs sind lange Blickwechsel zwischen Lehrer und Schülern, aus der hinduistischen Tradition als Darshan bekannt. In der Regel stellen die Schüler bzw. Gäste dem Lehrer Fragen. Manche Lehrer laden Schüler ein, für einen nahen Blickkontakt vorn bei ihnen auf einem Stuhl Platz zu nehmen. Je nach Temperament des Lehrers geht es unterhaltsam zu.
Die Stille des Erwachten und tiefe Blickwechsel mit ihm werden von den Schülern als faszinierende Begegnung mit dem „wahren Selbst“ oder „ewigen Bewusstsein“ erfahren, von dem eine unwiderstehliche Sogwirkung ausgehe. Sowohl diese Praxis als auch die Frage-Antwort-Techniken sollen die Schüler dazu bringen, das Denken zu unterbrechen und ebenfalls in Stille und ihrem wahren Selbst zu versinken. Es gelte die Identifikation mit den eigenen Gedanken, Vorstellungen, Gefühlen und dem eigenen Körper aufzugeben und damit die Vorstellung eines Ichs, einer Person mit einer eigenen Identität und Geschichte.
Der „Witz“, wie die Erwachten zum Teil sagen, sei die Erkenntnis des Suchers, dass er schon erleuchtet sei und nur die Suche aufgeben müsse. Am Satsang Interessierte haben oft schon eine jahrelange spirituelle Suche hinter sich. Das im Satsang versprochene Erwachen zum Ruhen im wahren Selbst verbindet sich mit der Hoffnung auf ein Ende allen Leidens, auf einen tiefen und unerschütterlichen Frieden und Gleichmut in allen Lebenslagen. Erwachte beschreiben ihr neues Bewusstsein als ein Sein ganz in der Gegenwart. Vergangenheit und Zukunft würden als Illusion erkannt und hätten ihre Bedeutung verloren. Im Hier und Jetzt sei alles gut, so wie es ist. Eine gelegentlich geäußerte Kritik aus der angrenzenden spirituellen Szene an dieser Art des Satsangs wendet sich gegen das Versprechen, ohne Anstrengung und Methode zur Erleuchtung gelangen zu können. Zum Teil lassen sich deterministische Vorstellungen ausmachen, wenn von der Führung bei der spirituellen Suche durch das „ewige Bewusstsein“ ausgegangen wird.
Die hier so bezeichnete Satsang-Bewegung hat keine verbindliche Selbstbezeichnung und keine festen Organisationsstrukturen. Verbunden ist die Bewegung durch eine inhaltliche Übereinstimmung in der Lehre und die Praxis des Satsangs. In der Szene anerkannte Satsang-Lehrer kennen sich untereinander und sprechen in der Regel mit Achtung voneinander. Je größer die Zahl der Satsang-Anbieter wird, umso mehr ist die Szene bemüht, sich von „Scharlatanen“ abzugrenzen, hat dabei aber Mühe, Kriterien zu nennen, an denen „seriöse“ Lehrer erkannt werden können. Zum Teil wird auf die Fähigkeit verwiesen, Schüler zum Erwachen zu führen. Zur Legitimierung dient in der Regel auch die Bestätigung des Erwachtseins durch einen anerkannten Lehrer. Intern wird angesichts der zahlreichen Neu-Erwachten die Befürchtung geäußert, dass man unter der Bezeichnung „Satsang“ nur noch „die Suppe von der Suppe von der Suppe“ bekomme. Der Zustand des Erwachtseins kann sich ändern und verloren gehen. Ehemalige Satsang-Lehrerinnen haben öffentlich „Scheitern“ und Selbsttäuschung eingeräumt, verbunden mit einer Kritik an der in der Szene verbreiteten Leichtgläubigkeit und der Selbstherrlichkeit mancher Lehrer. Relativ offen werden Probleme des Machtmissbrauchs in der Szene angesprochen und diskutiert. Zwar geht man von der Möglichkeit des Spontanerwachens ohne Lehrer aus. In der Regel wird aber die Bedeutung des Lehrers für das Erwachen des Schülers betont.
Transformationen von Lehre und Praxis
Die Überzeugung, dass Erleuchtung für jeden Menschen in diesem Leben möglich ist, wurde zwar zunächst von indischen Lehrern geäußert, kann aber als Teil der Transformation der hinduistischen Advaita-Lehre in den westlichen Kontext verstanden werden. Liselotte Frisk vergleicht die für den hinduistischen Kontext unüblich häufigen Erweckungserlebnisse im Westen mit den im christlichen Frömmigkeitsspektrum verbreiteten Bekehrungserlebnissen. Während das höchste religiöse Ziel der Erleuchtung im Hinduismus nur sehr wenigen Menschen vorbehalten ist, scheint es nach westlichem Verständnis selbstverständlich – geprägt von der Vorstellung, dass die Erlösung in Christus allen Menschen gilt –, das höchste Heil für alle Menschen zugänglich zu halten. Auch das Meister-Schüler-Verhältnis stellt sich im westlichen Kontext weniger verbindlich dar als im Hinduismus. Meister und Schüler verstehen ihre Begegnung eher „auf Augenhöhe“.
Neu in der westlichen Adaption der östlichen Tradition ist auch, dass Erwachte sich nicht von der Welt zurückziehen, sondern ihr alltägliches Leben in Ehe, Familie und Beruf weiterleben. Frisk weist auch darauf hin, dass sich die hinduistische Vorstellung eines „heiligen Selbst“, einer Identität von Brahman und Atman, unter dem Einfluss moderner westlicher Psychologie zu einer „heiligen individuellen Person“ verändert habe. Zwar ist zentral davon die Rede, das Ich aufzugeben, aber praktisch spielen therapeutische Methoden der persönlichen Erfahrung und der Arbeit an sich selbst eine große Rolle.
Einschätzung
Die Satsang-Bewegung scheint vor allem durch ihren undogmatischen und erfahrungsbetonten Charakter zeitgemäßen Erwartungen an Religiosität entgegenzukommen. Sie kommt ohne eine Rede von Gott aus und bietet eine machbare Erlösung in diesem Leben an. Die beschriebenen Erfahrungen von Erwachten hinterlassen einen ambivalenten Eindruck: Ein besonders intensives Erleben des Augenblicks geht mit einer seltsamen Distanz zum eigenen Erleben und Menschsein einher. Einige Satsang-Lehrer bestätigen die Gefahr des Wunsches, vor dem gewöhnlichen menschlichen Leben mit seinen Unzulänglichkeiten in das Erwachen zu fliehen.
Problematisch kann sich das Lehrer-Schüler-Verhältnis auswirken. Die Schüler projizieren zum Teil ungeheure Erlösungsvorstellungen auf den Lehrer. Das Schweigen und die ungewöhnlich langen Blickkontakte produzieren Unklarheiten. In der besonderen Gruppendynamik etabliert sich die Unantastbarkeit der Position des Lehrers. Da sich der Lehrer in einem besonderen Zustand der Erkenntnis und Wahrheit wähnt, besteht die Gefahr seiner mangelnden kritischen Distanz gegenüber eigenen Ansichten und Verhaltensweisen. Nicht alle Satsang-Lehrer können mit den überhöhten Erwartungen ihrer Schüler umgehen. Bei einzelnen Anhängern besteht die Gefahr der Abhängigkeit vom Lehrer. Der Problemdruck kann sich bei psychisch kranken Menschen erhöhen, da Satsang eher eine Auflösung der Persönlichkeit anstrebt statt einer bei ihnen eigentlich notwendigen Stabilisierung.
Aus christlicher Sicht besteht zwischen Gott und Menschen keine Einheit. Gott tritt mit dem Menschen in eine Beziehung, bleibt aber immer ein Gegenüber. Nach christlichem Verständnis gibt es für den Menschen in dieser Welt keine ungebrochene Beziehung zu Gott, seinen Mitmenschen, sich selbst und der Schöpfung. Eine endgültig heile Existenz erwartet den Menschen in Gottes Zukunft, die allerdings schon heilsam in die Gegenwart einbricht. Nicht zuletzt aus diesen Gründen ist es als problematisch anzusehen, wenn Jesus durch die Satsang-Bewegung vereinnahmt wird, indem sie ihn unter die Erleuchteten rechnet.
Claudia Knepper
Internet
Zeitschriften
EnlightenNext. Das Magazin für Evolutionäre, hg. von Andrew Cohen (früher: What is Enlightenment?)
advaita Journal, hg. als Jahrbuch von der Satsang Allionce / Om C. Parkin
connection Spirit, hg. von Wolf Schneider
Quellen
Katie, Byron, Lieben, was ist, München 2002
Maharshi, Ramana, Sei, was du bist, hg. von David Godman, München 2001
Tolle, Eckhart, Leben im Jetzt, München 2002
Literatur
Bittrich, Dietmar / Salvesen, Christian, Die Erleuchteten kommen. Satsang: Antworten auf die wichtigen Fragen des Lebens, München 2002
Die Advaita- oder Satsang-Bewegung, in: Georg Schmid / Georg Otto Schmid (Hg.), Kirchen, Sekten, Religionen, Zürich 72003, 355-358
Ehrhardt, Rike, Ein Guru im Wohnzimmer. Erleuchtung für Jedermann, in: MD 6/2005, 233-236
Frisk, Liselotte, The Satsang Network. A Growing Post-Osho Phenomenon, in: Nova Religio 6/2, 2002, 64-85
Salvesen, Christian, Advaita. Vom Glück, mit sich und der Welt eins zu sein. Philosophie und Praxis einer universalen spirituellen Lehre, Bern 2003
Utsch, Michael, Behandlungsziel Erleuchtung: Die Satsang-Bewegung, in: Reinhard Hempelmann u.a. (Hg.), Panorama der neuen Religiosität, Gütersloh 22005, 180-189
Utsch, Michael, Die Satsang-Szene zwischen Etabliertheit und Kritik, in: MD 2/2007, 65-68
Wer bin ich wirklich? Advaita – Satsang – Erwachen, in: connection special 50, 4/2000