Satsang - ein neureligiöses Phänomen breitet sich aus
Der aus dem Hinduismus stammende Begriff Satsang kann als "Zusammensein mit der Wahrheit" übersetzt werden. Immer mehr Menschen behaupten von sich, den Zustand ihrer "wahren Natur", von absoluter Konfliktlosigkeit und tiefem Frieden, von "Bewusstsein pur" erreicht zu haben. Die Mission der Satsang-Lehrer als verkörperter Wahrheit besteht darin, diesen Bewusstseinszustand reiner Präsenz an andere weiterzugeben. Einer von ihnen machte in den letzten Wochen von sich reden: Eckhart Tolle.
Tolle wurde 1948 in Dortmund geboren. Im Alter von 13 Jahren zog er zu seinem Vater nach Spanien, siedelte später nach England über, holte dort das Abitur nach und studierte in London und Cambridge Romanistik. Geplagt von Depressionen, Angstgefühlen und Selbstmordabsichten, machte er als 29-Jähriger eines Nachts eine tiefgreifende spirituelle Erfahrung, die sein Leben von Grund auf änderte: Er entdeckte die Bedeutungslosigkeit von Vergangenheit und Zukunft und die Kraft der Gegenwart. Nach seiner "Erleuchtung", die ohne eine spirituellen Lehrer eintrat, ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und verbrachte nach eigenen Angaben zwei Jahre auf Parkbänken, um den tiefen, entrückten Zustand von Frieden und Glück zu verarbeiten. 1993 zog er nach Kalifornien und später nach Kanada, wo er heute als Berater und spiritueller Lehrer tätig ist.
Tolles Bestseller "Jetzt! Die Kraft der Gegenwart" erschien 1998, wurde mittlerweile in 32 Sprachen übersetzt, nach Verlagsangaben weltweit über drei Millionen Mal verkauft und erreichte 2002 wochenlang den Platz 1 auf der Bestsellerliste der "New York Times". "Meister Eckhart" - so das Magazin "Focus" kürzlich - sei inzwischen der Guru für Hollywood, weil viele Prominente auf Tolles Einsichten setzen.
Kein Wunder, dass Tolles simple Lehre eines Lebens in konfliktloser Gegenwärtigkeit in esoterischen Zeitschriften und alternativen Gesundheitsmagazinen vielfältig aufgegriffen wird. Im Mai diesen Jahres war Tolle zum zweiten Mal auf Vortragstournee in Europa. Seine einzige Veranstaltung in Deutschland fand in Fürstenfeldbruck statt und lockte etwa 900 Seminarteilnehmer an. "Die Zeit" widmete dem Thema "spirituelles Erwachen durch Satsang-Lehrer" Ende Juni einen vierseitigen Leitartikel, der neben Tolle noch die Veranstaltungen von zwei anderen "erleuchteten" Meistern, dem ehemaligen Poona-Therapeuten Paul Lowe aus England und dem "Nachwuchs-Erwachten" Thomas Hübl aus Österreich, beschrieb und zum Teil polemisch kommentierte. Sucht man auf der Internetseite der "Zeit" nach den angekündigten weiteren Informationen, wird dort lediglich auf die Internetpräsenz der drei genannten Lehrer hingewiesen - kritische Hinweise fehlen auch dort ganz.
Was also ist von dieser neuen religiösen Bewegung zu halten?
Die Satsang-Bewegung ist ein internationales Phänomen. Nicht nur in Deutschland (die bekanntesten: Cederik Parkin, Hamburg; Pyar Troll, München, Samarpan, Frankfurt), auch in anderen westlichen - europäischen wie amerikanischen - Ländern scharen selbst ernannte Satsang-Lehrer Anhänger um sich.
- Ihre Botschaft der All-Einheit oder Nicht-Zweiheit ("A-Dvaita") ist im Hinduismus verwurzelt. Während dort aber Erleuchtung mit einem langen und entbehrungsreichen Übungsweg verbunden und religiös-kulturell verankert ist, wird Erleuchtung in der westlichen Satsang-Szene vielfach als ein sozial vermittelbarer Bewusstseinszustand verstanden - durch das "Zusammensein mit der Wahrheit" als Teilnehmende an Satsang-Seminaren.
- Die Projektionen auf "Erleuchtete" sind riesig, und viele Satsang-Lehrer können damit nicht umgehen. Auch psychisch Kranke erhoffen sich dort Befreiung aus ihrer inneren Zerrissenheit. Intensive Gruppenerlebnisse und Visualisierungsübungen verschlimmern den angeschlagenen seelischen Zustand jedoch nur. Nicht die Auflösung der Persönlichkeit, sondern ihre Stabilisierung ist für solche Menschen wichtig! Deshalb nehmen die Konflikte und der Beratungsbedarf zu.
- Der Satsang-Ideologie fehlt der Mut zur Unvollkommenheit, zur Schwäche und zum Vorläufigen. Sie verhindert Entwicklungsprozesse, weil sie keine Spannungen und Widersprüche aushält und Krisen nicht als Entwicklungschancen begreift. Gerade die Anerkennung körperlicher, seelischer und biographisch bedingter Grenzen macht das Menschliche aus und verleiht jedem Charakter ein unverwechselbares Profil und eine eigene Schönheit.
Zur weiteren Information
D. Bittrich, C. Salvesen, Die Erleuchteten kommen. Satsang: Antworten auf die wichtigsten Fragen des Lebens, München 2002
L. Frisk, The Satsang Network. A Growing Post-Osho Phenomenon, Nova Religio 6/2 (2002), 64-85
C. Salvesen, Advaita. Vom Glück, mit sich und Welt eins zu sein, Bern 2003
M. Utsch, Die Satsang-Bewegung, in: Panorama der neuen Religiosität, hg. v. R. Hempelmann u.a., Gütersloh 2001, 192-199
Michael Utsch