Schattenstaat und Puppenspieler
Über den Umgang mit Verschwörungstheorien
Anfang 2018 veröffentlichte die bayerische Kabarettistin Lisa Fitz im YouTube-Kanal des bekannten Verschwörungstheoretikers Heiko Schrang1 ihren Song „Ich sehe was, was du nicht siehst“. Darin schwadroniert sie über „den Schattenstaat“ und „die Puppenspieler“ hinter den Kulissen des Weltgeschehens und nennt an erster Stelle der „Schurkenbanken“ und „Gierkonzerne“ die Rothschilds.2 Journalisten von Welt, Abendzeitung, Frankfurter Rundschau und andere warfen Fitz vor, antisemitische Klischees zu bedienen und mit Codewörtern wie „Rothschilds“, „Goldman Sachs“ oder „Soros“ eine Weltverschwörung des „Finanzjudentums“ zu attribuieren. Die Künstlerin verteidigte ihren monochromen Sprechgesang als „politisches Lied in der Tradition von Wolf Biermann und François Villon“ und beschimpfte Kritiker via Twitter als „depperte Baggage“.
Ob Lisa Fitz „tatsächlich Antisemitin ist und auf diverse Verschwörungstheorien abfährt“, ist schwierig zu beurteilen.3 Fraglos aber durchzieht konspirologisches Denken sowohl das Video als auch die Repliken der Sängerin auf diesbezügliche Vorhaltungen. In der Auseinandersetzung um „Ich sehe was, was du nicht siehst“ bündeln sich wie in einem Brennglas typische Argumentationsmuster der verschwörungsfreundlichen Szene. Ein Abgleich mit dem aktuellen Forschungsstand zum Thema Verschwörungstheorien bringt eine Reihe von gängigen Falschbehauptungen zutage und dekonstruiert zugleich die forschen Selbstbewertungen von Verschwörungstheoretikern: „Übrigens hat den Begriff ‚Verschwörungstheorie‘ die CIA erfunden in der Zeit des Kennedy-Mordes, weil ihr die Zweifler an der offiziellen Einzeltäter-Version zu zahlreich wurden“, erklärte Fitz in einem Gespräch mit dem Donaukurier.4
Zahlreiche „alternative“ Webseiten wie RT Deutsch5 oder Pravda TV6 behaupten, der Begriff „conspiracy theory“ sei vom amerikanischen Geheimdienst CIA geschaffen worden, um Kritiker des Warren-Reports (nach dem John F. Kennedy von Lee Harvey Oswald als alleinigem Täter erschossen wurde) zu diskreditieren. Als „Beweis“ dient ihnen ein CIA-Dokument mit der Nummer #1035-960Kampfbe aus dem Jahr 1967. Darin werde das Wort „Verschwörungstheoretiker“ als „griff der psychologischen Kriegsführung“7 etabliert. Beides ist falsch.
Keine CIA-Erfindung
Im deutschsprachigen Raum findet sich das Wort „Verschwörungstheorie“ bereits 1787 im Journal für Freymaurer. Der englische Begriff „conspiracy theory“ ist für das Jahr 1869 belegt.8 In amerikanischen Zeitungen kursierte der Begriff um 1880, und zwar im Zusammenhang mit der Aufklärung von Verbrechen. Bei einem ungelösten Todesfall stellten Ermittler zum Beispiel eine „suicide theory“, eine „murder theory“ und eine „conspiracy theory“ einander gegenüber – letztere keineswegs abwertend, sondern als gleichrangige Option beziehungsweise Beschreibung des unerkannten Zusammenwirkens mehrerer Personen. Als 1967 die CIA das Dokument #1035-960 herausgab, war der Begriff „Verschwörungstheorie“ längst mit einer delegitimierenden Komponente versehen worden. Als federführend hatten sich hierbei der Philosoph Karl Popper („Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, 1945) und der US-Historiker Richard Hofstadter („The Paranoid Style in American Politics“, 1965) hervorgetan. Popper etwa bezeichnete Verschwörungstheorien als „primitive Art des Aberglaubens und säkularisierte Dämonologie“.
Es ist zwar korrekt, dass das CIA-Dokument #1035-960 Argumente enthielt und Material bereitstellte, um die damals populären Verschwörungstheorien zum Kennedy-Attentat zu entkräften. Dafür klinkten sich die Geheimdienstler aber bloß in das geistige und gesellschaftliche Klima jener Zeit ein. Weder ist das Wort „conspiracy theory“ ein Neologismus der CIA noch brachte erst die prominente US-Bundesbehörde den Ausdruck in Verruf.
Delegitimierender Begriff?
Sogar die Befürchtung mancher Experten auf Diskursebene, mit dem Wort „Verschwörungstheorie“ würden entweder Spekulationen über möglicherweise reale Verschwörungen vorschnell delegitimiert, da der Begriff „Verschwörungstheorie“ eher negativ konnotiert ist und abwertend verwendet wird, oder aber im Gegenteil abstruse Gedankengebäude grundlos als wissenschaftliche Theorien geadelt, scheint an der Lebensrealität vorbeizugehen. Der Begriff ist offenbar keineswegs so stark normativ aufgeladen, wie dies herbeigeredet wird.
Der Psychologe Michael Wood von der Universität Winchester bat Versuchspersonen, verschiedene Szenarien nach ihrem Wahrheitsgehalt zu beurteilen.9 Er präsentierte diese Darstellungen entweder als „Idee“ oder als „Verschwörungstheorie“. Für die Probanden spielte die Titulierung mehrheitlich keine Rolle. Sie machten bei der Bewertung des Wahrheitsgehalts keinen Unterschied zwischen einer Idee und einer Verschwörungstheorie. Unter anderem deswegen spricht wenig dagegen, „Verschwörungstheorie“ und „Verschwörungstheoretiker“ weiter zu verwenden – auch wenn in der Forschung umstritten ist, ob es sich bei Verschwörungstheorien um „Theorien“ im akademischen Sinne handelt. Ja – meint etwa der Tübinger Kulturhistoriker Michael Butter10, denn „subjektiv leisten Verschwörungstheorien, was man von Theorien im Allgemeinen erwartet: Sie erklären einerseits bereits Geschehenes und erlauben andererseits Vorhersagen über die Zukunft“. Nein – sagt der Politikwissenschaftler Armin Pfahl-Traughber11, da Verschwörungstheorien nicht durch gegenteilige Beweise korrekturfähig, also nicht falsifizierbar, seien.
Verschwörungsmythen statt -theorien?
Aus dieser konträren Sichtweise wird zugleich deutlich, dass es derzeit keine allgemein akzeptierte Definition gibt, was eine Verschwörungstheorie eigentlich ist. Daher ist in diesem Beitrag weiterhin durchgehend von „Verschwörungstheorien“ die Rede. Nicht nur wegen der etablierten Gebräuchlichkeit des Begriffs, sondern auch, weil Umbenennungen wie zum Beispiel „Verschwörungsmythen“, „Verschwörungsnarrative“, „Verschwörungsideologien“ oder Ähnliches das reale Gebaren und die Geisteshaltung von Verschwörungstheoretikern noch viel weniger treffend abbilden. Denn natürlich lenken Verschwörungstheorien auch vom Alltag ab, beschäftigen unsere Fantasie, lassen das Leben interessanter erscheinen, glänzen mit dem potenziell Möglichen und können deshalb gleichermaßen als „gute Geschichten“ oder Mythen betrachtet werden, die Sinn stiften und die Welt strukturieren. Das ist aber nicht der Anspruch von Verschwörungstheoretikern, die sich zu „Querdenkern“, „Aufklärern“ oder „Wahrheitssuchern“ stilisieren – und damit durchaus eine semantische Beziehung zu dem Begriff „Verschwörungs-Theorie“ herstellen. Warum sie die Titulierung als „Verschwörungstheoretiker“ in aller Regel empört zurückweisen, ist nicht ganz leicht nachzuvollziehen. Möglicherweise liegt es daran, dass sie selbst ihre Weltwahrnehmung und ihr Argumentationsmuster in Verruf gebracht haben.
Und das bringt uns zum nächsten Punkt: Der Begriff „Verschwörungstheorie“ werde benutzt, um „kritische Leute mundtot zu machen – wie bei mir in den letzten Tagen“, sagte Fitz dem Donaukurier weiter.
Zu Recht wies Fitz‘ Interviewpartner die Sängerin darauf hin, dass ein entscheidender Unterschied darin besteht, „ob man Vorurteile verbreitet oder konkrete Missstände benennt“. Ein Text wie „Die Welt wird fieser und an wem mag’s liegen? … Der Schattenstaat, die Schurkenbank, der Gierkonzern. Wer nennt die Namen und die Sünden dieser feinen Herrn? Rothschilds, Rockefeller, Soros & Konsorten, die auf dem Scheißeberg des Teufels Dollars horten“ stellt Zustände und Ereignisse nicht produktiv infrage, sondern spiegelt destruktive Pseudoskepsis wider, hinter der eine selbstgerechte, scheinkritische Haltung und ein festgefügtes Weltbild stehen.
Die verschwörungstheoretische Versuchung
Offenkundig erliegt Fitz jener „verschwörungstheoretischen Versuchung“, welche der Historiker Dieter Groh bereits 1987 skizzierte:12 komplexe Vorgänge und Strukturen auf simple, überschaubare Zusammenhänge zu reduzieren und zu unterstellen, dass unsichtbare Mächte das Geschehen lenken und die Bevölkerung kräftig übers Ohr hauen. Verschwörungstheorien zeichnen von politischen Prozessen ein realitätsverzerrendes Bild, in dem Zufälle, individuelle Fehleinschätzungen und Versäumnisse, Irrtümer, Unfähigkeit, Kompromisse, Getriebensein etc. keine Rolle spielen. Ihre Funktion besteht zuvörderst darin, eine Ordnung in das moderne Chaos zu bringen – wie eine „Weltformel des Übels“, die vom Untergang der Titanic (als Versicherungsbetrug) bis zur gegenwärtigen Flüchtlingssituation alles in einen einzigen Zusammenhang verpackt. Intensiveres Hinschauen, Hinterfragen, Recherchieren und Abwägen ist mühsam, die Vorstellung, dass hinter allem, was man als beängstigend und falsch empfindet, ein niederträchtiger Plan steht, der einen in eine bequeme Opferrolle drängt, umso attraktiver. Indem er tief in die Mottenkiste hergebrachter Ressentiments greift (etwa die judenfeindlichen Stereotype wie Geldgier, geheime Machenschaften und so weiter), illustriert Lisa Fitz‘ Song zugleich das Gefährliche an Verschwörungstheorien: dass sie häufig eine Sündenbockfunktion haben, also Feindbilder produzieren.13
Verschwörungsglaube ist Pseudoskepsis
Die Behauptung, kritisches Hinterfragen, gesunde Skepsis und das Streben nach Aufklärung werde als „Verschwörungstheorie“ abqualifiziert, decouvriert sich vor diesem Hintergrund als haltlose Unterstellung zur Selbstaufwertung. Lisa Fitz‘ Inszenierung als Systemkritikerin und mutige Tabubrecherin zeigte die typischen inhärenten Risse spätestens beim Umgang mit ihren Kritikern.
In einem Beitrag14 für das bayerische Onlineportal Da Hog’n unterstellte sie einem Kommentator, er sei „unbelesen und naiv“, es fehle ihm an politischem Hintergrundwissen, und er solle „am besten weiterhin die Sendung mit der Maus anschauen“. In einem „Helene-Fischerisierten Land“ könne man Verständnis dafür, dass man „die Kritik in einem Lied in 4 bis 5 Minuten auf den Punkt bringen und verdichten“ müsse, „wohl nicht voraussetzen“. Anstatt auf konkrete Argumente einzugehen, wiederholte die Kabarettistin im Grunde nur leicht umformuliert die erste Strophe von „Ich sehe was, was du nicht siehst“: „Ich sehe was, was du nicht siehst, weil‘s nicht so irre lustig ist. Ich sehe das, was du nicht sehen willst – weil du blind bist und lieber shoppst und chillst.“
Auch mit solchen Einlassungen bestätigt Fitz neuere wissenschaftliche Erkenntnisse. Verschwörungstheorien sind ein Ego-Booster. Verschwörungstheoretiker halten sich selbst für eine Wissenselite, Teil einer großen Aufklärungsbewegung, die hinter die Kulissen schaut, den Schleier lüftet und exklusive Erkenntnisse besitzt, durch die sie sich der Masse der „Schlafschafe“ und „Medienzombies“ überlegen fühlen kann. Je deutlicher man den Gegensatz zu „den Manipulierten“ betont, desto vehementer kann man sich einkapseln und die selbst behauptete Marginalisierung als eine Art Adelsprädikat des „freien Denkens“ ausgeben.
Vereinfachte Welterklärungen
Das Fatale an dieser Haltung erklärt die Netzaktivistin Annika Kremer: „Während man Misstrauen und kritisches Hinterfragen predigt – an sich durchaus sinnvolle Ratschläge –, wird den Veröffentlichungen selbst ernannter Gurus oder ‚alternativer Medien‘ blind Glauben geschenkt. So ist eine informierte Meinungsbildung, die alle Seiten berücksichtigt, praktisch ausgeschlossen. Alles, was der jeweiligen Theorie widerspricht, wird als Propaganda oder als Irrtum verblendeter Schlafschafe abgetan. Wer glaubt, den Schuldigen für – zweifellos reale – soziale Missstände und Ungerechtigkeiten gefunden zu haben, der hört auf zu fragen. Glaubt man, dass die Bilderberger oder die jüdische Weltverschwörung an allem Übel schuld sind, verliert man leicht die weitaus kompliziertere – und keineswegs weniger besorgniserregende – Realität aus den Augen.“15
In der Tat fiel Lisa Fitz zu dem Vorwurf, sie verwende die jüdische Bankiersdynastie Rothschild als klassisches antisemitisches Erklärungsmuster, wenig mehr ein als lapidare Phrasen wie zum Beispiel: „Dass über den Politikern die Konzerne sitzen und darüber die Finanzmacht, das ist heute ja inzwischen schon Allgemeinwissen.“ Oder: „Die Rockefellers gehen im Weißen Haus ein und aus, die Rothschilds haben mit ihren Goldreserven Bürgerkriege mitfinanziert, Kriegsanleihen abgesichert, Regierungsreserven wurden mit Gold von Rothschild gestützt u. v. m.“16 Nun will Fitz aber keineswegs nur „Allgemeinwissen“ auffrischen, sondern nimmt mit ihrem Song für sich in Anspruch, „Elitenwissen“ zu „enthüllen“ und „die Verbrecher gegen Liebe und das Menschenrecht“ aus dem „Fuchsbau“ zu „jagen“ und sie zu „zerknüllen“. Je stärker aber die angeblichen Akteure in einer Verschwörungstheorie dämonisiert werden, umso mehr kann man davon ausgehen, dass die Verschwörungstheorie ein Fantasieprodukt ist. Denn in unserer multikausalen Gegenwart haben wir es mit hoch komplexen Systemen zu tun, in denen sich eine Vielzahl von Akteuren mit zum Teil widerstrebenden Interessen, Zielen und Absichten tummeln – die allesamt mit Problemen der realen Welt zu kämpfen haben. Bei seinem Amtsantritt als neuer Leiter des Geldhauses Rothschild & Co. im Mai 2018 wurde Alexandre de Rothschild in der Süddeutschen Zeitung so zitiert: „In unserem Metier ist es unmöglich, sich allein im Namen der familiären Kontinuität durchzusetzen.“17 Seine Privatbank wies zuletzt einen Nettogewinn von 236 Millionen Euro aus. Zum Vergleich: Die Deutsche Bank kam im ersten Quartal 2017 auf einen Nettogewinn von 575 Millionen Euro.
Für sie sei das „Verschwörungspraxis und keine -theorie“, versuchte Fitz darüber hinaus den Vorwurf, sie verbreite Verschwörungstheorien, zu kontern18 und zählte „aus Zeit- und Platzgründen nur ein paar von unzähligen Beispielen zur Politik und zur Welt und zur Schattenmacht“ auf, die vom Elektroschrott-Export nach Afrika über „Amerikas Drohnenkrieger“ bis hin zum Abgasskandal um Dieselmotoren bei VW und BMW reichten. Zugleich wünschte sie sich19 „mehr mutige Journalisten, die helfen, reelle Verschwörungen aufzuklären, anstatt wie eine Papageienhorde nur immer das Wort Verschwörungstheorie zu krähen“. Die Geschichte sei eine einzige Abfolge von Konspirationen, Putschen und Verschwörungen, die „oft erst 10 bis 30 Jahre später als Realität aufgedeckt wurden“.
Wie viele Verschwörungstheoretiker subsumiert Fitz unter dem Begriff „Verschwörung“ undifferenziert ein Sammelsurium von fast allem, was böse, schlecht oder auch nur unmoralisch erscheint. Und die Existenz von echten oder auch nur vermeintlichen Verschwörungen scheint ihr als Grund zu genügen, um alles, was in der Welt passiert, in diesem Licht zu sehen. Allerdings werden Verschwörungstheoretiker nicht deswegen als solche tituliert, weil sie die unstreitige Tatsache verbreiten, dass es reale Verschwörungen gibt. Sondern weil sie ihren Annahmen eine ganz spezielle methodologische Herangehensweise sowie bestimmte Prioritäten zugrunde legen, die darauf abzielen, konkrete sinistre Täter zu identifizieren – so wie Fitz in „Ich sehe was, was du nicht siehst“. Und trotzdem (oder gerade deswegen) decken Verschwörungstheoretiker keine Verschwörungen auf, noch tragen sie etwas zu einer investigativen Recherche oder zur Aufklärung bei. „Da sind Journalisten, die in jahrelanger Arbeit Quellen kontaktieren und Archive auswerten, im Vorteil“, kommentiert die Schweizer Fachstelle für Sektenfragen „Infosekta“: „Sie werden nicht von einer grundlegenden Frustration der Welt gegenüber und einem Ohnmachtsgefühl angetrieben.“20
Reale und imaginäre Verschwörungen
Tatsächlich wurden nahezu alle Lügen, Skandale, Geflechte etc., die Fitz in ihrer Suada über „Verbrechen gegen die Menschen, die Natur und die Wirtschaftskriminalität“ [sic] auflistete, von den viel gescholtenen „Systemmedien“ aufgedeckt – und nicht etwa von virtuellen Pseudoenthüllern am heimischen PC.
Der Arzt und Autor Thomas Grüter nennt drei Exempel von globalen Verschwörungen aus der neuesten Zeit:21
- Russische Hacker haben zugunsten von Donald Trump systematisch in den amerikanischen Wahlkampf eingegriffen (sehr gut beschrieben z. B. in der New York Times vom 8. September 2017).
- Der Volkswagenkonzern hat in seine Dieselautos weltweit illegale Software eingebaut, um Abgaskontrollen auszutricksen. Andere Hersteller haben ähnliche Verfahren eingesetzt.
- Die asiatische und italienische Mafia verdient Millionen mit Wetten auf manipulierte Fußballspiele weltweit (Artikel dazu im Spiegel und bei Welt-Online).
„Bei allen drei Beispielen fällt auf“, schreibt Grüter in seinem Blog Gedankenwerkstatt: „Sie entsprechen keiner gängigen Verschwörungstheorie. Niemand hat sich im Internet die Finger wund geschrieben, um nachzuweisen, dass der VW-Konzern die Diesel-Abgasprüfung austrickst. Niemand hat gesagt: Das ist genau das, was ich seit Jahren behaupte!“
Ein Verschwörungstheoretiker verhält sich zum professionellen Historiker, Politologen, Enthüllungsjournalisten wie der Schatzsucher zum Archäologen, war Dieter Groh überzeugt: „Allerdings gibt es im Falle des Verschwörungstheoretikers keine Möglichkeit, ihn zu überzeugen, dass sein schnelles Graben in Dokumenten nur falsches Gold zum Vorschein gebracht hat.“ Statt eines analytischen Blickes wird ein bereits feststehender Erklärungsansatz auf alles angewendet und, wenn nötig, passend zurechtgebogen. Insofern unterscheiden sich reale Verschwörungen erkennbar von den imaginären der Verschwörungstheoretiker, erklärt Michael Butter22:
- Denn diese entwerfen erstens fast immer Szenarien, an denen dutzende oder mehr Verschwörer beteiligt gewesen sein müssen – man denke nur an die Anschläge des 11. September 2001. Reale Verschwörungen dagegen umfassen zumeist eine überschaubare Anzahl an Personen.
- Zweitens behaupten Verschwörungstheorien fast ausnahmslos, dass die Verschwörer über einen längeren Zeitraum aktiv sind. Sie nehmen reale oder imaginäre Gruppen wie Juden, Kommunisten, Illuminaten oder Aliens in den Blick und schreiben ihnen nicht nur eine Untat zu, sondern eine ganze Reihe von Verbrechen. Erwiesene Verschwörungen dagegen beschränken sich fast immer auf ein klar eingrenzbares Ereignis wie ein Attentat oder einen Staatsstreich.
- Entsprechend verstehen drittens Verschwörungstheoretiker Geschichte als eine Abfolge von Komplotten. Sie schreiben den Verschwörern die Fähigkeit zu, über Jahre, manchmal sogar über Jahrzehnte hinweg den Lauf der Dinge zu bestimmen. Die Erfahrung realer Verschwörungen aber zeigt, dass Geschichte mittel- oder gar langfristig nicht planbar ist. CIA und MI6 haben 1953 im Zuge der „Operation Ajax“ den iranischen Ministerpräsidenten Mohammed Mossadegh gestürzt; die iranische Revolution, die 1979 indirekt daraus folgte, wollten sie aber bestimmt nicht auslösen.
„Negative social impact“
Man mag Lisa Fitz‘ Song „Ich sehe was, was du nicht siehst“ und anderen grassierenden Verschwörungstheorien eventuell die Funktion eines Stimmungsbarometers zugestehen, das nicht im wörtlichen Sinne „Wahres“ anzeigt, sondern das Unbehagen vieler Menschen an schwer verständlichen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen zum Ausdruck bringt. Trotzdem ist der Glaube, dass jeder lügt, auch nur eine andere Art von Leichtgläubigkeit. Und die klischeestrotzenden Appelle der Sängerin à la „Wart nicht, mein Lieb, du musst dich sputen, die Zeit arbeitet nimmer für die Guten. Es ist nicht fünf vor zwölf – ‘s ist fünf nach eins und wenn du wo Gewissen suchst – gibt keins“ dürften so ziemlich das Gegenteil von dem bewirken, was Fitz vorgeblich anstrebt.
Die Sozialpsychologin Karen Douglas von der University of Kent stellte in verschiedenen Studien fest, dass Verschwörungstheorien einen „negative social impact“ haben.23 Douglas konfrontierte Versuchspersonen mit konspirologischem Geraune zu Themen wie Impfungen, Klimawandel sowie dem Unfalltod von Prinzessin Diana. In der Folge ging bei den Probanden die Impfbereitschaft ebenso zurück wie ihr Einsatz für die persönliche CO2-Bilanz und ihr politisches Engagement im Allgemeinen. Echtes politisches, soziales und gesellschaftliches Engagement wird durch Verschwörungstheorien unterminiert, weiß auch Michael Butter: „Wer das Gefühl hat, er wird von den Volksvertretern und der Elite angelogen, der klinkt sich irgendwann aus dem demokratischen Prozess aus. Oder er stimmt für eine populistische Alternative, die sich als die einzig wahre Stimme des Volkes präsentiert.“24
Dieser Effekt ließ sich beispielweise nach Oliver Stones Filmdrama „JFK – Tatort Dallas“ aus dem Jahr 1991 beobachten. Der Psychologe Philip Zimbardo befragte Kinogänger vor und nach dem Film zu ihren politischen Einstellungen und Überzeugungen. Am Ende der Vorführung hielten die Zuschauer eine Verschwörung zur Ermordung Kennedys für wahrscheinlicher. Zugleich fühlten sie sich hoffnungsloser und verärgerter als zuvor. Ihre Bereitschaft, zur Wahl zu gehen, war ebenso gesunken wie die, sich politisch zu engagieren. Die Suche nach einem Schuldigen für alles, was schiefläuft, nach den Gegenmächten, nach dem geheimen Plan, führt offenbar zu wenig mehr als resignativer Wut.
In einem Video-Interview mit Julia Jentsch25 zur Kritik an „Ich sehe was, was du nicht siehst“ mokierte sich Fitz über „psychologische Abhandlungen“, in denen verbreitet werde, dass Menschen, die Verschwörungstheorien anhängen, „alle geistig ein bisschen wirr oder dement oder alles Mögliche sind – auf jeden Fall blöd“.
Auch hier darf bezweifelt werden, ob Lisa Fitz wirklich „aufmerksam Zeitung liest“, wie sie behauptet.26 Denn aktuelle „psychologische Abhandlungen“ zum Thema Verschwörungstheorien kennt die Kabarettistin anscheinend gar keine. Die wissenschaftliche Suche nach den Persönlichkeitseigenschaften typischer Verschwörungstheoretiker hat bislang nichts Greifbares zutage gefördert, was auf „Spinner“ (im Sinne eines psychiatrischen Wahns) oder Paranoiker schließen lässt. Die Psychologen Marius Raab und Claus-Christian Carbon und die Wahrnehmungsforscherin Claudia Muth von der Uni Bamberg konnten aus der Studienlage nur „diese eine“ empirisch belegte und psychologisch begründete Aussage über Frauen und Männer, die an Verschwörungstheorien glauben, extrahieren:27 „Es sind ganz normale Menschen, mit einer Tendenz zu dem Gefühl, von der gesellschaftlichen und politischen Teilhabe ausgeschlossen zu sein.“
Machtlosigkeit und Isolation
Die maßgebliche Emotion in diesem Zusammenhang ist „Entfremdung“ – definiert als die Empfindung von Machtlosigkeit und Isolation. „Solche Menschen würden die Aussage Den meisten Menschen kann man vertrauen stark ablehnen. Die Aussage Menschen wie ich haben wenig Einfluss auf politische Entscheidungen würde dagegen auf starke Zustimmung stoßen.“ Verwandt mit dem Gefühl der Entfremdung sei ein Misstrauen gegenüber Staat und Medien. Ähnliche Resultate erbrachte eine Online-Befragung unter Studierenden, die vom Lehrbereich für empirische Sozialforschung des Instituts für Sozialwissenschaften der Berliner Humboldt-Universität durchgeführt wurde.28 Teilnehmer mit niedriger Demokratiezufriedenheit und hoher Politikverdrossenheit wiesen dabei einen signifikant höheren Glauben an Verschwörungstheorien auf. Für die Probanden waren Verschwörungstheorien offenbar eine Möglichkeit, mit der überbordenden Komplexität der Welt und den alltäglichen Überforderungen fertig zu werden.
Diese „grassierende Verschwörungsmentalität“29 lässt sich durchaus belegen. Die Leipziger „Mitte“-Studie von 2016 förderte zutage, dass 38,6 Prozent der Deutschen dem Satz zustimmen: „Es gibt geheime Organisationen, die großen Einfluss auf politische Entscheidungen haben.“ 34 Prozent stimmen der Aussage zu, dass die meisten Menschen nicht erkennen würden, „in welchem Ausmaß unser Leben durch Verschwörungen bestimmt wird, die im Geheimen ausgeheckt werden“. 28 Prozent stimmen teilweise, 34,8 Prozent stimmen voll zu, wenn es heißt: „Politiker und andere Führungspersönlichkeiten sind nur Marionetten der dahinterstehenden Mächte.“
Verschwörungsgläubige sind nicht krank
Menschen, die an Verschwörungstheorien glauben, sind in aller Regel geistig völlig gesund, ihr psychologisches Profil weist keine Besonderheiten auf. Psychiatrisierungsversuche im Umgang mit Verschwörungstheoretikern sollte man unterlassen. Hinter den Denkmustern von Verschwörungstheoretikern stecken kognitive Prozesse, die prinzipiell jedem Menschen zu eigen sind, bei Verschwörungsgläubigen aber partiell stärker ausgeprägt zu sein scheinen – wie beispielsweise Komplexitätsreduktion, seelische Entlastung, Mustererkennung oder das Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit und Einzigartigkeit. Aber wenn Verschwörungstheoretiker erst einmal an ihre Theorien glauben, werden diese Überzeugungen von überaus wirksamen psychologischen Abwehrmechanismen gegen jede Infragestellung verteidigt, da sie relevant für das Selbstbild geworden sind. Mit anderen Worten: Verschwörungstheoretiker beziehen daraus einen Teil ihrer sozialen Identität. Und genau das macht den Umgang mit Verschwörungstheorien und ihren Anhängern so schwierig.
Eckpfeiler für eine konstruktive Diskussion
Wie schon gesagt: „Ob Lisa Fitz tatsächlich Antisemitin ist und auf diverse Verschwörungstheorien abfährt, soll und kann an dieser Stelle nicht beurteilt werden – und mag auch ziemlich unerheblich sein“, kommentierte der Journalist Johannes Greß bei Da Hog’n die vereinfachten Welterklärungen der Lisa Fitz. Weitaus bedeutsamer ist die Frage, wie man den zahllosen Followern von Verschwörungsproponenten wie Lisa Fitz, Ken Jebsen, Daniele Ganser etc. entgegentreten soll, die ihre generalisierende Angst vor unverstandenen Zusammenhängen bereitwillig in verständliche Lieder und Geschichten von diffusen Mächten hineinprojizieren.
Eine allseits erprobte Kommunikationsstrategie für den Umgang mit Verschwörungstheoretikern, die in jedem Einzelfall und bei jedem Thema funktioniert, gibt es nicht. Praktisch zu jeder Empfehlung findet sich ein ebenso plausibles Abraten. Und eine Gesprächstaktik, mit der man hier und da Erfolge erzielt, kann schon in der nächsten Situation krachend scheitern. Was also tun? Einfache Antwort: Was tun! Das Positive an dem gegenwärtigen Ringen um Gesprächs- und Argumentationsstrategien gegen Verschwörungstheorien ist, dass es kein Richtig und kein Falsch gibt. Jeder Einzelne muss seine individuelle Vorgehensweise finden, die abhängig ist von Zeit, Geduld, Temperament, Frustrationstoleranz, Wissen, Umfeld, Zielsetzung und anderem mehr. Das Verkehrteste wäre, zu Hause zu bleiben, Porzellan zu polieren und auf das Ende zu warten, schreibt die SPON-Kolumnistin Sibylle Berg: „So angenehm sich dieser Gedanke anfühlen mag, er führt nicht zu einer Verbesserung der Welt oder was auch immer Sie dafür halten – nicht einmal im Kleinen. Denn dieser Gedanke beraubt Sie der Chance, wenigstens die aufgeschlossenen zwei Prozent zu erreichen.“30
In Kurzform haben sich folgende Eckpfeiler für eine Online-/Offline-Diskussion mit Verschwörungstheoretikern bewährt:
- Freundlich und sachlich bleiben.
- Resolutes Auftreten (Profil zeigen, die eigene Weltsicht klarmachen, Interessenehrlichkeit schaffen, Wahrheitskriterien benennen).
- Falschaussagen widerlegen („debunken“), an Fakten festhalten, eingängige persönliche Gegenerzählungen – auch emotionaler, „anekdotischer“ Art – liefern und die Lücke füllen, die eine korrigierte Fehlinformation bei Ihrem Diskussionspartner im Geist hinterlässt.
- Klare Botschaften mit kurzen, verständlichen Sätzen.
- Schwerpunkt auf wenigen Kernargumenten, Überkomplexität vermeiden.
- Verschwörungstheoretische Falschaussagen möglichst nicht wiederholen – und wenn, dann nur mit der expliziten Warnung, dass das, was jetzt kommt, falsch ist.
- Valide Quellenbelege und genaue Erklärungen einfordern.
- Nachfragen, Diskussionspartner in logische Widersprüche verwickeln.
- Fakten von Meinungen trennen und erklären, was Meinungsfreiheit wirklich bedeutet.
- Überlegen, was hinter der Überzeugung des Diskussionspartners stecken könnte.
- Unbelehrbaren Diskussionspartnern Grenzen setzen („rote Linie“).
- Klarmachen, dass das Abrücken von einer falschen Annahme nicht bedeutet, die persönliche Weltanschauung aufgeben zu müssen.
Auch im angeblich „postfaktischen Zeitalter“ gibt es keinen Grund, das Anliegen der Aufklärung nicht weiterhin hochzuhalten und sowohl mit Fakten als auch mit Gefühlen gegenzuargumentieren. Denn eines kann jeder in der Debatte erreichen: Zweifel säen und zum Nachdenken anregen.
Bernd Harder, Friedberg
Anmerkungen
- Vgl. www.psiram.com/de/index.php/Heiko_Schrang.
- www.youtube.com/watch?v=XT8rb56jn8s.
- www.hogn.de/2018/04/11/1-da-hogn-geht-um/nachrichten-niederbayern/lisa-fitz-antisemitismus-scharfrichter-haus-passau-balandat-ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst-kommentar/108246.
- www.donaukurier.de/nachrichten/kultur/Eggenfelden-Wie-haben-Sie-das-gemeint-Frau-Fitz;art598,3671818.
- https://deutsch.rt.com/international/48754-jahrestag-keule-cia-verschworungstheorie-usa-kennedy.
- www.pravda-tv.com/2017/04/jahrestag-einer-keule-wie-die-cia-vor-50-jahren-den-begriff-verschwoerungstheoretiker-erfand.
- www.westendverlag.de/kommentare/jfk-und-die-erfindung-des-kampfbegriffs-verschwoerungstheorie.
- Vgl. www.psiram.com/de/index.php/Verschwörungstheorien_zur_Herkunft_des_Begriffs_Verschwörungstheorie .
- Vgl. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1111/pops.12285.
- Michael Butter: „Nichts ist, wie es scheint“. Über Verschwörungstheorien, Berlin 2018.
- Vgl. Armin Pfahl-Traughber: Bausteine zu einer Theorie über Verschwörungstheorien – Definitionen, Erscheinungsformen, Funktionen und Ursachen, in: Helmut Reinalter: Verschwörungstheorien. Theorie, Geschichte, Wirkung, Innsbruck 2002.
- Vgl. https://volltext.merkur-zeitschrift.de/article/mr_1987_09_0859-0878_0859_01.
- Vgl. www.tagesspiegel.de/wissen/verschwoerungstheorien-rettungsanker-fuer-ueberforderte/20105204.html .
- www.hogn.de/2018/04/11/1-da-hogn-geht-um/nachrichten-niederbayern/lisa-fitz-antisemitismus-scharfrichter-haus-passau-balandat-ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst-kommentar/108246 .
- www.netzpiloten.de/warum-verschwoerungstheorien-der-wahrheit-oft-im-weg-stehen.
- www.donaukurier.de/nachrichten/kultur/Eggenfelden-Wie-haben-Sie-das-gemeint-Frau-Fitz;art598,3671818 .
- www.sueddeutsche.de/wirtschaft/nahaufnahme-siebte-generation-1.3977466 .
- www.hogn.de/2018/04/11/1-da-hogn-geht-um/nachrichten-niederbayern/lisa-fitz-antisemitismus-scharfrichter-haus-passau-balandat-ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst-kommentar/108246 .
- www.cashkurs.com/cashkurs-tv/beitrag/verschwoerungstheorien-und-antisemitismus-lisa-fitz-im-gespraech-mit-julia-jentsch .
- www.facebook.com/infosekta/posts/1681540878744554.
- Vgl. https://scilogs.spektrum.de/gedankenwerkstatt/verschwoerungstheorien-der-fundamentale-attributionsfehler.
- Vgl. Michael Butter: Dunkle Komplotte. Zur Geschichte und Funktion von Verschwörungstheorien, in: Politikum 3/2017.
- www.nytimes.com/roomfordebate/2015/01/04/are-conspiracy-theories-all-bad-17/the-negative-social-impact-of-conspiracy-theories.
- Butter: „Nichts ist, wie es scheint“ (s. Fußnote 10).
- www.youtube.com/watch?v=AzXCnPoNQaE .
- www.abendblatt.de/region/pinneberg/article213787047/Lisa-Fitz-Diese-Frau-ist-eine-Provokation.html.
- Marius Raab/Claus-Christian Carbon/Claudia Muth: Am Anfang war die Verschwörungstheorie, Heidelberg 2017.
- Julia Leschke/Tobias Wolfram: Welche Faktoren erklären den Verschwörungsglauben?, in: Politikum 3/2017.
- www.spiegel.de/spiegel/print/d-148786871.html.
- www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/sibylle-berg-ueber-gleichgueltigkeit-nazis-antisemitismus-chemtrail-fanatiker-a-966593.html .