Karl-Heinz Voigt

Schuld und Versagen der Freikirchen im „Dritten Reich“. Aufarbeitungsprozesse seit 1945

Karl-Heinz Voigt, Schuld und Versagen der Freikirchen im „Dritten Reich“. Aufarbeitungsprozesse seit 1945, Lembeck Verlag, Frankfurt a. M. 2005, 126 Seiten, 14,80 €


Um gleich einem Missverständnis vorzubeugen: Das vorliegende Bändchen beschreibt und analysiert nicht die Praxis und Kirchenpolitik der Freikirchen zwischen 1933 und 1945,1 sondern deren nachträgliche Reaktionen von 1945 bis heute. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung ist gut gewählt; denn anlässlich des 50. und 60. Jahrestags des Kriegsendes am 8. Mai 1945 sind z. T. offizielle Erklärungen verschiedener Freikirchen publiziert worden, deren Klarheit und Aussagekraft diejenigen von 1945 bis 1948 weit übertrifft.

Offensichtlich waren die deutschen Freikirchen unmittelbar nach Ende der NS-Gewaltherrschaft zu einer ernsthaften Gewissenserforschung weder fähig noch bereit. Dabei hätten sie durchaus Grund dazu gehabt. Sie fühlten sich zu Beginn der NS-Zeit eher von reichskirchlichen Einheitsbestrebungen bedroht als von der neuen Regierung. Als sich schließlich die Pläne zu einer einheitlichen Reichskirche zerschlagen hatten, lebten die Freikirchen im Windschatten wachsender Konflikte zwischen den großen Kirchen und dem Staat teilweise leichter als zuvor; so bekamen einige auf Reichsebene den lang ersehnten Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts. Im Gegenzug ließen sich Männer wie der methodistische Bischof Melle immer wieder als Kronzeugen der NS-Regierung gegen die Vorwürfe der Bekennenden Kirche missbrauchen, auch in der Ökumene (z.B. auf der Weltkonferenz für Praktisches Christentum in Oxford 1937, in der er die Existenz eines Kirchenkampfs in Deutschland bestritt).

Voigt resümiert: „Es war wie eine gefährliche Falle, dass die Freikirchen in mehrfacher Hinsicht unter dem Nationalsozialismus mehr Räume für ihr Wirken hatten, als zu irgendeiner Zeit zuvor... . Diese ungewohnte Akzeptanz wurde eine Versuchung, die Entwicklung im eigenen Land – nach dem befreienden Ende der Diskussion um die Einheits-Reichskirche – nicht nur unkritisch, sondern sogar anerkennend zu würdigen.“2 Überspitzt ausgedrückt: Manche freikirchliche Repräsentanten reagierten nach dem Motto „Der Feind meines Feindes (sprich: der übermächtigen Landeskirche) ist mein Freund“.

In Stellungnahmen der unmittelbaren Nachkriegszeit spiegelt sich die Fragwürdigkeit dieser Position kaum wider. In merkwürdig blasser Zeitlosigkeit beklagte etwa der schon genannte Methodist Otto Melle den „totalen Zusammenbruch unseres deutschen Volkes und Staates“, ohne auf die mörderische Politik dieses Volkes und Staates Bezug zu nehmen, geschweige denn auf mögliche kirchliche Mitschuld. Auch die in den NS-Jahren zeitweilig zusammengeschlossenen Baptisten- und Brüdergemeinden redeten vom „Zusammenbruch des Volks“ und vom „Grab der politischen Größe Deutschlands“, nicht aber von eigenem Versagen. Selbst wenn von Buße die Rede war, geschah dies kontextlos und, von außen gesehen, ritualisiert. Am deutlichsten wird dies in einer Erklärung der „Vereinigung Evangelischer Freikirchen“ von 1949, die selbstbewusst bekundet, man habe „zu keiner Zeit irgendetwas vom Evangelium preisgegeben“ – man habe ja Jesus als den Herrn verkündet, und das genüge. Vom Verhalten gegenüber Juden oder auch Judenchristen in den eigenen Reihen ist nicht die Rede.3

Das geschieht erst in Erklärungen fast zwei Generationen später. Voigts Bericht umfasst zwar nur die unmittelbare Nachkriegszeit, die ausführliche Dokumentation enthält jedoch auch Texte der jüngsten Gegenwart. Und da herrschen andere Töne. So beklagt der baptistische „Bund der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinden“ von 1984 ausdrücklich die seinerzeit fehlende Solidarität mit der Bekennenden Kirche und räumt ein, „dass wir als deutscher Bund der ideologischen Verführung oft erlegen sind“. Ähnliche Verlautbarungen veröffentlichten in den folgenden Jahren auch die Methodisten, die Brüdergemeinden, die Mennoniten und die Adventisten. Die heftige, kritische und selbstkritische Diskussion um die Rolle der Kirchen im Dritten Reich, der sich die katholische und die evangelische Kirche schon länger stellen mussten, hat die Freikirchen eingeholt. Und eine persönlich unbelastete Generation von Verantwortlichen ist jetzt auch in der Lage, diese Diskussion aufzunehmen und zu führen.

Es ist ein Verdienst des vorliegenden Büchleins, diesen Diskussions- und Lernprozess innerhalb der Freikirchen für ein breiteres Publikum zugänglich zu machen. Wünschenswert bleibt darüber hinaus eine kompakte und kritische Beschreibung der Freikirchen in der NS-Zeit. Die theologische Herausforderung einer solchen zeitgeschichtlichen Forschung hat Dietrich Bonhoeffer mit seinem berühmten Diktum aus der NS-Zeit auf den Punkt gebracht: nur wer für die Juden schreie, dürfe in dieser Zeit auch gregorianisch singen. Eine solche politische Ethik bleibt eine Herausforderung für Volkskirchen wie Freikirchen gleichermaßen.


Anmerkungen


1 Eine kirchenhistorische Gesamtdarstellung dieses Komplexes scheint bisher zu fehlen. Der Autor nennt im Anmerkungsteil nur einzelne Darstellungen zu einzelnen Freikirchen, z.B. von Andrea Strübind für die Baptisten und von Andreas Liese zur Brüderbewegung.

2 So Voigt in der Einleitung, 11f. Parallelen lassen sich im Verhältnis von altkatholischer und römisch-katholischer Kirche entdecken; auch die Altkatholiken fühlten sich mit ihrer Parole „Ohne Juda, ohne Rom bauen wir den deutschen Dom“ im Aufwind.

3 Das gilt allerdings auch vom berühmt gewordenen „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ der sich formierenden Evangelischen Kirche in Deutschland vom 18./19. Oktober 1945. Dennoch wird hier ein erster Ausbruch aus frommer Geschichtsblindheit sichtbar, dessen zeitgeschichtliche und theologische Bedeutung kaum zu überschätzen ist.


Lutz Lemhöfer, Frankfurt a. M.