Gesellschaft

Schweigemarsch von Abtreibungsgegnern und Juristenrat zur Sterbehilfe

(Letzter Bericht: 10/2006, 374 ff) Im Zusammenhang von Lebensbeginn und -ende sind hierzulande bioethische Konflikte nach wie vor virulent. Einen ungewöhnlichen Schweigemarsch erlebte die Hauptstadt im September 2006: Aus dem ganzen Bundesgebiet folgten mehr als 1000 Vertreter verschiedener Lebensrechtsorganisationen dem Aufruf des Bundesverbandes Lebensrecht (BVL) zur Demonstration gegen Abtreibung und trugen 1000 weiße Holzkreuze durch Berlins Mitte. „Damit machen wir auf die rund tausend Kinder aufmerksam, die an jedem Werktag in Deutschland abgetrieben werden“, so Dr. med. Claudia Kaminski, Vorsitzende des BVL. Die Tabuisierung der Abtreibung in der Öffentlichkeit müsse endlich durchbrochen werden. Mehr als eine Million Menschen seien jährlich – direkt oder indirekt – als Mütter, Väter, Verwandte, Ärzte, Pfleger oder Krankenschwestern an Abtreibungen beteiligt.

Kaminski forderte während der Kundgebung am Roten Rathaus, dass die über 40 Mio. Euro Steuergelder, mit denen der Staat jährlich Abtreibung finanziere, für Hilfe im Konfliktfall und Familienförderung ausgegeben werden sollten. Der anschließende Trauermarsch zur St. Hedwigs-Kathedrale, in der die Aktion mit einem ökumenischen Gottesdienst endete, verlief trotz angekündigter Protestaktionen ruhig. Bei einer ähnlichen Aktion im Jahr 2004, wo etwa 500 Menschen demonstriert hatten, wurden zum ersten Mal Proteste gegen diesen „religiös motivierten sexistischen Aufmarsch“ laut. Die Initiative „Neue Caritas“, die sich nach eigenen Angaben „vom linken Standpunkt“ kritisch mit dem christlichen Fundamentalismus beschäftigt, hatte in diesem Jahr dazu aufgerufen, den Trauermarsch zu behindern. Die Gruppe will den Antifeminismus bekämpfen, den christlich-fundamentalistischen „Tugendterror“ zurückweisen sowie die „Säkularisierung und aufklärerische Standards verteidigen“ (vgl. http://neuecaritas.blog-sport.de).

Der BVL hatte zuvor auf seiner Mitgliederversammlung ein Manifest verabschiedet. Darin fordert er die Umsetzung der Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht, da es seit der Novellierung des § 218 (1995) nicht zu einem verbesserten Lebensschutz, sondern sogar zu höherer Abtreibungshäufigkeit gekommen sei. Weiterhin müssten als vordringliche Mindestforderung die grausamen Spätabtreibungen unverzüglich beendet werden, da derzeit Kinder in Deutschland noch bis kurz vor der Geburt abgetrieben werden können. Schließlich sei das Angebot von psychosozialer Beratung vor und nach einer vorgeburtlichen Untersuchung zu verbessern, das jedoch auch mit einem „Recht auf Nichtwissen“ verbunden sein müsse.

Ebenfalls im September hat sich der Deutsche Juristentag auf seiner Jahresversammlung an zwei Tagen mit dem Spannungsverhältnis von Patientenautonomie und dem Strafrecht bei der Sterbebegleitung beschäftigt. Vor allem war beabsichtigt, im schwierigen Bereich zwischen Leben und Tod ärztlich Entscheidungsspielräume ohne Furcht vor strafrechtlichen Konsequenzen zu schaffen. Die bisher unsichere Rechtslage wurde deutlich kritisiert. In einer Empfehlung wurde dem Bundestag nahe gelegt, die passive Sterbehilfe ausdrücklich als straffreie Behandlungsverkürzung im Strafrecht zu verankern.

Demgegenüber betrachtet die Deutsche Hospiz Stiftung eine Strafrechtsreform als falsches Signal. Angesichts der gravierenden Defizite in der palliativen und hospizlichen Versorgung müsse die Fort- und Weiterbildung in diesem Bereich der ambulanten Pflege verbessert werden. Der Gesetzgeber habe vorrangig den Integritätsschutz und die Patientenautonomie am Lebensende zu sichern.

In Befragungsstudien fordern inzwischen 60 bis 80 Prozent der deutschen Bevölkerung eine Liberalisierung und Legalisierung der aktiven Sterbehilfe. Demgegenüber lehnt die deutsche Ärzteschaft eine solche Legalisierung strikt ab. Dies wurde etwa im Mai dieses Jahres auf dem Deutschen Ärztetag in Magdeburg ausdrücklich festgehalten. Die Ärzte verbinden mit einer Legalisierung der aktiven Sterbehilfe einen gefährlichen Bruch im Wertebild menschlichen Lebens, der das Humane in unserer Gesellschaft grundlegend in Frage stelle. Allerdings entspricht die Tendenz zur Lockerung den europäischen Nachbarländern, wo zum Teil schon eine weit reichende Euthanasiepraxis vorherrscht (vgl. F. Oduncu, Freiheit zum Tod oder Unfreiheit zum Leben? Stimmen der Zeit, 9/2006, 597-610). Zur Einschätzung der Legalisierung aktiver Sterbehilfe hat die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) eine aufschlussreiche Befragung durchgeführt. Dazu wurden 730 ihrer Mitglieder parallel zu einer Vergleichsgruppe von 505 Ärzten und 338 Pflegenden befragt. Die Untersuchung belegt deutlich, dass eine Legalisierung der Euthanasie um so weniger als notwendig erachtet wurde, je ausgeprägter die palliativmedizinische Erfahrung und die Kenntnis ethischer Prinzipien der Befragten waren. Dieses Ergebnis weist auf die Notwendigkeit hin, die Hospizangebote auszuweiten und eine flächendeckende palliativmedizinische Versorgung sicherzustellen. Nach Angaben der DGP bestehen bundesweit 120 Palliativstationen und 130 stationäre Hospize. An deutschen Universitäten gibt es an den insgesamt 36 medizinischen Fakultäten fünf Lehrstühle für Palliativmedizin.


Michael Utsch