Jehovas Zeugen

Schweizer Gericht erlaubt grundlegende Kritik an Jehovas Zeugen

(Letzter Bericht: 9/2019, 343f) Die Züricher Religionsexpertin Regina Spiess, eine ehemalige Mitarbeiterin der Fachstelle „Infosekta“, hat immer wieder auf Machtmissbrauch innerhalb dieser Religionsgemeinschaft hingewiesen. Wegen eines Zeitungsinterviews und eines Berichts im Jahr 2015 war sie wegen übler Nachrede von der Schweizer Vereinigung der Zeugen Jehovas angeklagt worden. Anhand von umfangreichem Beweismaterial prüfte das Züricher Bezirksgericht die massiven Vorwürfe der Psychologin und gab ihr in einem Urteil vom 9.7.2019 in allen Punkten recht (Geschäfts-Nr. GG 180259-L/U). Zunächst kündigten Jehovas Zeugen Schweiz Berufung an, ließen dann aber die Frist verstreichen, was manche Beobachter sehr überraschte. Damit ist das Urteil seit Februar 2020 rechtskräftig. Der Expertin wurde eine stattliche Prozess-Entschädigung von 20.500 Franken für Anwaltskosten sowie zusätzlich eine persönliche „Umtriebs-Entschädigung“ von 4000 Franken aus der Gerichtskasse zugesprochen.

Laut diesem Gerichtsentscheid darf behauptet werden, dass Jehovas Zeugen gegen elementare Rechte der Mitglieder und ihrer Angehörigen verstoßen. Als Beispiel wird in dem Urteil die sogenannte „Zwei-Zeugen-Regel“ genannt, die besagt, dass dem Vorwurf einer Missetat innerhalb der Gemeinschaft nur dann nachgegangen werden darf, wenn es dafür mindestens einen zweiten Zeugen gibt. Das gilt auch für Vorwürfe sexuellen Missbrauchs. Gibt es keinen zweiten Zeugen und auch kein Geständnis, „überlassen die Ältesten die Angelegenheit Jehova“ („Hütet die Herde Gottes!“ Selters 2010, 73). Das Gericht hält nach Sichtung der Beweise fest, dass die Zwei-Zeugen-Regel existiert und immer noch schriftlich verankert ist. Das belege auch die Wachtturm-Studienausgabe vom Mai 2019.

Außer auf die Zwei-Zeugen-Regel und das lebensgefährliche Verbot von Bluttransfusionen gingen die Richter auf die soziale Ächtung von ehemaligen Mitgliedern ein. Diese Praxis sei durch Hunderte von Betroffenenberichten genügend dokumentiert, steht in dem wegweisenden Urteil. Laut „JW Opfer Hilfe“ waren 24 Zeugen und Zeuginnen benannt worden, die jedoch im Prozess nicht angehört wurden – für den Freispruch der Religionsexpertin genügte dem Gericht schriftliches Beweismaterial (www. jz.help). Das Gericht kommt zu dem Schluss, ein solches Verhalten könne durchaus als Mobbing, also als die Verletzung der persönlichen Integrität eines Menschen, verstanden werden. Wie bedrückend das Klima einer Kindheit bei Jehovas Zeugen sein kann, hat Stefanie de Velasco literarisch in ihrem neuen Roman „Kein Teil dieser Welt“ (Köln 2019) verarbeitet.

Für die Reichweite des Urteils spricht auch, dass es bissige Kommentare kultfreundlicher Organisationen hervorgerufen hat. Der Religionssoziologe Massimo Introvigne (CESNUR) z. B. hat in einem 52-seitigen „Whitepaper“ in Zusammenarbeit mit einem Juristen versucht, die Befangenheit des Richters und fehlerhafte Urteilsbegründungen aufzuzeigen (www.cesnur.org/2020/new-gnomes-of-zurich.pdf). Das Urteil ist nicht nur für die kritische Aufklärung in der Weltanschauungsarbeit von Bedeutung. Es könnte auch dazu führen, dass die Körperschaftsanerkennung von Jehovas Zeugen in Deutschland und Österreich neu geprüft wird (vgl. Andreas Sieler: Ächtung und Wahrheit, Frankfurter Rundschau, 23.7.2020). Wie kann ein Staat ein Religionsrecht billigen, in dem von sexueller Gewalt betroffene Kinder und Frauen durch die Zwei-Zeugen-Regel zum Schweigen gebracht werden? Ist es hinzunehmen, dass Menschen durch das rigorose Verbot einer Bluttransfusion in Lebensgefahr geraten und sterben? Und werden nicht Familien zerstört, wenn Eltern aufgefordert werden, ihre andersglaubenden Kinder zu ächten?


Michael Utsch, 01.10.2020