In eigener Sache

Seine Stimme wird uns fehlen: Zum Tod von Michael Nüchtern (1949-2010)

Der evangelische Pfarrer, Oberkirchenrat und Professor für Praktische Theologie Dr. Michael Nüchtern verstarb am 7. Juli 2010 im Alter von 60 Jahren in Karlsruhe. Nach dem Studium der Evangelischen Theologie in Heidelberg und Zürich war er als Pfarrer im Gemeindedienst tätig, als Studienleiter und Direktor an der Evangelischen Akademie Baden mit den Schwerpunktthemen „Medizinische Ethik“, „Kultur“ und „Diakonie“. 1995 wurde er von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) mit der Leitung der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) beauftragt. 1998 kehrte er als Oberkirchenrat und Leiter des Referates „Theologie, Gemeinde und Gesellschaft“ in den Dienst der Evangelischen Landeskirche in Baden zurück.

Mit Kompetenz, Glaubwürdigkeit und einem ausgeprägten Gestaltungswillen nahm er den kirchlichen Dienst wahr. Als Beobachter der religiösen Landschaft war er Vertreter einer den Dialog mit der Welt suchenden Apologetik. Deshalb beschäftigte ihn vor allem das Phänomen säkularer Religiosität. Zahlreiche öffentliche Vorträge, Texte, Interviews kreisten um dieses Thema. Er brachte zur Geltung, dass auch in einer säkularisierten Welt die vakante Stelle der Religion nicht leer bleibt. Die theologische Kategorie der Verheißung findet Analogien in zahllosen Versprechen und Tröstungen säkularer Religiosität, die uns in Werbung, Sport, Kino und Kunst begegnen. Religiöse Sprache, wie sie in der Säkularität in Erscheinung tritt, fordert zur Entzifferung und Kultivierung heraus. „Wenn die Profanität sich mit religiösen Begriffen und Strukturen weiht, kehrt sie eine Bewegung, die vor allem für das Christentum grundlegend ist, um: Nicht der Göttliche entäußert sich in seiner Göttlichkeit (Phil 2), wird menschlich und irdisch, sondern Weltliches vergöttlicht sich.“ Gegenüber der Weihe des Profanen brachte Michael Nüchtern als Theologe zur Geltung, dass kein Mensch über sein Leben verfügen kann: „Ich kann nicht alles, ich bin auf Erden und nicht im Himmel ... Die Weisheit der christlichen Frömmigkeit ist die Überzeugung, dass unentfremdetes Leben nicht herstellbar, nicht käuflich ist, aber sehr wohl erfahrbar – immer wieder.“

Vom Wirken Michael Nüchterns in der EZW gingen prägende Impulse aus. Mit der Arbeit der Einrichtung war er bereits seit 1988 als Kuratoriumsmitglied verbunden. Die Verlegung der Dienststelle von Stuttgart nach Berlin, ihr personeller Neuaufbau bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit waren zentrale Herausforderungen seiner Dienstzeit. Auch nach seiner Rückkehr in die Kirchenleitung der badischen Landeskirche 1998 blieb seine Stimme in Publikationen der EZW kontinuierlich präsent.

Zu kontroversen Themen bezog er verständlich und pointiert Stellung. Denen, die den Abschied vom Sühnopfer forderten, hielt er 2009 entgegen: „Auch bei der Opferbegrifflichkeit muss eine der wichtigsten theologischen Grundregeln beachtet werden: Nicht bestimmte Bilder und Begriffe – wie Messias, Gottessohn – deuten das Christusgeschehen, sondern das Christusgeschehen selbst füllt und modifiziert diese Begriffe und Bilder ... Nicht ein allgemeiner religionsgeschichtlicher Opfer- und Sühnebegriff erklärt das Heilsgeschehen, sondern umgekehrt erläutert dieses Geschehen, was im theologisch-christlichen Sinn ‚Sühne’ und ‚Opfer’ heißen und bedeuten können.“

In der im Juni 2010 erschienenen Festschrift der EZW zum 50-jährigen Jubiläum plädiert er unter dem Titel „Doppelte Botschaften – Was ist aus der ‚Kermani-Debatte’ für den interreligiösen Dialog zu lernen?“ für die Berechtigung von individuellen Aneignungen religiöser Symbole, wie dies in einem Beitrag Navid Kermanis zur Bedeutung des Kreuzes im Christentum in der Neuen Zürcher Zeitung geschehen war: „Es ist ein spannendes Ergebnis des Miteinanders von Christen und Muslimen, wenn es zu solchen Aneignungen kommt. In der religiös-pluralistischen Situation der Gegenwart stehen sich jedenfalls nicht nur offizielle Lehren von Religionsgemeinschaften gegenüber, sondern auch die individuellen Aneignungen der jeweiligen Religion.“

Seine Worte im EZW-Text 200 zum Thema „Bestattungskultur im Wandel“ (2008) klingen wie ein Vermächtnis: „Heute ist nicht die Zeit, eine Flut problematischer Jenseitsspekulationen zu zügeln, sondern die Quelle für biblisch verantwortete Jenseitsbilder freizulegen. Die Sprachhoheit über das Jenseits muss weder Esoterikern noch atheistischen Materialisten überlassen werden.“

Die EZW verdankt Michael Nüchtern sehr viel. Er blieb ihr auch als Oberkirchenrat in Karlsruhe und als Universitätslehrer in Heidelberg verbunden. Kein Jahr verging, in dem er uns nicht Texte zukommen ließ, die sich mit religiösen Gegenwartsfragen befassen und christliche Handlungsorientierungen aussprechen: u. a. „Weil ich es mir wert bin“ oder die große Lust auf Wellness (2003), Die Wiederkehr des verdrängten Karfreitag? (2004), Das neue Interesse an Kirche (2005), Christliche Religionsgemeinschaften als Anbieter von Glaubensgütern (2006), Jesus außerhalb der Kirche (2010). Mit Dankbarkeit denken wir an ihn, als jemanden, der theologisches Nachdenken in den Dienst kirchlicher Verantwortung stellte und überzeugende Worte fand, den christlichen Glauben öffentlich zu verantworten. Wir werden seine Stimme vermissen. Unser Mitgefühl gilt seiner Frau, Dr. Elisabeth Nüchtern, ebenso der ganzen Familie.


Reinhard Hempelmann