Sekten auf dem Kirchentag
Sie gehören zum Kirchentag wie der orange Schal und das Liederbuch – all die skurrilen bis verqueren Grüppchen, die sich eine solche Großveranstaltung nicht entgehen lassen wollen, um auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen und die Leute auf den rechten Weg zu führen. So war es auch beim diesjährigen Kirchentag in Köln, wobei allerdings gesagt werden muss, dass die Sektenpräsenz längst nicht so stark war wie in früheren Jahren. Im Gegensatz zum Katholikentag in Ulm (2004) hielt sich z.B. das „Universelle Leben“ (UL) eher zurück und fiel mit seiner Publikation „Wehret den Anfängen – Stoppt die Inquisition der Gegenwart“ nur am Rande auf. Offenbar bieten Katholiken aus Sicht des UL die weitaus lohnendere Angriffsfläche ...
Sehr sichtbar waren dagegen wieder einmal die Endzeitwarner adventistischer Splittergruppen wie der MEFAG („Missionsgesellschaft zur Erhaltung und Förderung adventistischen Glaubensgutes“ e.V.), die massenweise ihre apokalyptischen, aber altbekannten Botschaften unter das Volk brachten – dies wahrscheinlich nicht so zur Freude der Kölner Stadtreinigung, denn das Volk ließ die engbedruckten Blätter mehrheitlich einfach fallen, so dass am Abend der Auftaktveranstaltung die Fußgängerzone rund um den Dom mit MEFAG-Traktaten regelrecht gepflastert war.
Der Kontrast hätte übrigens nicht drastischer sein können: Während sich die Siebenten-Tags-Adventisten (STA) – als Freikirche nun offenbar auch aus landeskirchlicher Sicht etabliert – mit einem recht ansprechenden Stand auf dem „Markt der Möglichkeiten“ und damit im Rahmen des offiziellen Kirchentagsprogramms präsentieren konnten, machte der Fanatismus der MEFAG nicht einmal davor Halt, selbst kleine Kinder einzuspannen, um in der glühenden Sonne Flugblätter zu verteilen. Dementsprechend peinlich waren die MEFAG-Aktionen den STA-Vertretern, wenn man sie darauf ansprach.
Ansonsten waren die „Zwölf Stämme“ mit einem „Lackmus-Test für Gläubige“ sowie meist evangelikal orientierte Einzelkämpfer unterwegs, um die Kirchentagsbesucher zu bekehren. Verblüffend war außerdem einmal mehr, dass die Veranstalter des Kirchentags in ihrer ökumenischen Weitherzigkeit nicht davor zurückschreckten, auch den Vertretern eines erzreaktionären Katholizismus wie der „Legio Mariae“ und dem „Allgäuer Gebetskreis“ Standrechte auf dem „Markt der Möglichkeiten“ einzuräumen. Aber warum sollen Rosenkränze und Heiligenbildchen nicht genauso zu einem evangelischen Kirchentag gehören dürfen wie die nicht gerade jugendfreien Publikationen des Arbeitskreises „christlicher“ Sado-Masochisten ...? Dennoch bleibt festzuhalten, dass für jemanden, der zu Archivierungszwecken gerne Sektenmaterial einsammelt und nach Hause trägt, der Kirchentag diesmal nur eine magere Ausbeute geboten hat.
Gleichwohl war das Thema „Sekten“ immer wieder sehr präsent – nämlich in Form zahlreicher Anfragen am Stand der EZW.
Dabei zeigte sich, dass aus der Fülle der angesprochenen Themen und Gruppierungen einige Dauerbrenner herausragten: Mit insgesamt 13 Anfragen führte Scientology die „Hitliste“ des EZW-Stands unangefochten an. Es wurde deutlich, dass die umstrittene Organisation durch die Eröffnung des neuen Zentrums in Berlin und die Glamour-Hochzeit von Tom Cruise und Katie Holmes nicht nur zurück in die Schlagzeilen, sondern auch in die öffentliche Wahrnehmung gefunden hat. Platz zwei geht an die Neuapostolische Kirche (NAK) mit sieben Anfragen, was zeigt, dass der Wandlungsprozess innerhalb der NAK Außenstehende gleichermaßen interessiert wie irritiert („Sagen Sie mal, ist das denn jetzt noch eine Sekte ...?“). Jeweils vier Auskunftswünsche betrafen die Zeugen Jehovas, die Freimaurer und den einmal mehr als Kirchentagsstargast auftretenden Bert Hellinger. Alle weiteren Anfragen – insgesamt erkundigten sich mehr als 80 Kirchentagsbesucherinnen und -besucher gezielt nach einer Gruppe oder einem Thema – betrafen Gruppen wie die Mormonen oder evangelikale und charismatische Gemeinden, die Anbieter von Strukturvertrieben und Alternativmedizin oder Themen wie Bioethik, Okkultismus und Satanismus. Kurzum: Wer sich an einen EZW-Stand stellt, erlebt in drei Tagen fast das ganze Panorama heutiger Weltanschauungen, aber auch die tiefgreifende Verunsicherung, die von der kaum noch überschaubaren Fülle der Heils- und Glaubensangebote ausgelöst wird.
Christian Ruch, Baden/Schweiz