Sektenvergleich für den „Islamischen Staat“
Nach wie vor rätseln Experten darüber, wie die Radikalisierung junger Menschen durch die Schulungen radikaler Islamisten funktioniert. Manche Politiker verweisen in ihrer Hilflosigkeit darauf, dem „Islamischen Staat“ (IS) würden Sektenstrukturen zugrunde liegen, ohne dabei das in Deutschland umstrittene Konzept der Sekte näher zu erläutern.
In der der Online-Zeitschrift „Internationale Politik und Gesellschaft“ (www.ipg-journal.de) der Friedrich-Ebert-Stiftung analysiert Florence Gaub, wissenschaftliche Referentin am Institut der Europäischen Union für Sicherheitsstudien in Paris, unter der Überschrift „Scientology für Islamisten“ die „Sektenmethoden“ des IS (veröffentlicht am 22.2.2016). Zum Ziel der totalen Kontrolle über ihre Mitglieder würden diese so weit wie möglich von ihrem ursprünglichen sozialen Umfeld isoliert. Die „Sekte“ gebe dem Leben Struktur und Sicherheit, mache es durch klare Regeln vorhersehbar und vermittle dem Mitglied Sinn und ein Wir-Gefühl. Mit weiteren psychologischen Sekten-Kriterien wird in dem Beitrag versucht, die Anziehungskraft einer geschlossenen ideologischen Extremgruppe zu erklären.
Leider bleibt die Autorin dem Leser die Erklärung für die provozierende Überschrift „Scientology für Islamisten“ schuldig, kommen doch die Hubbard-Anhänger im weiteren Text nicht mehr vor. Auch scheint es der Autorin an religionswissenschaftlichen Grundkenntnissen zu mangeln, denn bei den Gegenüberstellungen zwischen Sekten und Religionen fehlen die notwendigen Differenzierungen. Möglicherweise liegt der relativ unreflektierte Gebrauch des Sekten-Konzepts in diesem Text an seiner sprachlichen Verwendung in Frankreich, das als eines der wenigen europäischen Länder ein gut ausgestattetes staatliches Institut „zur Bekämpfung der Sektengefahren“ unterhält (MIVILUDES, „Mission interministérielle de vigilance et de lutte contre les dérives sectaires“, vgl. MD 7/2013, 267ff). Offensichtlich wird Scientology in der Öffentlichkeit immer noch als Musterbeispiel für eine „Sekte“ herangezogen, auch wenn die Übereinstimmungen zwischen IS- und Scientology-Anhängern äußerst gering ausfallen dürften.
Michael Utsch