Silenced. How Apostasy and Blasphemy Codes are Choking Freedom Worldwide
Paul Marshall / Nina Shea, Silenced. How Apostasy and Blasphemy Codes are Choking Freedom Worldwide, Oxford University Press, Oxford 2011, 448 Seiten, 28,99 Euro (Paperback), 80,99 Euro (Hardcover).
Seit Jahren macht der „Think Tank“ des Hudson Center for Religious Freedom in Washington/USA mit soliden Fachpublikationen zu einer großen Bandbreite an politischen Themen, u. a. rund um das Thema Religionsfreiheit, Islam und Islamismus, auf sich aufmerksam. Die vorliegende Monografie widmet sich einem insgesamt in der Literatur bisher nur wenig behandelten Thema: der Apostasie und Blasphemie, also dem Abfall vom Islam und der Gotteslästerung und ihren Folgen. Mit dieser umfangreichen Studie vermitteln Paul Marshall (Senior Fellow) und Nina Shea (Direktorin des Center for Religious Freedom am Hudson Institute) einen umfassenden Einblick in den Bereich der teilweise extrem eingeschränkten Meinungs- und Religionsfreiheit in islamisch geprägten Staaten.
Schwerpunkt der Studie ist allerdings nicht der theoriegeschichtliche Rahmen, also eine Erläuterung der schariarechtlichen Regelungen zum Abfall vom Islam oder eine Beschreibung der Auffassungen heutiger muslimischer Theologen dazu. Es geht vielmehr um die praktischen Auswirkungen der islamischen Apostasie- und Blasphemiebestimmungen sowie um die Darstellung der Folgen für diejenigen, die von anderen mit dem Vorwurf der Apostasie belegt werden: Zwar existiert nur in den wenigsten islamisch geprägten Staaten ein staatliches Gesetz, das den Abfall vom Islam verbietet bzw. unter Strafe stellt. Eine der Ausnahmen ist etwa der Nordsudan, dessen Strafrecht bei Abfall die Todesstrafe vorsieht. Im Gegenteil, etliche islamisch geprägte Länder weisen in ihren Verfassungen auf das Recht auf Religionsfreiheit hin. Dennoch bedeutet der Verweis auf die Religionsfreiheit in den Verfassungen islamisch geprägter Länder in der Praxis lediglich, dass Muslime wie Nichtmuslime ihre Religion beibehalten und Nichtmuslime zum Islam konvertieren können, auf keinen Fall jedoch, dass Muslime ihren Glauben verlassen dürfen.
Warum ist das der Fall, wenn es gar kein Gesetz dagegen gibt? Der Grund liegt darin, dass nach übereinstimmender Auffassung das bis zum 10. Jahrhundert entwickelte klassische Schariarecht den Abfall vom Islam mit der Todesstrafe bedroht. Das gilt für das sunnitische wie das schiitische Strafrecht. Nun gilt das Schariarecht im Strafrecht in den meisten islamisch geprägten Staaten nicht mehr, sondern nur noch im Zivilrecht. Daher ist es auch kaum möglich, einen Apostaten vor Gericht zu stellen und ihn rechtskräftig wegen seines Glaubensabfalls zu verurteilen. Allerdings ist es in vielen Ländern möglich, einen zum Christentum konvertierten Ehemann von seiner (muslimischen) Ehefrau zwangszuscheiden, denn das Zivilrecht ist am Schariarecht ausgerichtet und erlaubt keine Ehe eines Nichtmuslims mit einer Muslimin. Es ist auch möglich, ihn als Nichtmuslim zu enterben und ihm seine Kinder zu entziehen. Zudem ist es in vielen Teilen der islamischen Welt eine gesellschaftliche Realität, dass Menschen, die den Islam verlassen, bedrängt, diskriminiert und teilweise verfolgt oder sogar auf offener Straße oder von ihrer Familie getötet werden, weil zahlreiche Vertreter der islamischen Theologie diese Verpflichtung zur Hinrichtung des Abgefallenen in Moscheen und Gelehrtenzirkeln weiterhin predigen.
Die Studie von Marshall und Shea ist in drei Teile untergliedert: Zunächst geht es um einen Überblick, in welchen Teilen der islamischen Welt die Apostasieproblematik von Bedeutung ist und in welcher Weise sie sich dort auswirkt. Einige Länder wie Saudi-Arabien, Iran, Afghanistan, Ägypten und Pakistan werden gesondert vorgestellt und die Menschenrechtslage für Minderheiten und Andersdenkende in diesen Ländern erläutert. Dabei geht es nicht nur um Einzelne, die dem Islam den Rücken kehren, sondern auch um ganze Gruppen wie die nachkoranischen Religonsgemeinschaften der Bahá’í oder der Ahmadiyya, die per se als Ketzer und Ungläubige betrachtet werden und in Ländern wie dem Iran keinerlei Existenzberechtigung besitzen.
Zweitens werden die Versuche islamischer Institutionen wie der OIC (Organisation of Islamic Cooperation) thematisiert, jegliche kritische Berichterstattung über den Islam als Verletzung der Menschenrechte darzustellen und aufgrund dieses vermeintlichen „Menschenrechts“ auf Immunität des Islam vor kritischer Berichterstattung Schutz der religiösen Gefühle von Muslimen auf gesellschaftlicher wie politischer Ebene einzufordern. Diese Erläuterungen werden ergänzt von der Schilderung islamischer Organisationen, die auf verschiedenen Kanälen versuchen, in westlichen Ländern Druck aufzubauen, damit dort nichts Kritisches mehr über den Islam verlautet. Dazu gehören auch die von islamistischen Gruppierungen hochgepeitschten, organisierten Proteste aufgrund der dänischen Muhammad-Karikaturen oder das vom damaligen iranischen Machthaber Ruhollah Khomeini gegen Salman Rushdie ausgesprochene Rechtsgutachten (Fatwa) mit Rushdies Todesurteil. Marshall/Shea warnen westliche Länder eindringlich davor, sich von diesen gezielten Einschüchterungsversuchen islamischer oder islamistischer Persönlichkeiten und Organisationen beeindrucken zu lassen, sich diesem Druck zu beugen und zu meinen, damit den Druck aus der Welt schaffen zu können.
Der dritte und letzte Teil der Studie enthält zwei alternative Entwürfe muslimischer Theologen, die klassisch-islamischen Texte aus Koran und Überlieferung zum Thema Apostasie zu entschärfen: Der erste Entwurf stammt von dem bekannten ägyptischen Koranwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid, der aufgrund seiner gemäßigt historisch-kritischen Koranbetrachtung Mitte der 1990er Jahre in Ägypten wegen Apostasie verfolgt und angeklagt wurde, der zweite von dem von den Malediven stammenden Professor für Islamische Studien, Abdullah Saeed, der jegliche Berechtigung des Islam, Andersdenkende und Apostaten zu verfolgen, ablehnt und dies aus dem Koran und der Überlieferung begründet.
Die umfangreiche Studie von Marshall und Shea wird durch zahlreiche Beispiele für Anklagen wegen Apostasie oder Blasphemie ergänzt, die dem Leser die ganze Tragweite und Dramatik des Themas vor Augen führen und ihm zeigen, wie kostbar unsere hiesigen Freiheitsrechte sind, ganz besonders die Religionsfreiheit: Da war der junge ismailitische Schiit, der im Jahr 2002 in Saudi-Arabien von der Religionspolizei angehalten wurde, weil er im Auto Musik gehört hatte. Auf ihre Frage, warum er keine Koranrezitation höre, antwortete er, dass ihm das zu langweilig sei. Wegen Beleidigung des Korans wurde er anschließend zu acht Jahren Gefängnisstrafe und 2000 Peitschenhieben verurteilt. Oder da war das zerrissene Koranexemplar, das 1997 in einer Moschee in Pakistan etwa eine Meile von einem vorwiegend christlichen Dorf entfernt gefunden wurde, woraufhin eine von Geistlichen aufgehetzte, wütende Meute das Dorf stürmte und 326 Häuser und 14 Kirchen niederbrannte, 70 Menschen entführte (darunter viele junge Frauen und Mädchen), etliche von ihnen vergewaltigte und zwangsweise mit Muslimen verheiratete.
Mit Sicherheit wird sich der schon jetzt in Europa von islamischen Organisationen engagiert über die Medien ausgetragene Kampf um die Deutungshoheit über den Islam in Zukunft weiter verschärfen. Es wäre an der Zeit, dass die Debatte über Grenzen einer vernünftigen Kritik an Religionen und ihren Vertretern auf der einen Seite und dem schützenswerten Gut einer hart erkämpften Meinungs- und Pressefreiheit auf der anderen Seite von Entscheidungsträgern mutig aufgegriffen und gesellschaftlich breit diskutiert würde.
Christine Schirrmacher, Leuven/Belgien